Der Feuerteufel
Es ist mitten in der Nacht als Michael Naseband durch energisches Klingeln an der Haustür wach wird. "Welcher Idiot wagt es mich um kurz nach 03:00 Uhr aus dem Bett zu schmeißen! Wenn das wieder irgendwelche Jugendliche auf Klingelzug sind, dann knallt's." Müde und stinksauer steht er auf und geht zur Tür. In Gedanken hat er sich schon eine Predigt zurechtgelegt, die sich gewaschen hat! Er reißt die Tür auf und will gerade lospoltern, als er ganz erstaunt auf die Gestalt schaut, die ihn aus dem Schlaf gerissen hat. Es ist Alex. Weinend und am ganzen Körper zitternd steht sie da. Das Gesicht ist Ruß verschmiert, und obwohl es sehr kalt ist trägt sie nur eine Jogginghose, ein Trägertop und eine dünne Jogging-Jacke. "Alex, was ist los mit Dir - was ist passiert? Komm erst mal rein, Du bist ja halb erfroren!" Behutsam nimmt Michael Alex in den Arm und führt sie ins Haus. Sie ist wie in Trance, spricht nichts und weint nur lautlos dicke Tränen. Michael führt Alex zu seinem Sofa. "Gleich wird Dir wieder warm!" Er ist völlig verwirrt, schließlich weiß immer noch nicht, was eigentlich passiert ist. Ganz offensichtlich steht Alex unter einem großen Schock. Am liebsten will er sie keine Sekunde aus den Augen lassen, doch jetzt muß er erst mal dafür sorgen, daß nicht mehr friert. Noch immer zittert sie und klappert mit den Zähnen. Also holt er eine dicke Decke aus seinem Schlafzimmer, dreht die Heizung hoch, die er nachts immer ausgestellt hat, macht Alex eine Wärmflasche und kocht ihr eine heiße Schokolade. Alex sitzt immer noch wie versteinert auf dem Sofa. Vorsichtig legt er ihr die Decke um. "Jetzt trink erst mal die Schokolade - die wärmt Dich von innen auf!" Mechanisch nimmt Alex die Tasse und trinkt etwas. Noch immer laufen ihr die Tränen über die Wangen. Michael sieht das, und nimmt sie in den Arm. Und auf einmal scheint sich in Alex etwas zu lösen. Sie schluchzt laut auf und wirft sich Michael in die Arme. Dieser ist völlig schockiert. Was konnte nur passiert sein, das so schrecklich war, daß Alex unter so einem Schock steht. Endlich sagt sie etwas: "Michael - es ist so furchtbar!" Sie wird von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. Michael hält sie noch immer im Arm, streicht ihr vorsichtig über die Haare und spricht leise auf sie ein: "Was ist passiert Alex? Du weißt, Du kannst mir alles erzählen, ich bin immer für Dich da." Alex weint und schluchzt immer mehr. "Laß es raus, kleine Alexandra! Wein Dich aus!" Auch wenn Michael versucht mit ruhiger Stimme zu Alex zu sprechen ist er innerlich alles andere als ruhig. Nachdem Alex ein halbe Stunde nur geweint hat, setzt sie noch einmal an, Michael unter Schluchzen zu erzählen, was eigentlich passiert ist: "Mir ging es doch gestern nicht gut, ich bin doch sogar etwas eher gegangen, weil ich solche Kopfschmerzen hatte und ich mich auf nichts konzentrieren konnte. Ich bin dann zu Hause relativ schnell ins Bett gegangen und eingeschlafen. Gegen halb eins bin ich aufgewacht. Irgendwas war komisch, aber ich konnte erst gar nicht einordnen was. Bis ich auf einmal die Feuerwehr vor dem Haus bemerkt habe. Ich bin aufgesprungen, habe mir meinen Jogginganzug gegriffen und bin zur Tür gerannt. Doch als ich die Wohnungstür aufgemacht habe, schlugen mir schon Flammen entgegen." In diesem Moment versagt Alex die Stimme. Wieder wird sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Noch immer hält Michael sie im Arm. Weinend erzählt Alex weiter: "Ich habe dann die Tür sofort wieder zugeschmissen und bin zum Fenster gerannt. Ich habe aus dem Fenster geschrieen, daß ich nicht mehr aus meiner Wohnung raus komme. Inzwischen war auch schon überall Qualm. Die Feuerwehr konnte mich dann mit einer Leiter aus der Wohnung befreien. Ich glaube es war gerade noch im letzten Moment, denn bereits einen Augenblick später brach die Tür ein, und die Flammen waren überall in meiner Wohnung. Oh Michael - es war so furchtbar – ich hatte Todesangst! Und jetzt ist das ganze Haus ausgebrannt. Ich habe nichts mehr, außer den Sachen, die ich anhabe. Und ich wußte auch nicht, wo ich hin sollte. Ich hoffe Du bist nicht böse, daß ich Dich mitten in der Nacht geweckt habe!“ Alex weint heftig. Michael kann noch gar nicht fassen, was er da hörte. Das erklärt auch ihren Aufzug: Sie hat also nur ihre Schlafsachen und den Jogginganzug an, den sie noch gegriffen hatte. Und nun sitzt sie hier bei ihm, völlig verzweifelt, und genau genommen kann er ihr nicht einmal wirklich helfen – kann nur versuchen für sie da zu sein. „Oh mein Gott, Alex, ich bin ja nur froh, daß Du den Flammen entkommen konntest! Ich kann mir gar nicht vorstellen, was Du durchgemacht haben mußt! Aber ich werde für Dich da sein, und wir werden es schaffen! Das verspreche ich Dir!“ Doch Alex läßt sich gar nicht beruhigen. Sie weint immer weiter. Inzwischen ist es schon 05:00 Uhr morgens. „Komm Alex, jetzt wäschst Du Dir erstmal den Ruß ab, ich suche Dir was anderes zum Anziehen raus, und dann versuchst Du zu schlafen – Du bist doch völlig erschöpft!“ Damit hat Michael Recht – der Brand, die Todesangst, das viele Weinen, all das hat wirklich an Alex’ Kräften gezehrt. Langsam beruhigt sie sich auch etwas. „Du kannst in meinem Bett schlafen, und ich schlafe hier auf der Couch, okay?“ Verweint und erschöpft nickt sie. Sie geht ins Bad, um sich den Ruß abzuwaschen und eine Jogginghose und ein T-Shirt von Michael anzuziehen. Beides ist ihr natürlich eigentlich viel zu groß, aber es geht. Inzwischen macht Michael das Bett für Alex zurecht. Da sie immer noch friert macht er ihr noch einmal eine Wärmflasche, die er ins Bett legt, und als Alex aus dem Bad kommt kuschelt sie sich gleich im warmen Bett ein. „Versuch zu schlafen, Alex! Und wenn was ist – ich bin ja nebenan. Morgen schauen wir dann weiter.“ Michael streichelt Alex übers Haar und geht dann ins Wohnzimmer. Noch immer kann er gar nicht wirklich glauben und verarbeiten, was Alex ihm erzählt hat. Wie kann es heutzutage, im Zeitalter von Rauchmeldern und allem möglichen technischen Firlefanz immer noch passieren, daß ganze Häuser abbrennen? Und auch wenn er vor Alex so optimistisch getan hat, daß sie schon eine Weg finden würden, wie es weiter geht, weiß auch er nicht, was auf Alex nun zukommen wird. Sie hat ja nichts mehr: Kein Dach über dem Kopf, keine Möbel, keine Papiere, keine persönlichen Sachen, keine Fotos, keine Erinnerungsstücke. Michael weiß, daß ihnen allen eine schwere Zeit bevorsteht. Mit all diesen Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen kommt er gar nicht zur Ruhe. Auf einmal hört er ein Schluchzen aus dem Schlafzimmer. Sofort ist er auf den Beinen um nach Alex zu sehen. Sie sitzt weinend im Bett. „Michael, ich kann nicht einschlafen. Dabei bin ich so müde! Aber jedes mal wenn ich die Augen zumache sehe ich die Flammen wieder, und ich habe Todesangst.“ Mit einem erneuten Weinkrampf bricht sie in Michaels Armen zusammen. „Dir passiert nichts, Du bist bei mir in Sicherheit! Ich passe auf Dich auf!“ Immer wieder wiederholt er die Sätze, wie ein Mantra, und genau genommen könnte er nicht einmal sagen, wen er damit mehr beruhigen will, sich oder Alex. „Ich bleibe hier im Schlafzimmer wenn Du möchtest, dann bist Du nicht allein!“, bietet Michael an. „Ja bitte“, schluchzt Alex. Doch auch das nützt nichts. Obwohl Alex eigentlich die Augen vor Erschöpfung schon nicht mehr offen halten kann, schreckt sie immer wieder kurz bevor sie einschläft auf. So geht das eine ganze Weile. Michael weiß sich keinen Rat mehr. Inzwischen ist es schon fast 07:00 Uhr. „Ich rufe jetzt einen Notarzt an, damit er Dir was zur Beruhigung gibt, damit Du endlich einschlafen kannst.“ Alex ist viel zu schwach um ihm zu widersprechen. Gesagt, getan: Wenige Zeit später ist der Arzt da. Er untersucht Alex kurz. „Ihre Freundin hat einen Schock, aber nach den Geschehnissen der Nacht ist das ja auch kein Wunder. Eigentlich sollte sie am besten in ein Krankenhaus...“ „Nein, bitte nicht, ich möchte nicht ins Krankenhaus“, wirft Alex ein. „Sie ist nicht meine Freundin, sie ist meine Kollegin. Aber muß das wirklich mit dem Krankenhaus sein, wenn sie nicht will? Ich kümmere mich um sie. Und wenn etwas sein sollte, dann rufe ich sofort einen Krankenwagen.“ „Na gut“, erwidert der Notarzt, „wenn sie nicht will wollen wir sie in diesem Fall auch nicht zwingen. Frau Rietz, ich gebe Ihnen jetzt etwas zur Beruhigung, damit sie schlafen können.“ Alex läßt alles mit sich geschehen. Und kaum ist der Arzt wieder weg, schläft sie auch endlich ein. Leise schleicht sich Michael aus dem Schlafzimmer. Inzwischen müßte Branco ja schon fast auf dem Weg zur Arbeit sein. Und er würde sich sicher Sorgen machen, wenn Alex und Michael nicht im Büro auftauchen. Also ruft Michael auf Brancos Handy an. „Vukovic“, meldet sich Branco. „Hallo Branco, hier ist Michael. Paß auf, Alex und ich werden heute nicht zur Arbeit kommen, kannst Du bitte Bescheid geben?“ An Michaels Stimme merkt Branco sofort, daß etwas passiert sein muß. „Aber was ist denn los?“, fragt er Michael. „In Alex’ Haus hat es gebrannt, sie konnte gerade noch von der Feuerwehr gerettet werden, aber das Haus muß wohl völlig ausgebrannt sein, nach dem was ich aus Alex herausbekommen habe. Sie stand heute Nacht auf einmal vor meiner Tür. Sie steht völlig unter Schock, hat die ganze Nacht heftig geweint. Vor ein paar Minuten war der Notarzt da und hat ihr etwas zur Beruhigung gegeben. Jetzt schläft sie endlich.“ Auch Branco kann gar nicht glauben, was er da hörte. „Oh mein Gott, sag mir, daß das nicht wahr ist!“ „Leider doch! Meinst Du, daß Du es einrichten kannst, heute Nachmittag zu mir zu kommen? Ich glaube Alex braucht uns jetzt beide. Außerdem wäre es super, wenn Du organisieren könntest, daß ich erst mal Urlaub bekomme. Ich mag Alex momentan nicht allein lassen!“ „Auf gar keinen Fall kannst Du sie allein lassen! Ich bekomme Deinen Urlaub schon durch – und klar werde ich heute Nachmittag zu Euch kommen. Vielleicht bekomme ich ja auch was über die näheren Hintergründe des Brandes heraus. Wie geht es Dir eigentlich?“, fragt Branco Michael. Schließlich hat Michael auch eine anstrengende Nacht hinter sich. „Danke, daß Du fragst. Ich bin ziemlich k.o., aber ich werde mich jetzt auch gleich hinlegen und versuchen, noch etwas zu schlafen. Ach noch was Branco: Kannst Du versuchen bis heute Nachmittag ein paar Klamotten für Alex zu organisieren?“, bittet Michael Branco. „Ja klar, mach ich, dann also bis später! Schlaf gut!“
Vorsichtig, um keinen Krach zu machen, geht Michael wieder ins Schlafzimmer und legt sich neben Alex auf die andere Seite des Betts. Und da auch Michael inzwischen ziemlich erschöpft ist, schläft er schnell ein.
Nach ein paar Stunden wird Michael wach, weil Alex wie wild um sich schlägt und schreit. Ganz offensichtlich hat sie einen Albtraum. Vorsichtig versucht Michael sie zu wecken. „Hey, Alex, wach auf“, flüstert er ihr zu. Er streicht er ihr über das Haar und die Wangen. Dabei bemerkt er, daß sie ganz heiß ist, offensichtlich hat sie sich in der Kälte letzte Nacht etwas weggeholt und hat jetzt hohes Fieber! „Nicht auch das noch, ihr geht es doch so schon schlecht genug“, denkt Michael verzweifelt. Endlich wacht Alex auf: „Was ist los?“ Sie setzt sich auf. „Au, mein Kopf!“ „Du hattest offensichtlich einen Albtraum, hast um Dich geschlagen und geschrieen, da habe ich Dich aufgeweckt.“ „Ja, ich habe von dem Feuer geträumt, es kam immer näher, und niemand kam um mich zu retten!“ Sofort füllen sich Alex’ Augen wieder mit Tränen. „Schschsch, ganz ruhig, es war nur ein Traum!“ Michael nimmt Alex wieder in den Arm. „Ich habe solche Kopfschmerzen, mir ist schwindlig, und ich fühle mich so elend“, klagt Alex. „Vorsichtig legt Alex sich wieder hin. Michael fühlt noch einmal ihre Stirn. „Du hast ganz offensichtlich auch hohes Fieber. Das war heute Nacht einfach zu viel: Der Brand, die Kälte draußen, das Weinen, die Erschöpfung, da streikt Dein Körper jetzt. Bleib’ einfach liegen. Ich bin doch da und kümmere mich um Dich.“ „Danke Michael, das ist lieb von Dir!“ „Wenn Du irgendetwas möchtest, dann sag es mir einfach. Am besten Du versuchst, ob Du noch einmal einschlafen kannst.“ Liebevoll spricht Michael auf Alex ein. Und tatsächlich, offensichtlich ist sie so erschöpft, und vielleicht wirken ja auch noch die Reste des Beruhigungsmittels, zumindest ist Alex kurz darauf wieder eingeschlafen.
Michael macht sich große Sorgen um seine Kollegin. Natürlich ist Alex eine starke Person, und bis jetzt hat sie noch nie etwas wirklich aus der Bahn geworfen. Aber so wie heute Nacht hat er Alex noch nie erlebt. Andererseits, wer würde nach solch einem Erlebnis nicht völlig verzweifeln – Alex’ Reaktionen waren absolut normal. Wie würde das Ganze nur weiter gehen? Wie würde Alex sich in nächster Zeit verhalten? Dann würde ja auch noch der ganze Papierkram auf sie zukommen: Versicherungen usw. Außerdem hat er keine Ahnung, ob Alex finanzielle Rücklagen hat, auf die sie nun zurückgreifen kann. Schließlich muß sie sich jetzt alles neu besorgen. Wie verhält man sich denn überhaupt in so einer Situation? An wen wendet man sich in so einem Fall? Ganz klar, Alex würde in nächster Zeit noch nicht in der Lage sein, sich um solche praktischen Sachen kümmern. Und das ist dann der Punkt, an dem er und Branco Alex direkt helfen können. Michaels Gedanken kreisen nur um Alex und ihre Zukunft. Doch allein fühlt auch er sich mit der ganzen Situation überfordert. „Wenn nachher Branco kommt, dann können wir uns zusammensetzen und mal die nächsten Schritte ordnen, zu zweit bekommen wir das bestimmt hin“, denkt Michael sich.
Inzwischen ist Alex wieder aufgewacht. „Hey Alex!“ Liebevoll schaut er sie an. “Ich bin froh, daß Du noch ein wenig schlafen konntest.” Er setzt sich auf den Bettrand und legt seine Hand auf Alex’ Stirn. „Ich mache mir Sorgen um Dich, Du hast offensichtlich immer noch hohes Fieber. Ich rufe jetzt einen Arzt. Wir brauchen ja sowieso noch einen Krankenschein für Dich, und in Deinem momentanen Zustand kann ich es nicht verantworten, wenn wir zu einem Arzt hinfahren.“ Alex ist eigentlich sowieso alles egal. Zum einen ist sie sehr schwach, hat rasende Kopfschmerzen und ihr ist schwindlig, und zum anderen kann sie immerzu nur an die Ereignisse der letzten Nacht denken.
Branco arbeitet in der Zwischenzeit auf Hochtouren. Kaum im Kommissariat angekommen, meldet er erst einmal Alex als krank, und kämpft um Michaels Urlaub. „Dann fallen ja gleich zwei Kommissare aus, Frau Rietz und Herr Naseband! Das K11 ist dann so was von unterbesetzt, das können wir nicht verantworten.“ Doch nach einigem Ringen gelingt es Branco schließlich, wenigstens erst einmal eine Woche für Michael freizuschaufeln. Den Urlaubsantrag kann Michael im Nachhinein abgeben, das ist schon mal der erste Erfolg des Tages. Bevor Branco sich nun in blinden Aktionismus stürzt, setzt er erst einmal Prioritäten, was er auf alle Fälle schaffen muß, bis er später zu Alex und Michael fährt, und was letztendlich auch noch etwas liegen bleiben kann. „Den Abschlußbericht von der Leiche in der Isar muß ich auf jeden Fall fertig tippen, den braucht der Staatsanwalt heute unbedingt. Der andere Bürokram hat eigentlich Zeit“, überlegt er sich. „Und wenn ich den Bericht fertig habe, dann werde ich mal wegen dem Brand recherchieren. Ach ja, und Klamotten für Alex muß ich ja auch noch besorgen.“ Branco grübelt, wie er den letzten Punkt denn am besten anstellt. Doch plötzlich kommt ihm eine Idee. Seine Cousine Michelle hat doch genau die gleiche Statur wie Alex. Bestimmt würde sie ihm ein paar Sachen für Alex leihen. Sofort ruft er bei Michelle an. „Hallo Cousinchen, wie geht’s Dir?“ „Danke, gut. Aber so wie ich Dich kenne rufst Du nur an, weil Du was von mir willst. Stimmt’s oder hab’ ich Recht?“, neckt ihn Michelle. Bei Branco steigt sofort das schlechte Gewissen. Er versteht sich super mit seiner Cousine, aber es kommt wirklich immer etwas dazwischen, wenn sie zusammen etwas unternehmen wollen. „Ja, Du hast Recht, aber es geht nicht um mich.“ In wenigen Sätzen erzählt Branco um was es geht. „Das ist ja furchtbar! Ich habe glaube ich vorhin im Radio schon davon gehört. Da haben Sie erzählt, daß diese Nacht ein Haus komplett ausgebrannt ist. Und wenn ich richtig zugehört habe gab es wohl auch Tote! Na klar leihe ich Deiner Kollegin ein paar Sachen von mir. Komm einfach nachher bei mir vorbei und hol sie ab.“ „Du bist ein Schatz Michelle – danke – bis später dann.“ Somit wäre das erste kleine Problem schon mal gelöst. Doch was hat seine Cousine gesagt, es gab Tote? „Hoffentlich sind das nicht die direkten Nachbarn von Alex, die Familie mit dem kleinen Kind, von denen Alex ab und zu erzählt hat und mit denen sie sich so gut versteht.“ Branco ist wild entschlossen, sich so schnell wie möglich mit dem Brand zu beschäftigen. Doch erst einmal zwingt er sich endlich den Bericht für den Staatsanwalt zu tippen. Das ist eine Arbeit, die er schon unter normalen Umständen haßt, und natürlich heute erst Recht. Doch es nützt ja nichts, und je schneller er anfängt, desto schneller hat er es auch hinter sich gebracht.
Knapp zwei Stunden später liegt der Bericht bereits in der Hauspost, und Branco kann sich endlich auf das nächtliche Feuer konzentrieren. Inzwischen hat auch er die Nachrichten im Radio gehört, in denen von dem Brand berichtet wird. Und tatsächlich hatte seine Cousine Recht. Zwei Bewohner konnten nur noch tot geborgen werden: Für eine Frau und ihre 2jährige Tochter kam jede Hilfe zu spät. „Das darf Alex auf gar keinen Fall aus dem Radio erfahren!“, denkt sich Branco. Also schreibt er Michael schnell eine SMS: „Hallo Michael! Bitte achte darauf, daß Alex keine Nachrichten hört oder sieht. Die Medien berichten von dem Brand. Es gibt 2 Tote, ich befürchte es sind Alex’ direkte Nachbarn. Das sollte sie nicht durch die Nachrichten erfahren! Melde mich sobald ich mehr weiß! LG, Branco“
Nun hängt Branco sich erst einmal ans Telefon um herauszubekommen, welche Kollegen denn in der Nacht beim Brand vor Ort waren. Nach mehreren Telefonaten ist er endlich an der richtigen Stelle. „Wir haben uns schon gedacht, daß Ihr Euch vom K11 bei uns meldet. Wie geht es denn Eurer Kollegin?“, wird Branco am Telefon begrüßt. „Sie steht wohl noch ziemlich unter Schock, mein Kollege Michael Naseband kümmert sich um sie“, erwidert Branco. „Könnt Ihr mir mehr über den Brand erzählen? In den Nachrichten haben Sie etwas von zwei Toten erzählt!“ Bereitwillig geben ihm die Kollegen Auskunft: „Ja, das ist eine schlimme Sache. Deine Kollegin war die letzte, die wir lebend retten konnten. Direkt in der Wohnung neben ihr lebte eine junge Familie. Der Mann war geschäftlich in Frankfurt, deshalb hat es ihn nicht erwischt, aber die Frau und das Kind sind in den Flammen umgekommen. Ein Holzregal hatte Feuer gefangen und ist auf die beiden gestürzt, als sie sich zum Fenster retten wollten.“ Dann ist Schweigen in der Leitung. Branco muß mehrmals schlucken, und auch dem Polizisten am anderen Ende der Leitung fällt es nicht leicht, das alles so zu erzählen. Es vergeht eine Weile, bis Branco seine nächste Frage stellen kann: „Wie kam es denn überhaupt zu dem Brand?“ „Ganz genau können wir das noch nicht sagen, die Spuren müssen erst alle ausgewertet werden. Bis jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder es war ein Unfall, eine umgefallene Kerze oder so etwas in der Art, oder..., ja, es tut mir leid, aber wir können momentan auch nicht ausschließen, daß es sich um einen Brandanschlag gehandelt hat.“ Branco läuft es kalt den Rücken runter. Er bedankt sich bei den Kollegen und legt auf. Wie soll er diese ganzen Nachrichten nur alle Alex beibringen? Denn sie wird früher oder später danach fragen, da ist er sich sicher. Zuerst einmal will er aber Michael über seine neuesten Erkenntnisse informieren.
Bei Michael ist inzwischen der Arzt da und untersucht Alex. Ungeduldig wartet Michael im Wohnzimmer darauf, daß der Arzt endlich mit den Untersuchungen fertig wird, als sein Telefon klingelt. Im Display sieht er schon, wer anruft. „Hallo Branco! Was gibt’s?“ „Hallo Michael! Ich habe einige nähere Informationen zu dem Brand heute Nacht. Ist Alex gerade in der Nähe?“, fragt Branco. „Nein, sie liegt im Schlafzimmer im Bett. Der Arzt ist gerade bei ihr und untersucht sie. Seit vorhin hat sie auch noch hohes Fieber. Aber wieso fragst Du?“ „Oh mein Gott, Alex tut mir echt so leid, und leider habe ich auch keine guten Nachrichten. Deshalb habe ich auch gefragt wo Alex ist, nicht daß sie jetzt am Telefon was mitbekommt. Michael, erinnerst Du Dich daran, wie Alex manchmal von ihren Nachbarn erzählt hat? Die junge Familie mit dem kleinen Kind? Alex hat doch auch manchmal abends auf die Kleine aufgepaßt, wenn die Eltern mal nicht da waren.“ „Ja ich erinnere mich.“ Erst vor wenigen Tagen hatte Alex ihnen strahlend von einem Nachmittag erzählt, den sie mit der Kleinen verbracht hatte. Sie liebt das Mädchen wirklich sehr. „Bitte sag’ mir nicht, daß das Mädchen eine von den Toten ist!“ Doch noch während Michael das ausspricht weiß er schon, was Branco gleich sagen wird. „Doch Michael, das Mädchen und seine Mutter sind die beiden, die bei dem Brand ums Leben kamen. Alex war die letzte, die lebend aus den Flammen gerettet wurde.“ Schockiert versucht Michael zu begreifen, was Branco ihm da gerade erzählt. „Und was noch dazu kommt: Die Brandursache steht zwar noch nicht ganz fest, aber ein Brandanschlag wird nicht ausgeschlossen.“ „Oh mein Gott Branco, wie können wir Alex das je erzählen?“ In dem Moment kommt der Arzt aus dem Schlafzimmer. „Du Branco, ich muß Schluß machen, wann kommst Du?“ „Ich denke ich bin so in 1 bis 1½ Stunden bei Euch. Ciao“ Eigentlich müßte Michael jetzt erst einmal in Ruhe die Nachrichten von Branco verdauen, doch dafür bleibt gar keine Zeit. „Wie geht es meiner Kollegin?“, fragt er den Arzt. „Soweit ich das einschätzen kann hat auch das Fieber v.a. psychische Ursachen. Sie steht immer noch unter Schock. Am wohlsten wäre mir ja, wenn wir sie ins Krankenhaus einweisen würden, aber das will sie partout nicht. Ich habe ihr fiebersenkende Medikamente verschrieben. Außerdem schreibe ich noch was zur Beruhigung mit auf. Das geben Sie Frau Rietz aber bitte nur, wenn sie heute Abend wieder nicht einschlafen kann. Das Mittel ist relativ stark, und ich will sie nicht mit Medikamenten zudröhnen. Aber wenn sie anders gar nicht zur Ruhe kommt, dann geben Sie ihr das. Ihr Körper braucht einfach auch diese Ruhephasen.“ Michael nickt: „Ich habe noch ein weiteres Problem.“ Er erzählt dem Arzt von den toten Nachbarn. „Ich muß Alex davon erzählen, sonst erfährt sie es aus den Medien. Aber ich habe Angst, daß sie es nicht verkraftet.“ Der Arzt wirft einen bedenklichen Blick in Richtung des Schlafzimmers. „Frau Rietz ist sehr instabil. Aber ich verstehe auch Ihre Bedenken. Versuchen Sie, es ihr so schonend wie es nur geht beizubringen. Und zögern Sie nicht, Notarzt und Krankenwagen zu rufen, wenn irgendetwas sein sollte. Ich werde morgen wieder vorbei schauen.“ Mit diesen Worten händigt der Arzt Michael das Rezept für die Apotheke und die Krankschreibung von Alex aus.
Michael geht zu Alex ins Schlafzimmer. Erschöpft liegt sie im Bett und starrt die Decke an. Dann dreht sie sich um und sieht Michael tief in die Augen: „Sag mir bitte, daß das alles ein böser Albtraum ist, daß ich gleich aufwache, und alles ist vorbei.“ Es tut Michael in der Seele weh, wie seine beste Freundin ihn mit flehendem Blick anschaut. „Du weißt gar nicht, wie gerne ich Dir das sagen würde. Doch nein Alex, es ist kein Traum. Aber wir schaffen das. Du bist nicht alleine, Branco und ich sind für Dich da. Branco kommt nachher auch noch vorbei!“ Michael hofft, daß Branco wirklich bald da ist. Zum einen muß er ja noch in der Apotheke die Medikamente für Alex holen, und das kann er erst, wenn Branco da ist, und somit jemand bei Alex bleibt, zum anderen hat er Angst davor, daß Alex über den Brand sprechen möchte und Fragen stellt. Und da Michael nicht wirklich weiß, wie er sich in dem Moment Alex gegenüber verhalten soll wäre es hilfreich, wenn sie ihr die schrecklichen Nachrichten zu zweit beibringen könnten.
Inzwischen macht sich Branco auf den Weg vom K11 zu seiner Cousine. Sie hat eine ganze Tasche mit Jeans, Sweatshirts, T-Shirts und Socken zusammengepackt. Außerdem hatte sie schnell noch etwas Unterwäsche gekauft und mit in die Tasche getan. Denn sie weiß, daß dies etwas ist, das Alex bestimmt am dringendsten braucht. „Hier Branco, ich denke ich habe so das wichtigste eingepackt. Aber wenn ich was vergessen habe, wenn Alex noch was braucht, dann gebt mir Bescheid!“ Mit diesen Worten gibt Michelle Branco die Tasche.
Bevor Branco jetzt aber zu Michael fährt, will er sich erst noch das abgebrannt Haus anschauen. Der Geruch des Feuers liegt immer noch in der Luft, als Branco ankommt. Das Bild was sich ihm bietet ist wirklich schrecklich. Es steht nur noch das Gerippe des Hauses da. Das Gelände ist weiträumig abgesperrt, da Einsturzgefahr besteht. Branco geht auf die Streifenpolizisten zu, die den abgesperrten Bereich bewachen. Er zückt seinen Dienstausweis, um zu zeigen, daß er ja Kollege ist, und unterhält sich etwas. „Das sieht wirklich heftig aus“, beginnt Branco das Gespräch. „Ja, das ist auch ’ne schlimme Geschichte. Du weißt, daß ein kleines Mädchen bei dem Brand umgekommen ist?“, erwidert einer der Streifenpolizisten. „Ja, ich hab’s schon von den Kollegen gehört, die den Fall bearbeiten. Eine Kollegin von mir hat hier in dem Haus gewohnt, sie konnte aber gerettet werden.“ Dabei denkt sich Branco: „Wenn man das Haus jetzt so sieht, kann man eigentlich froh sein, daß es nicht mehr Todesopfer gegeben hat.“ Aber das ist ein schwacher Trost. Wenn es sich wirklich um Brandstiftung handelt, dann hat hier jemand ganze Arbeit geleistet haben. Aber was sollte das Motiv sein?
Branco hat genug gesehen, und so macht er sich auf den Weg zu Michaels Wohnung. Der wartet bereits sehnsüchtig auf Branco, da ihm so langsam aber sicher die ganze Situation über den Kopf wächst. Deshalb ist er sehr erleichtert, als es an seiner Tür klingelt. „Ich bin so froh, daß Du da bist! Ich fühle mich gerade alleine etwas überfordert“, begrüßt Michael seinen Kollegen. „Zusammen packen wir das schon. Wie geht’s Alex? Weiß sie schon was?“. Bedrückt schaut Michael Branco an: „Sie steht immer noch unter Schock, aber ich habe das Gefühl, daß sie sich fürs erste langsam fängt. Außerdem hat sie immer noch hohes Fieber. Der Arzt meinte, daß sie am besten ins Krankenhaus sollte, aber das will sie nicht. Bis jetzt habe ich ihr auch noch nichts von den Sachen erzählt. Ich habe Angst davor, es ihr zu sagen, deshalb wollte ich auch warten, bis Du da bist.“ „Ich kann Dich verstehen. Mir ist auch nicht wohl bei dem Gedanken, daß wir es ihr sagen müssen. Aber es ist halt besser, sie erfährt es durch uns, als wenn sie zufällig das Radio anmacht. Und wenn sie dann noch rausbekommt, daß wir es schon gewußt haben, das verzeiht sie uns nie.“ „Da hast Du Recht, Branco. Paß auf – ich muß noch zur Apotheke, die Medikamente für Alex holen, die ihr der Arzt verschrieben hat. Ich wollte sie nur nicht allein lassen, deshalb habe ich gewartet, bis Du da bist. Ich gehe dann jetzt schnell, bin gleich wieder da. Geh Du mal solange zu Alex.“ „Alles klar Michael, ich passe auf unsere Kollegin auf.“ Branco wirft Michael einen aufmunternden Blick zu, und geht dann zu Alex ins Schlafzimmer. Auch wenn er darauf vorbereitet ist, daß es Alex nicht gut geht, ist er doch geschockt, als er sie sieht, wie sie blaß und fiebrig völlig erschöpft im Bett liegt. „Hey Alex! Was machst Du denn für Sachen?“ Branco reißt sich zusammen und lächelt seine Kollegin aufmunternd an. Alex dreht sich zu ihm um: „Schön daß Du da bist Branco.“ Schweigend nimmt Branco Alex in den Arm. „Wo ist Michael?“, fragt Alex auf einmal. „Er ist nur schnell in die Apotheke gegangen, um die Medikamente für Dich zu holen. Keine Angst, wir lassen Dich beide nicht alleine.“
Plötzlich klingelt das Telefon. Da Michael ja nicht da ist, nimmt Branco das Gespräch an: „Vukovic bei Naseband“. Eine weibliche Stimme meldet sich. „Entschuldigen Sie bitte sie Störung, mein Name ist Rietz, ich bin die Mutter von Ihrer Kollegin Alexandra Rietz. Ich mache mir solche Sorgen, ist Alexandra da? Ich versuche schon den ganzen Tag sie anzurufen, aber weder auf dem Handy, noch auf Festnetz habe ich sie erreichen können. Dann habe ich es bei ihr auf Arbeit probiert, und da nannte man mir diese Nummer und meinte, ich soll es hier einmal versuchen.“ Branco merkt, wie aufgeregt die Mutter von Alex klingt. „Hallo Frau Rietz! Ja, Ihre Tochter ist hier.“ „Wie geht es ihr? Kann ich Sie sprechen? Ich habe in den Nachrichten etwas von dem Brand in einem Münchner Wohnhaus gesehen, und beim genauen Hinschauen habe ich erkannt, daß das doch das Haus ist, in dem unsere Alexandra wohnt!“ In Branco arbeitet es auf Hochtouren. Wenn er Alex das Telefon bringt und sie mit ihren Eltern sprechen läßt, dann erwähnen die Eltern mit Sicherheit etwas von den Toten. Das wurde ja in jedem Bericht über den Brand erwähnt. Wenn er die Eltern bittet, nichts von den Toten zu sagen um Alex nicht weiter aufzuregen, dann machen die sich bestimmt große Sorgen um Alex, was denn mit ihr los ist. Und da die Mutter ja selber einen sehr aufgeregten Eindruck macht, will er ihre Sorgen nicht weiter schüren. Zum Glück ist Branco weit genug weg vom Schlafzimmer, so daß Alex ihn nicht hören kann. Also bedient sich Branco einer Notlüge: „Alex schläft gerade, und ich will sie jetzt nicht wecken. Ihr geht es aber soweit gut, mein Kollege Michael Naseband und ich kümmern uns um sie. Aber sie ist halt von den Vorfällen letzte Nacht ziemlich erschöpft.“ Branco kann förmlich hören, wie Alex’ Mutter ein Stein vom Herzen fällt. „Da bin ich aber wirklich froh. Mein Mann und ich waren ja so in Sorge!“ „Das kann ich gut verstehen. Ich werde Alex auch sagen, daß Sie angerufen haben. Und sicher ruft sie Sie dann nachher zurück. Ich gehe mal davon aus, daß sie die Nummer ja hat.“ Zum Glück steigen Alex’ Eltern auf das Angebot ein: „Das ist nett Herr Vukovic! Richten Sie Ihr schöne Grüße aus, und wir erwarten dann ihren Rückruf. Auf Wiederhören!“ Branco legt auf „Puh, das ist erst mal gerade noch gut gegangen“, denkt er sich. Schnell geht er wieder zu Alex. „Wer hat denn da angerufen?“, fragt Alex ihn. Verlegen schaut Branco zur Seite: „Ach, das war nur Jan. Die haben im Büro ’ne Akte gesucht, die sie dringend brauchten und nicht gefunden haben.“ Erfreulicherweise gibt sich Alex mit dieser Antwort zufrieden. Aber langsam wird es wirklich Zeit, daß Michael wieder kommt, und sie Alex zusammen die schlechten Nachrichten überbringen, denn lange können sie diese Sachen nicht mehr von Alex fern halten. Und wenn es sich dann noch bewahrheiten sollte, daß es sich um einen Brandanschlag handelt, dann werden über kurz oder lang auch die Kollegen auftauchen und Alex zu der vergangenen Nacht befragen wollen. Bis dahin muß sie alles wissen.
Auf einmal fällt Branco auch die Tasche wieder ein. „Mensch Alex, das hätte ich ja fast vergessen. Ich habe Dir eine Tasche mit Anziehsachen mitgebracht. Erinnerst Du Dich noch an meine Cousine Michelle? Ihr habt Euch glaube ich auf meiner letzten Geburtstagsparty kennen gelernt. Ihr seid Euch von der Statur sehr ähnlich, und sie hat ein paar Sachen zusammen gepackt, die Dir eigentlich passen müßten.“ Branco ist froh, seine Gedanken kurz in eine etwas andere Richtung lenken zu können. „Ja, ich erinnere mich an sie. Das ist aber echt lieb von ihr, wie kann ich mich da denn jemals für revanchieren?“ „Da mach’ Dir mal keine Gedanken. Ich soll Dich von ihr grüßen, und wenn Du noch irgendetwas brauchst, dann sollen wir Michelle Bescheid geben.“ Alex ist wirklich gerührt ob der großen Hilfsbereitschaft, die ihr entgegen schlägt.
Während Branco kurz auf Toilette geht, schaut Alex die Sachen durch. Dabei findet sie einen Zettel von Michelle: „Hallo Alex! Vielleicht kannst Du Dich ja noch an mich erinnern? Schließlich haben wir uns auf Brancos Geburtstagsparty echt nett unterhalten. *g* Branco hat mir erzählt, was Dir letzte Nacht passiert ist. Das tut mir sehr leid. Ich hoffe die Klamotten passen Dir. Wenn Du noch irgendwas brauchst, dann kannst Du Dich gerne jederzeit bei mir melden. Ich weiß, daß Branco und Michael für Dich da sind, aber vielleicht brauchst Du ja ab und zu auch mal ein weibliches Wesen. Auch wenn wir uns kaum kennen, möchte ich Dich gerne unterstützen. Alles wird gut! Michelle“ Auf der Rückseite stehen die Handy- und die Festnetznummer von Michelle. Als Alex das liest stehen ihr die Tränen in den Augen. Branco kommt gerade wieder ins Schlafzimmer zurück, und kann das gar nicht einordnen. „Alex, was ist los?“, fragt er ganz besorgt. „Nichts“, antwortet Alex. „Deine Cousine hat mir noch einen lieben Brief mit in die Tasche gelegt, darüber sind mir dann die Tränen gekommen.“ „Branco nimmt Alex in den Arm. „Da siehst Du’s, alle sind für Dich da, gemeinsam schaffen wir das schon!“
Inzwischen kommt auch Michael wieder nach Hause. „Hey Alex, ich habe hier jetzt endlich Deine Medikamente.“ Nachdem Michael aufmerksam die Packungsbeilagen studiert hat, bringt er Alex zwei Tabletten: „Hier nimm die. Dann sinkt Dein Fieber hoffentlich etwas.“ Brav leistet Alex Michaels Aufforderung Folge. Dankbar, aber auch verzweifelt schaut sie Michael und Branco an: „Wie soll das nur alles weitergehen?“ Nachdem Alex langsam aus ihrem Schockzustand erwacht, stellen sich Zukunftsängste ein. „Ich bin nur froh, daß ich letztendlich ja nur für mich alleine verantwortlich bin. Wenn ich da an meine Nachbarn denke, mit der kleinen Theresa. Wie es denen wohl geht? Und wo die untergekommen sind? Ach, die sind bestimmt bei der Oma der Kleinen.“ Branco und Michael fangen an, sich sehr unwohl in ihrer Haut zu fühlen. Sie wissen, daß jetzt der Moment gekommen ist, Alex alles zu sagen. Während sie noch überlegen, wie sie anfangen sollen redet Alex weiter: „Wißt Ihr, ich bin ja so froh, daß meine Nachbarin, die Tanja, gestern mit der Kleinen wegfahren wollte. So waren sie nicht im Haus, als es gebrannt hat.“ Michael und Branco werfen sich hilflose Blicke zu. Michael setzt sich auf das Bett und legt einen Arm um Alex. Branco sitzt auf einem Stuhl neben dem Bett und hält Alex’ Hand. Dann räuspert sich Michael und spricht Alex mit leiser Stimme an: „Alex, wir müssen Dir etwas furchtbares sagen. Bei dem Brand letzte Nacht sind zwei Menschen ums Leben gekommen.“ Während Michael Branco verzweifelte Blicke zuwirft, schaut Alex ungläubig von einem zum anderen. Dann flüstert sie: „Wer?“ Als Michael ansetzen will weiterzuerzählen, versagt ihm die Stimme. Deshalb spricht Branco weiter: „Es tut mir leid, aber Deine Nachbarin ist letzte Nacht nicht weg gewesen. Sie war daheim, zusammen mit Theresa.“ Alex schaut Branco mit schreckgeweiteten Augen an: „Nein“, flüstert sie. „Nein, nein! Tanja ist mit Theresa weggefahren!“ Branco fällt es sehr schwer, jetzt weiter zu sprechen: „Nein Alex, Tanja und Theresa waren in ihrer Wohnung. Und sie haben es nicht geschafft.“ Jetzt ist es also raus. Alex’ Schrei ist markerschütternd: „Nein, das glaube ich nicht, das kann nicht sein, Ihr lügt mich an! Warum lügt Ihr mich an!?!?!“ Während sie schreit und weint, fängt sie an auf Michael einzuschlagen. Dieser reagiert schnell, und versucht Alex so fest in den Arm zu nehmen, daß sie ihn nicht mehr schlagen kann. Michael ist erstaunt, wie viel Kraft Alex trotz des Fiebers und ihres allgemeinen Zustands auf einmal hat. Er muß sich richtig anstrengen, sie festzuhalten. Währenddessen spricht Branco weiter mit ruhiger Stimme zu Alex: „Wir lügen Dich nicht an: Tanja und Theresa sind tot.“ Doch Alex wehrt sich immer weiter: „Nein, das kann nicht sein!!! Das darf nicht sein!!!“ Michael und Branco tauschen besorgte Blicke. Nach einer Weile hört Alex auf, sich so heftig zu wehren, so daß Michael den Griff lockern kann. Der Wut bei Alex folgen nun Trauer und Verzweiflung. Weinend bricht sie zusammen. „Warum? Warum bin ich gerettet worden, und Tanja und Theresa mußten sterben? Theresa ist doch noch ein Kind!!! Sie hatte doch noch gar kein Leben! Das ist doch nicht gerecht! Wieso habe ich überlebt, und sie nicht?!? Das ist doch nicht fair! Wenn die Feuerwehr mich nicht gerettet hätte, vielleicht hätten sie dann Theresa noch aus dem Haus holen können!“ Ruhig spricht Branco auf sie ein: „Es ist immer unbegreiflich wenn ein Kind stirbt. Und wir wissen, wie sehr Du an Theresa gehangen hast. Aber so darfst Du nicht einmal denken! Tanja und Theresa hatten keine Chance, ein brennendes Regal ist auf sie gefallen. Du lebst, Alex, und das ist gut und richtig! Wir sind darüber sehr froh! Wir lieben Dich! Deine Eltern lieben Dich! Und Du hast doch noch so viel vor in Deinem Leben!!! Ich weiß, daß das alles jetzt ein riesiger Schock für Dich ist! Weine, traure, laß Deine Gefühle raus, aber gib nie auf, und verbanne solche Gedanken wie eben, daß es nicht richtig war, Dich zu retten. Es war richtig, sehr richtig sogar!“ Während Branco das sagt, kommen auch ihm und Michael fast die Tränen. Alex weint und weint. Immer abwechselnd halten Branco und Michael sie im Arm. Worte des Trostes gibt es in diesem Moment eigentlich nicht, aber sie wissen, daß es Alex gut tut, daß sie einfach für sie da sind.
Nach ungefähr einer Stunde wird das Schluchzen von Alex langsam etwas weniger, und sie beruhigt sich etwas. Da klingelt es an der Haustür. Michael geht zur Tür und öffnet. Es sind zwei Kollegen von der Polizei. „Hallo Michael! Wir haben gehört, daß wir die Alexandra Rietz bei Dir finden. Wir müßten sie zu den Ereignissen der letzten Nacht befragen. Inzwischen haben wir nämlich herausbekommen, daß es sich um Brandstiftung gehandelt hat.“ Sorgenvoll schaut Michael die beiden Polizisten an. „Ja, Alex ist hier. Aber es geht ihr sehr schlecht. Wir haben ihr auch gerade erst von den beiden Toten erzählt. Wißt Ihr, sie hat an dem Kind sehr gehangen. Meint Ihr, Eure Befragung kann bis morgen warten?“ Die beiden Polizisten schauen sich an. „Na gut, es ist ja ohnehin schon relativ spät. Dann kommen wir morgen früh noch mal wieder.“ Damit verabschieden sich die beiden. Als Michael wieder ins Schlafzimmer kommt, fragt Alex natürlich sofort, wer an der Tür war. Einen Moment schwankt Michael, ob er eine Notlüge erfinden soll, um sie zu schonen. Aber dann beschließt er, daß es doch am besten ist, die Wahrheit zu sagen. „Das waren zwei Kollegen, die den Brand von letzter Nacht bearbeiten. Sie wollten Dich eigentlich befragen, aber ich hielt das in Deinem Zustand momentan ehrlich gesagt für keine so gute Idee. Die beiden kommen jetzt morgen früh noch einmal wieder.“ Fragend schaut Branco Michael an. Und Michael versteht den Blick sofort. Er nickt leicht, und so weiß Branco nun auch endgültig, daß das Feuer kein Unfall war. Alex ist noch so durch den Wind, daß sie gar nicht weiter nachfragt, wieso sie überhaupt befragt werden soll.
„Alex, Deine Eltern haben vorhin angerufen. Ich habe ihnen versprochen, daß Du zurück rufst. Sie haben wohl im Fernsehen von dem Brand erfahren und sich Sorgen um Dich gemacht. Ich habe sie erst mal beruhigt, daß Du hier bist, und daß es Dir soweit gut geht. Deine Mutter klang ziemlich aufgeregt. Vielleicht magst Du sie ja jetzt zurückrufen“, berichtet Branco. „Wie, Mama hat hier angerufen?“, fragt Alex ganz ungläubig. „Ja“, bestätigt Branco, „nachdem sie Dich nicht erreicht hat, ist sie wohl auf die Idee gekommen, im Kommissariat anzurufen, und da hat man ihr dann Michaels Nummer gegeben.“ „Ich weiß gar nicht, was ich meinen Eltern jetzt sagen soll, ich möchte nicht, daß sie sich Sorgen um sich machen. Weißt Du, meiner Mutter geht’s gesundheitlich auch nicht so gut, und da will ich sie nicht aufregen.“ Jetzt schaltet Michael sich ein: „Ruf sie an, dann sind sie schon beruhigt. Und dann wirst Du im Gespräch schon spüren, was Du ihnen sagen magst.“ Michael geht ins Wohnzimmer und holt das Telefon. Während Alex die Nummer eintippt, wollen sich die Männer ins Wohnzimmer verziehen. „Nein, bleibt bitte hier, Ihr stört mich nicht beim Telefonieren.“ Also bleiben Branco und Michael. Alex atmet noch einmal tief durch, dann läßt sie es klingeln. „Rietz“, meldet es sich am anderen Ende der Leitung. „Hallo Mama, hier ist Alexandra.“ „Hallo Alexandra, das ist lieb, daß Du uns anrufst. Dein Vater und ich haben uns solche Sorgen gemacht! Wir haben im Fernsehen von dem Brand gesehen und Dein Haus erkannt. Wie geht es Dir, was ist passiert?“ Alex gibt sich Mühe, ihre Stimme fest klingen zu lassen, doch das gelingt ihr nur bedingt. „Es geht schon. Ich bin halt etwas durch den Wind und ziemlich erschöpft. Michael und Branco kümmern sich aber rührend um mich. Und Branco hat mir von seiner Cousine auch schon ein paar Anziehsachen gebracht, Ihr braucht Euch also keine Sorgen zu machen.“ „Du weißt, daß wir auch für Dich da sind. Wenn Du irgendetwas brauchst, dann sag’ uns Bescheid, dann schicken wir Dir das! Oder sollen wir nach München kommen? Oder noch besser, magst Du nicht nach Hause kommen? Dann können wir uns hier um Dich kümmern.“ „Nein Mama, das ist lieb, aber ich bleibe erst mal hier, und Ihr braucht auch nicht zu kommen. Wenn was ist, dann melde ich mich, okay?“ Alex merkt, daß sie sich nicht mehr lange zusammenreißen kann. „Du Mama, ich leg’ jetzt auf, ja? Sag Papa liebe Grüße von mir, und ich melde mich wieder.“ „Okay, ich wünsche Dir alles Gute, mein Schatz.“ Alex legt auf. Mit Tränen in den Augen schaut sie Michael an: „Ist es denn überhaupt okay, daß ich noch eine Weile bei Dir bleiben kann?“ „Aber natürlich, das ist doch klar. Erst einmal wirst Du wieder gesund, und dann schauen wir weiter. Ich habe hier doch genug Platz, darum mußt Du Dir also wirklich keine Sorgen machen.“ Dankbar umarmt Alex Michael.
Branco bemerkt, wie Alex immer häufiger gähnt. „Du bist müde Alex, oder? Versuch zu schlafen, Michael und ich sind nebenan, wenn Du uns brauchst.“ Im Wohnzimmer setzen sich Branco und Michael zusammen. „Wie soll das Ganze denn jetzt eigentlich weiter gehen?“, fragt Michael. „Gute Frage, nächste Frage.“ Auch Branco weiß nicht wirklich weiter. „Ich glaube, wir müssen so schnell wie möglich anfangen, uns um den ganzen Papierkram zu kümmern. Zuerst müssen wir Alex fragen, bei welcher Versicherungsgesellschaft sie ihre Hausratsversicherung hat. Dann müssen wir da anrufen und den Brand melden. Dann müssen wir beim Einwohnermeldeamt nachfragen was die brauchen, damit Alex einen neuen Personalausweis bekommt. Ich frage auf der Dienststelle nach, wie das vor sich geht, damit Alex einen neuen Dienstausweis und ’ne neue Waffe bekommt. Das ist jetzt zwar nicht so wichtig, weil Alex ja wohl noch ’ne ganze Weile krank geschrieben sein wird, aber dann haben wir das schon mal erledigt. Bei Alex’ Krankenkasse müssen wir anrufen wegen einer neuen Karte, bei ihrer Bank, ein neuer Führerschein muß beantragt werden...“ In diesem Moment unterbricht Michael Brancos Aufzählungen: „Was ist eigentlich mit Alex’ Auto? Soweit ich weiß hatte das Haus keine Tiefgarage. Also muß der Wagen ja noch irgendwo in der Nähe des Hauses stehen, oder?“ „Ja natürlich! Weißt Du was, ich fahre gleich mal hin und schaue nach, ob ich das Auto irgendwo finde. Und dann komme ich noch mal her, okay?“ Branco ist froh, endlich etwas tun zu können. Gerade als er aufbrechen will, kommt Alex völlig verweint ins Wohnzimmer: „Es ist genau wie gestern, jedes mal wenn ich am Einschlafen bin, schrecke ich wieder auf, weil ich die Bilder vom Feuer vor Augen habe. Und dann muß ich auch noch immerzu an Theresa denken.“ Michael schwankt etwas, eigentlich hatte er gehofft Alex das starke Beruhigungsmittel, das der Arzt verschrieben hat, nicht geben zu müssen. Andererseits hatte er ja extra betont, daß Alex unbedingt zur Ruhe kommen muß, und sie in diesem Fall das Mittel nehmen soll. „Der Arzt hat Dir doch ein Beruhigungsmittel verschrieben, das hole ich schnell. Wenn Du das nimmst, kannst Du gleich in Ruhe schlafen.“ Branco bringt Alex wieder ins Schlafzimmer, während Michael das Mittel aus der Küche holt. „Sag’ mal Alex, wo hast Du eigentlich gestern Dein Auto geparkt. Das steht doch bestimmt noch in der Nähe Deiner Wohnung, oder?“ Alex überlegt kurz: „Stimmt, das müßte glaube ich kurz vor dem Supermarkt bei mir um die Ecke stehen. Ich hatte mal wieder keinen näheren Parkplatz gefunden.“ „Dann lasse ich es morgen gleich in eine Werkstatt schleppen und veranlasse, daß die Schlösser gewechselt werden. Denn Du hast je keine Schlüssel mehr.“ Traurig nickt Alex. Brancos Kommentar hat ihr wieder bewußt gemacht, daß sie alles verloren hat. Doch noch fühlt sie sich viel zu schwach, um sich mit dem ganzen Ausmaß der Katastrophe zu beschäftigen. Sie legt sich wieder ins Bett. Da kommt auch schon Michael mit dem Medikament. „Hier schluck das, dann kommst Du zur Ruhe, und Dein Körper kann im Schlaf Kräfte sammeln.“ Michael fühlt noch einmal Alex’ Stirn. „Du hast auch immer noch Fieber. Na mal schauen, wie’s Dir morgen geht. Gute Nacht und gute Besserung!“ „Ich komme morgen nach der Arbeit wieder her. Und je nachdem wie’s Dir geht sehen wir dann weiter. Schlaf gut“, verabschiedet sich Branco von Alex. Die beiden Männer gehen wieder ins Wohnzimmer, und als Michael nach fünf Minuten noch einmal nach Alex schaut ist sie schon eingeschlafen.
„Ich habe Alex eben noch gefragt wo ihr Auto steht und sie hat’s mir gesagt. Dann kümmere ich mich morgen um den Wagen und fahre jetzt nicht mehr los. Ist ja doch schon spät“, informiert Branco Michael. „Okay. Und dann warten wir mal ab, wie es Alex morgen geht, und dann werden wir die ganzen organisatorischen Sachen mal angehen.“, seufzt Michael. Ihm graut davor, denn er haßt Behördengänge und den Papierkrieg mit Ämtern. Aber es muß ja gemacht werden.
Die beiden Männer sitzen noch ein wenig zusammen, trinken ein Bier und unterhalten sich etwas. Dabei geht es nicht nur um Alex und den Brand. Sie müssen sich einfach kurz ablenken, denn schließlich haben sie sich den ganzen Tag nur damit beschäftigt. Und es nimmt die beiden sehr mit, wie Alex leidet.
Nach kurzer Zeit verabschiedet sich Branco und fährt zu sich nach Hause. Vorher versprechen die beiden Männer sich noch gegenseitig anzurufen, wenn es irgendetwas neues gibt.
Michael liegt in seinem Bett, und obwohl er auch sehr müde ist kann er nicht einschlafen. Immer wieder sieht er zur schlafenden Alex neben ihm, und macht sich Sorgen um sie. Wenn er sich überlegt, was sie in den vergangenen 24 Stunden alles durchgemacht hat, das kann ein einzelner Mensch eigentlich gar nicht verkraften.
Ein paar Kilometer weiter gehen Branco die gleichen Gedanken durch den Kopf. Auch er hat Probleme nach den ganzen Geschehnissen des Tages einzuschlafen. Am liebsten würde er sich auch frei nehmen um sich den ganzen Tag um Alex zu kümmern. Aber er weiß, daß er keine Chance hat, auch noch Urlaub zu bekommen. Irgendwann übermannt ihn dann doch endlich der Schlaf.
Auch Michael ist nach einiger Zeit über seinen Grübeleien eingeschlafen. Doch schon nach zwei Stunden wacht er wieder auf. Wie schon in der letzten Nacht, oder besser gesagt am vergangenen Vormittag, schreit Alex im Schlaf und wälzt sich hin und her. Michael weckt sie vorsichtig auf. Es dauert eine Weile, bis Alex richtig wach ist und sich orientiert hat: „Ich habe wieder vom Feuer geträumt, es war so furchtbar!“ Michael nimmt Alex beruhigend in den Arm. Dabei merkt er, daß sie völlig naß geschwitzt ist. „Ich mache mir echt Sorgen um Dich, wegen dem hohen Fieber. Jetzt zieh Dir erst mal was trockenes an, und dann versuch’ wieder einzuschlafen!“ Schnell sucht Michael ein T-Shirt von sich raus, daß so groß ist, daß Alex es glatt als Nachthemd anziehen kann. Zum Glück gelingt es ihr auch, relativ schnell wieder einzuschlafen.
Am nächsten Morgen wacht Michael als erster auf. Er schaut zu Alex und ist beruhigt, daß sie bis auf den einen Zwischenfall offensichtlich die ganze Nacht durchgeschlafen hat. Leise steht er auf und geht ins Bad. Als er danach die Zeitung aus dem Briefkasten holt, fällt sein Blick sofort auf die Schlagzeile des Tages: „Zweijähriges Mädchen mit seiner Mutter verbrannt“ Daneben ist ein Foto von Theresa und Tanja zu sehen, sowie ein Bild des abgebrannten Hauses. Selbstverständlich ist die ganze Geschichte sehr reißerisch geschrieben. „Wie aus gut informierter Quelle bekannt wurde, geht die Polizei von Brandstiftung aus. Allerdings tappt sie auf der Suche nach einem Motiv, oder gar einem Täter im Dunkeln. Wird es der Polizei gelingen, den Mörder der kleinen Theresa zu finden?“ Michael beschließt, die Zeitung erst einmal vor Alex zu verstecken, zumindest, so lange sie nicht danach fragt.
Kurze Zeit später wird Alex wach. „Guten Morgen Alex, wie fühlst Du Dich?“, fragt Michael. „Na ja, geht so.“ „Ach Alex, das wird schon wieder.“ In dem Moment klingelt das Telefon. Es ist Branco, der schon wieder fleißig bei der Arbeit ist. „Guten Morgen Michael! Kannst Du Dein Telefon auf laut stellen? Dann kann Alex gleich mithören, ich habe nämlich ein paar gute Nachrichten.“ „Ja das kann ich, na dann schieß mal los, gute Nachrichten sind doch mal ’ne willkommene Abwechslung.“ „Das denke ich doch auch“, erwidert Branco. „Also ich bin heute morgen zu Deiner Wohnung gefahren, Alex. Und ich habe Dein Auto auch ganz schnell gefunden, und gleich in eine Werkstatt bringen lassen, damit die ganzen Schlösser ausgetauscht werden. Und wißt Ihr was ich im Auto gefunden habe?“ Alex schaut Michael ganz verwirrt an: „Was soll es in meinem Auto denn zu finden geben?“ „Da bin ich jetzt aber auch gespannt. Komm Junge, mach’s nicht so spannend!“, schaltet sich Michael ein. „Na gut, weil Ihr’s seid. Alex, Dir muß vorgestern Deine Geldbörse aus der Tasche gefallen sein! Sie lag halb unter dem Beifahrersitz. Und wißt Ihr, was das heißt?“, fragt Branco die beiden fröhlich. „Das heißt, daß Deine ganzen Papiere, EC-Karten, Perso, Führerschein, alle noch da sind, Alex!“, freut sich Michael. Alex schaut immer noch etwas verwirrt drein. Sie kann das alles noch gar nicht so nachvollziehen. Durch ihren Schock und den Schmerz um Theresa und Tanja hatte sie sich noch gar nicht wirklich damit beschäftigt, welche Behördengänge und Laufereien nun auf sie zukommen würden. „Außerdem lagen noch Deine Laufschuhe im Auto“, erzählt Branco weiter, „und ein Plüschtier.“ Erschrocken sieht Alex auf: „Das gehört Theresa!“ Hilflos schaut sie Michael an: „Das ist, das war, ihr Plüschhund. Sie hat ihn mir vor kurzem gegeben, als sie mir erzählt hat, daß sie ein paar Tage mit ihrer Mama zur Oma fährt. Damit ich nicht so alleine bin, wenn sie weg ist, hat sie zu mir gesagt. Ich war irgendwie gerade auf dem Sprung zur Arbeit oder so, deshalb habe ich ihn ins Auto gesetzt.“ Alex laufen die Tränen über die Wangen. Da drückt Michael Alex an sich. „Bringst Du den Hund bitte mit, Branco?“, bittet Alex. „Na klar doch! Dann also bis später, Ihr beiden.“
Kaum hat Michael das Telefon aufgelegt, klingelt es an der Haustür. Es sind die beiden Polizisten vom Vortag. „Hallo Michael! Wie geht’s denn der Alexandra? Können wir jetzt mit ihr sprechen?“ „Ja, kommt rein, aber seid ein bißchen vorsichtig mit ihr, sie ist noch sehr mitgenommen.“ In eine Decke gewickelt kommt Alex ins Wohnzimmer und setzt sich auf die Couch. „Es tut mir sehr leid, was Dir passiert ist Alexandra. Ich glaube niemand von uns kann das wirklich nachempfinden, was Du gerade durchmachst“, beginnt der erste Polizist das Gespräch. Alex schaut die beiden nur traurig an und greift nach Michaels Hand. „Was wollt Ihr denn eigentlich von mir? Also wie kann ich Euch denn helfen?“, fragt Alex etwas verwirrt. „Wir müssen Dich bitten, uns alles zu erzählen, woran Du Dich in der Brandnacht erinnern kannst!“ „Es ist nämlich so“, fällt der zweite Polizist ins Wort, „daß das Feuer leider kein Unfall war, sondern Brandstiftung.“ Alex’ Augen werden ganz groß, und sie sieht Michael mit einem Blick an, der zeigt, daß sie eigentlich noch gar nicht begreift, was sie gerade erfahren hat. „Das heißt, es war nicht nur ein tragischer Unglücksfall, sondern jemand hat ganz bewußt dieses Drama entfacht?“ In Alex herrscht das absolute Gefühlschaos: Schock, Wut, Trauer, Verzweiflung, Fassungslosigkeit, Hilflosigkeit. Leise sagt sie: „Dann hat also jemand ganz bewußt den Tod von Menschen in Kauf genommen?“ Ihre Stimme wird lauter: „Dann hat jemand Tanja und Theresa umgebracht!?!“ Die ganze Zeit über hält Michael ihre Hand. „Das glaube ich einfach nicht! Bitte versprecht mir, daß Ihr den Typen findet, der das getan hat!“ Flehend schaut sie die beiden Polizisten an. „Wir werden alles tun, daß wir den Täter hinter Gittern bringen, das weißt Du auch. Deshalb ist es für uns auch so wichtig mit allen zu sprechen, die bei dem Brand dabei waren. Bitte erzähl’ uns, was passiert ist.“ Flehend, aber trotzdem mit ruhiger Stimme sprechen die beiden Polizisten zu Alex. Viel kann sie ihnen nicht sagen, nur das, was sie Michael in der Brandnacht schon geschildert hat. „Ist Dir sonst noch irgendetwas aufgefallen? Schaulustige, die sich auffällig verhalten haben, irgendwelche Autos, die komisch standen oder weggefahren sind, oder sonst etwas?“ Es ist schwierig für Alex, sich den Erinnerungen zu stellen. Vor ihrem geistigen Auge erlebt sie die schrecklichen Minuten noch einmal. Sie zittert am ganzen Körper. „Nein, ich habe eigentlich gar nichts mitbekommen. Nachdem mich die Feuerwehr aus der Wohnung gerettet hat, war ich wie in Trance.“ „Das war auch der Eindruck, den ich von ihr hatte, als sie nachts vor meiner Tür stand, daß sie eigentlich gar nichts um sich herum wahrgenommen hat, in diesem Moment“, wirft Michael ein. „Was könnte denn das Motiv sein, habt Ihr da schon eine Idee?“, fragt er die Beiden. „Leider nein, bis jetzt tappen wir noch völlig im Dunkeln. D.h., wir können mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ausschließen, daß einer nur die Versicherung abkassieren wollte, weil das Haus ja einer Genossenschaft gehört. Und solche Brände zu legen nur um an das Geld der Versicherung zu kommen, das wird ja eigentlich nur gemacht, wenn das Haus Privatpersonen gehört, die finanzielle Probleme haben. Einen ausländerfeindlichen Hintergrund können wir auch ausschließen, da in dem Haus ja kein Ausländer gewohnt hat. Deshalb vermuten wir momentan eine persönliche Rache an einem der Mieter. Aber an welchem Mieter, und warum, da haben wir leider noch keine Spur.“ Michael schaut die beiden verwundert an: „Ihr meint, nur weil sich jemand an einer der ganzen Personen in dem Haus rächen will, zündet er ein ganzes Haus an und nimmt dabei den Tod von allen in Kauf? Das ist doch krank!“ „Tja, wem sagst Du das? Aber ein anderer Hintergrund ist uns bis jetzt noch nicht eingefallen. Wir werden jetzt erst mal die Aussagen aller Zeugen und Betroffenen auswerten, vielleicht kommen wir ja so auf eine Spur.“ Alex sagt gar nichts mehr. Zitternd sitzt sie auf dem Sofa und kann gar nicht glauben, was sie da gerade gehört hat. „Danke Alexandra, daß Du uns alles erzählt hast, was Du mitbekommen hast. Wir wissen, daß das sehr schwer für Dich war. Wenn Dir doch noch irgendetwas einfällt, dann meldest Du Dich bei uns, okay?“, beendet einer der Polizisten das Gespräch. Alex nickt nur. „Haltet Ihr uns auf dem Laufenden, wenn Ihr mehr wißt?“, fragt Michael die beiden. „Machen wir! Alles Gute Alexandra!“ Die beiden Polizisten verlassen das Haus. „Geh wieder ins Bett Alex, Du bist noch schwach“, fordert Michael Alex auf. Diese widerspricht auch nicht und geht wieder ins Schlafzimmer. Währenddessen ruft Michael schnell bei Branco an, um diesem von der Befragung eben zu erzählen. Und noch während er mit Branco spricht, klingelt es wieder an der Tür. „Hier geht es ja heute zu wie im Taubenschlag! Ich melde mich dann später noch mal bei Dir.“ Michael öffnet die Tür, und diesmal ist es der Arzt, der davor steht. „Guten Tag Herr Naseband! Wie geht es denn Ihrer Kollegin heute?“, fragt er im Hineingehen. „Ich mache mir Sorgen um sie. Das Fieber scheint immer noch sehr hoch zu sein, heute Nacht ist sie einmal völlig naß geschwitzt aufgewacht. Ich mußte ihr gestern Abend auch das Beruhigungsmittel geben, daß Sie ihr verschrieben haben, weil sie wieder nicht einschlafen konnte.“ „Haben Sie Ihr die schlechten Nachrichten mitgeteilt, von denen Sie mir gestern erzählt haben?“ „Ja, das habe ich. Und es ging auch halbwegs. Sie hat heftig geweint und war geschockt, aber ich glaube sie hat es erstmal irgendwie verkraftet“, berichtet Michael. Während der Arzt nun zu Alex ins Schlafzimmer geht sitzt Michael wieder im Wohnzimmer auf der Couch und macht sich Gedanken um seine Kollegin. Es kommt ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er wieder ins Schlafzimmer gerufen wird. Fragend schaut er den Arzt und Alex an. „Und was ist mit Dir, Alex?“ Der Arzt antwortet: „Sie hat immer noch hohes Fieber, über 39,5°C. Wenn das Fieber bis morgen nicht gesunken ist, dann muß sie zur Beobachtung ins Krankenhaus. Aber vielleicht haben wir ja Glück, und die Medikamente schlagen endlich an. Und ich verordne Ihnen strenge Bettruhe Frau Rietz!“ Fürsorglich schaut Michael zu Alex: „Da werde ich schon für sorgen, daß sie im Bett bleibt.“ Und zu Alex sagt er: „Ich will doch, daß Du schnell wieder auf die Beine kommst.“ „Gut“, meint der Arzt, „dann komme ich morgen wieder. Auf Wiedersehen – und gute Besserung, Frau Rietz!“
„Michael, ich möchte nicht ins Krankenhaus. Ich weiß, es klingt blöd, aber ich habe Angst allein zu sein.“ „Branco und ich lassen Dich schon nicht allein, auch wenn Du wirklich ins Krankenhaus mußt. Und Du hast doch selber gehört, was der Arzt gesagt hat: Wenn die Medikamente anschlagen, dann kannst Du hier bleiben“, beruhigt Michael. Eine Weile sitzt er einfach nur da, und beide schweigen sich an. Alex ist wirklich froh, so einen Freund zu haben, der genau spürt, wann sie einfach nur etwas Nähe braucht. Nach einiger Zeit schläft Alex ein. Michael sieht das als ein gutes Zeichen. Schließlich hat Schlaf immer eine heilende Wirkung, und außerdem ist es ja auch ein Fortschritt, daß Alex ohne große Probleme eingeschlafen ist. Leise verläßt Michael den Raum, nimmt das Telefon und wählt wieder einmal Brancos Nummer. Schließlich will auch Branco die Diagnose des Arztes hören. „Ich glaube wir haben Glück, und Alex schafft das ohne Krankenhaus“, macht Michael Branco, aber auch sich selber Mut.
Nach einer guten Stunde wird Alex wieder wach. „Ich habe richtig gut geschlafen, ohne Albtraum“, freut sie sich. „Das hat wirklich gut getan.“ „Siehst Du“, quittiert Michael das Ganze, „ich habe Dir doch gesagt, das wird schon wieder!“ Obwohl er Alex am liebsten gar nicht damit belasten möchte, muß Michael sie nun doch langsam nach den ersten organisatorischen Dingen fragen: „Bei Deiner Hausratsversicherung ist doch sicher eine Feuerversicherung inkludiert, oder?“ Alex denkt kurz nach: „Ich glaube schon. Ehrlich gesagt habe ich mich mit solchen Sachen immer nicht so richtig befaßt.“ „Das kenne ich“, seufzt Michael, „aber wir müssen den Brand ja der Versicherung melden. Wo bist Du denn versichert?“ Alex nennt ihm den Namen der Versicherungsgesellschaft. Dann schnappt sich Michael das Telefon, und nach mehreren Anrufen bei der Auskunft, und mehrmaligem Weiterverbinden innerhalb der Versicherungsfirma hat er endlich die Nummer der Stelle, die für einen solchen Fall zuständig ist. Doch natürlich, wie konnte es anders sein, ist nur ein Anrufbeantwortet geschaltet: „... Sie rufen außerhalb unserer Geschäftszeiten an. Bitte versuchen Sie es später noch einmal. Wir sind montags bis freitags von 10:00 Uhr bis 12:00 Uhr und von 15:00 Uhr bis 17:00 Uhr für Sie da. mittwochnachmittags ist unser Büro geschlossen. Wir...“ Michael legt auf: „Solche Arbeitszeiten sollten wir bei uns auch mal einführen, oder? Na dann versuche ich es später nach 15:00 Uhr noch einmal.“ Im Stillen denkt er sich, daß somit der Behördenmarathon genauso anfängt, wie er sich das vorgestellt hat.
Indessen fallen Alex schon wieder fast die Augen zu. Michael bemerkt das und freut sich darüber. Er sieht es als Zeichen, daß Alex langsam zur Ruhe kommt, und sie somit auf dem Weg der Besserung ist. „Schlaf noch ein bißchen Alex! Das tut Dir gut.“ Alex nickt nur, dreht sich um, und ist auch kurze Zeit später schon wieder eingeschlafen.
Um kurz nach 15:00 Uhr, Alex schläft noch immer, startet Michael einen zweiten Versuch, jemanden bei der Versicherung zu erreichen. Nach mehreren Versuchen und 15 Minuten Hängen in der Warteschleife hat er auch endlich jemanden am anderen Ende der Leitung. Er beginnt den Fall zu schildern, wird aber relativ schnell unterbrochen. „Zuerst einmal benötigen wir die Vertrags-Nummer.“ Michael merkt, wie sich in seinem Inneren langsam Wut aufbaut, aber er versucht ruhig zu bleiben, weiß er doch, daß man mit Wutanfällen bei Behörden in den seltensten Fällen ans Ziel kommt. „Die kann ich Ihnen leider nicht nennen. Ich habe Ihnen doch gerade erzählt, daß die Wohnung von Frau Rietz komplett ausgebrannt ist, und da sind halt auch alle ihre Unterlagen dem Feuer zum Opfer gefallen.“ „Also dann kann ich Ihnen leider auch nicht weiter helfen. Ohne die Vertrags-Nummer können wir hier nichts machen.“ In diesem Moment glaubt Michael, daß er nicht richtig hört. Langsam aber sicher ist es mit seiner Beherrschung vorbei: „Wie, Sie können nichts machen. Frau Rietz ist im Feuer in Ihrer Wohnung fast UMGEKOMMEN! Hätte sie, als die Feuerwehr sie gerettet hat erst sagen sollen ‚Nein, warten Sie noch einen Moment, ich muß erst noch meine Unterlagen für die Versicherung raussuchen und retten’, oder wie stellen Sie sich das vor?!?“ Langsam wird der Versicherungsangestellte nervös. „Ich habe die Vorschriften ja auch nicht gemacht, aber da kann ich leider nichts machen.“ „Und ob Sie da was machen können!“ Wenn Alex nicht im Nebenraum schlafen würde, dann wäre Michael schon längst am Schreien. „Ich will jetzt Ihren Vorgesetzten sprechen, und zwar ein bißchen plötzlich!“ „Selbstverständlich, ich stelle Sie gleich weiter“. Und schön hört Michael „What a wonderfull world“ als Pausenmusik in der Leitung. Nachdem Michael das Lied dann zum dritten Mal gehört hat, klackt es im Telefon, und die Leitung ist unterbrochen. „Das glaube ich jetzt nicht wirklich!“, denkt er sich, als er erneut die Nummer wählt. Diesmal hängt er 20 Minuten in der Warteschleife, bevor sich eine menschliche Stimme meldet. „Passen Sie mal auf, Ihr Kollege wollte mich gerade an Ihren Vorgesetzten weiter verbinden, und dabei hat er mich aus der Leitung geworfen, und jetzt habe ich gerade noch einmal 20 Minuten in Ihrer bescheuerten Warteschleife gehangen, also rate ich Ihnen, mich jetzt nicht noch einmal aus der Leitung fallen zu lassen!“ „Das tut mir sehr leid. Wir haben leider gerade einige Probleme mit unserer Telefonanlage. Ich bin die Projektleitung hier, wie kann ich Ihnen denn weiter helfen.“ Michael ist kurz irritiert, denn die weibliche Stimme klingt noch relativ jung, aber freundlich und professionell. Doch so schnell läßt sich er sich nicht beruhigen. „Ihr Kollege wollte mir eben weismachen, daß er ohne die Vertrags-Nummer nichts machen kann, als ich einen Versicherungsschaden melden wollte. Eine Freundin hat durch einen Brand alles verloren, also natürlich auch die Versicherungsunterlagen. Sie können mir doch jetzt nicht erzählen, daß Sie in so einem Fall nichts machen können.“ Zögernd antwortet die Versicherungsangestellte: „Da muß ich mich wirklich für meinen Kollegen entschuldigen. Bei einem Brandfall gibt es natürlich Ausnahmeregelungen.“ Zwar ist Michael immer noch sauer, aber langsam beruhigt er sich etwas. „Haben Sie eine Adresse, an die ich die Unterlagen per Post rausschicken kann?“, wird er gefragt. Er gibt seine Anschrift an und ist froh, daß er das Thema fürs erste hinter sich hat.
Inzwischen ist Alex wieder aufgewacht. Als sie fragt, was Michael denn so getrieben hat, erzählt er ihr nur die Kurzfassung des Telefon-Marathons. „Sie schicken uns die Unterlagen hier her. Wenn die da sind, dann schauen wir mal weiter“, beruhigt Michael sie. „Du, ich habe eine Bitte an Dich“, rückt Alex jetzt mit der Sprache raus. Erstaunt schaut Michael sie an: „Raus mit der Sprache, was kann ich für Dich tun?“ „Na ja, ich darf doch noch nicht aufstehen, aber ich bräuchte dringend ein paar Sachen aus der Drogerie, ich hab’ ja noch nicht mal ’ne Haarbürste hier.“ Michael grinst: „Stimmt, damit sieht’s in meinem Haushalt doch eher schlecht aus.“ Dabei fährt er sich mit der Hand über seine Glatze. Nun müssen beide lachen. Liebevoll schaut Michael Alex an: „Es ist schön, Dich lachen zu hören.“ Verlegen erwidert Alex seinen Blick. Doch sofort legt sich auch wieder ein Schatten über ihr Gesicht. „Theresa wird nie mehr lachen.“ Wortlos drückt Michael Alex an sich. Nach ein paar Minuten hat sie sich erst mal wieder gefangen. „Ich bringe Dir jetzt Zettel und Stift, und dann schreibst Du alles auf, was ich Dir besorgen soll. Und sobald Branco kommt, gehe ich schnell los und hole Dir die Sachen.“
Kurze Zeit später steht Branco auch schon vor der Tür. Sein Auto hat er am Kommissariat stehen lassen, um Alex’ Wagen aus der Werkstatt holen zu können, und gleich damit zu Michaels Wohnung zu fahren. Diw Schuhe, die Geldbörse und den Plüschhund hat er gleich mit hoch gebracht. „Was gibt es neues? Und v.a. wie geht es Alex?“, will er sofort von Michael wissen. „Ich glaube, Alex ist langsam auf dem Weg der Besserung. Vorhin hat sie sogar schon einmal wieder kurz gelacht. Geh’ doch am besten gleich hinter zu ihr. Ich muß nur kurz zur Drogerie, Alex hat eine Liste mit Sachen geschrieben, die ich ihr besorgen soll. Kümmerst Du Dich bitte so lange um Alex? Und denk dran, daß der Arzt gesagt hat, sie soll im Bett bleiben!“ In wenigen Worten faßt Michael dann noch kurz sein Erlebnis mit der Versicherung zusammen, und anschließend verläßt er das Haus. Branco geht zu Alex, und er stellt fest, daß sie wirklich schon ein klein wenig besser aussieht als am Vortag. „Hey Alex! Schau was ich hier habe: Deine neuen Autoschlüssel, Deine Schuhe, Deine Geldbörse, und den Hund.“ Bewußt fröhlich geht er auf sie zu und reicht ihr die Habseligkeiten. Doch Alex beachtet nur das Plüschtier. Vorsichtig nimmt sie den Stoffhund in die Hand und drückt ihn an sich. Immer wieder sieht sie die Szene vor sich, in der Theresa ihr das Plüschtier gegeben hatte. Tränen steigen ihr in die Augen, sie fängt an zu schluchzen. Branco nimmt sie schweigend in den Arm. Auf einmal fragt Alex ihn: „Wann ist die Beerdigung von Tanja und Theresa? Ich möchte da hin, ich muß mich von den beiden verabschieden. Und den Hund möchte ich Theresa ins Grab legen.“ Branco hatte schon befürchtet, daß Alex auf das Thema zu sprechen kommen würde, und hatte sich vorsichtshalber schon einmal erkundigt. „Die Beerdigung ist übermorgen.“ Er atmet tief durch: „Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß Du bis dahin schon wieder fit genug bist, um dorthin zu gehen. Du bist momentan noch so schwach, und Du hast doch auch immer noch Fieber! Selbst wenn das bis morgen gesunken ist, und Du damit nicht ins Krankenhaus mußt wird Dir der Arzt nicht erlauben, daß Du übermorgen schon auf die Beerdigung gehen kannst!“ Alex weint bittere Tränen. „Branco, ich muß dahin, und ich werde das auch irgendwie schaffen!“ So wie Branco seine Kollegin kennt zweifelt er an dieser Aussage auch nicht wirklich. Aber wie das gehen soll, ist ihm noch nicht klar. Und er weiß auch, daß Michael das genauso sieht.
Michael stellt sich inzwischen einer ganz anderen Herausforderung. Zahnbürste, Haarbürste, Duschbad, Deo, all das sind Sachen, die ja kein großes Problem darstellen. Doch inzwischen ist er bei dem für ihn unangenehmsten Part von Alex’ Liste: Tampons! Etwas hilflos steht er vor dem Regal und ist erstaunt, wie viele verschiedene Sorten und Marken es davon gibt. Die umstehenden Kundinnen beäugen ihn mit einer Mischung aus Neugier und Mitleid. Irgendwie kommt er sich gerade sehr fehl am Platz vor. Nach einer Weile greift er wild entschlossen nach drei verschiedenen Sorten und hofft, daß wenigstens eine davon die richtige ist. Beim Bezahlen erntet er dann auch noch von der Kassiererin einen verwunderten Blick, doch dann kann er sich endlich mit den erstandenen Waren auf den Heimweg machen.
Als er am Supermarkt vorbei kommt fällt ihm ein, daß er kaum mehr etwas zu essen im Haus hat. Also beschließt er noch ein paar Lebensmittel zu kaufen. Vielleicht bekommt ja auch Alex wieder Appetit, wenn er erst einmal etwas leckeres kocht. In den letzten Tagen hat sie kaum etwas gegessen. Aber bei ihrer momentanen psychischen und physischen Verfassung ist das ja auch kein Wunder.
Wieder bei sich zu Hause angekommen geht er natürlich sofort ins Schlafzimmer, und sieht Alex weinend in Brancos Armen liegen. „Was ist denn los?“ Fragend schaut er von einem zum anderen. Branco antwortet ihm: „Als ich ihr den Stoffhund aus dem Auto gegeben habe sind ihr die ganzen Erinnerungen an Theresa wieder hochgekommen. Jetzt will sie unbedingt übermorgen zur Beerdigung, um den Hund Theresa ins Grab zu legen. Und ich habe versucht ihr zu erklären, daß sie noch zu krank ist, um an einer Beerdigung teilzunehmen.“ Mit verweinten Augen schaut Alex Michael an: „Ich muß dahin, ich muß mich von Tanja und Theresa verabschieden. Bitte!“ Michael spürt, wie wichtig Alex das Ganze ist, deshalb fällt es ihm umso schwerer, seine Skepsis zu äußern. „Ich fürchte Branco hat Recht, Du bist einfach noch zu schwach. Aber ich würde jetzt sagen, wir warten erst mal ab, wie es Dir morgen geht, ob das Fieber bis dahin wirklich gesunken ist, und dann sprechen wir mit dem Arzt, okay? Wir müssen ja heute noch nichts entscheiden.“ Alex nickt erst einmal, aber sie weiß, daß sie dafür kämpfen wird, auf die Beerdigung zu gehen. Langsam beruhigt sie sich wieder. „Ich habe gerade gleich noch Lebensmittel eingekauft. Jetzt koche ich erst mal was leckeres, was haltet Ihr davon?“, versucht Michael wieder etwas bessere Stimmung zu verbreiten. Branco ist von der Idee begeistert, aber das ist er ja eigentlich immer, wenn es ums Essen geht. „Ich habe keinen Hunger“, meint dagegen Alex. „Du hast die letzten Tage schon kaum etwas gegessen, und schließlich willst Du doch selbst schnell wieder auf die Beine kommen. Ich kann mir ja vorstellen, daß Du momentan keinen Appetit hast, aber eine Kleinigkeit ißt Du schon mit!“
Und mit diesen Worten entschwindet Michael in die Küche. Doch kurz darauf steht er schon wieder im Schlafzimmer: „Ehe ich es noch vergesse, hier sind Deine Sachen aus der Drogerie. Du hast mich mit Deiner Liste ja vor eine ganz schöne Herausforderung gestellt!“ Dabei zwinkert er Alex zu. Die weiß gar nicht, was Michael meint. Sie schaut in die Tüte, und als sie die drei verschiedenen Packungen Tampons sieht versteht sie und muß grinsen.
Kurze Zeit später sitzen die drei zusammen im Schlafzimmer und essen gemeinsam. Michael hat wirklich in der Küche gezaubert, so daß es Alex nicht gar zu schwer fällt, auch etwas zu essen. Da klingelt es. Branco geht zur Tür und öffnet sie. Es sind die beiden Polizisten, die am Vormittag schon einmal da waren. „Entschuldige die Störung, aber können wir noch einmal mit Alexandra sprechen?“ „Ja klar, kommt rein, gibt es denn etwas neues?“, fragt Branco ganz neugierig. „Wir haben zumindest noch ein paar Fragen, die wir klären müßten.“ Branco führt die beiden ins Schlafzimmer. Alex schaut ganz erstaunt auf: „Wie kann ich Euch denn helfen? Ich weiß leider wirklich nicht mehr, als ich Euch heute Vormittag schon gesagt habe.“ „Sollen Branco und ich Euch alleine lassen?“ Fragend schaut Michael von Alex zu den Polizisten. „Nein, bitte bleibt da!“, antwortet Alex. „Also“, beginnt der erste Polizist, „die Sache ist die, daß wir Euch ja vorhin schon erzählt haben, daß die Ursache für das Feuer Brandstiftung war. Was wir noch nicht gesagt haben: Das Feuer wurde in der zweiten Etage gelegt.“ „Das ist doch das Stockwerk, in dem ich gewohnt habe“, meint Alex verwirrt. „Ja, deshalb sind wir auch noch mal hier. Wir vermuten, daß der Täter also speziell jemanden aus dem Stockwerk treffen wollte. Wir befragen deshalb jetzt alle Bewohner dieses Stockwerkes noch einmal gesondert.“ Bei diesen Worten wird Alex noch blasser, als sie es ohnehin schon ist. Sie greift nach Brancos Hand. Dieser erwidert den Händedruck, und streichelt Alex Hand. Ruhig und einfühlsam, aber trotzdem bestimmt fragt der Polizist: „Gibt es jemandem, von dem Du Dir vorstellen kannst, daß er so eine Wahnsinnstat begeht, nur um Dir zu schaden?“ „Na ja, ich bin Kommissarin, ich muß Euch ja nicht erzählen, wie oft uns irgendwelche Typen, die wir festnehmen drohen, daß sie uns was antun, wenn sie wieder aus dem Knast rauskommen.“ „Ja klar. Hattest Du denn irgendwann mal eine Festnahme, wo es vielleicht um Brandstiftung ging, und wo Dir der Täter gedroht hat?“ Alex grübelt: „Also spontan fällt mir da nichts ein. Klar, ein paar Bombenleger waren dabei. Aber so richtig zum Thema Brandstiftung fällt mir jetzt eigentlich nichts ein.“ Auch Branco und Michael schütteln ihre Köpfe, als Alex sie fragend anschaut. Die Polizisten fragen weiter: „Bitte versteh’ die Frage jetzt nicht falsch, aber Du weißt ja selber, daß wir Dich das fragen müssen. Außerhalb der Arbeit, gibt es da irgendjemanden, dem Du so was zutrauen würdest? Hast Du irgendwelche Feinde?“ „Nein, nein, da kann ich mir wirklich niemanden vorstellen, der so was machen würde!“, stellt Alex energisch fest. Die beiden Polizisten merken, daß sie an dieser Stelle bei Alex wohl nicht weiterkommen. „Wie gut kennst Du Deine Nachbarn auf der Etage? Weißt Du, ob es da jemanden gibt, der bedroht wurde, oder etwas in der Richtung?“ Traurig schüttelte Alex den Kopf: „Nein, nicht das ich wüßte. Aber die meisten Nachbarn kenne ich auch nur flüchtig. Nur mit meinen direkten Nachbarn, Karsten, Tanja und....“, Alex muß schlucken, es fällt ihr schwer weiter zusprechen, „...und mit der kleinen Theresa, mit denen bin..., war ich befreundet.“ Bevor die Polizisten nachhaken können spricht sie weiter: „Aber wer sollte Interesse daran haben, ein Kind umzubringen? Die drei haben einen großen Freundeskreis, sind beliebt, also gegen die kann sich der Anschlag auf keinen Fall gerichtet haben.“ Leise fügt sie hinzu: „Auch wenn es sie getroffen hat.“
Die beiden Polizisten verabschieden sich. Auf sie wartet eine Menge Arbeit, schließlich wissen sie ja immer noch nicht so genau, in welche Richtung sie nun weiter ermitteln müssen. Doch ihr Instinkt sagt ihnen, daß der Schlüssel zur Lösung des Falls bei Alex zu suchen ist. Bei dem momentane Stand der Ermittlungen, und bei Alex’ Zustand können sie ihr das aber selbstverständlich so nicht sagen. Auch Michael und Branco teilen sie ihre Vermutungen noch nicht mit, nicht solange sie nicht doch irgendetwas genaueres vorweisen können.
Nach der Befragung ist Alex sehr still und in sich gekehrt. Sie liegt im Bett und hat Theresas Plüschhund fest an sich gedrückt. „Was geht Dir durch den Kopf?“, fragt Branco ruhig. „Es ist immer besser, wenn man über etwas spricht, als wenn man es in sich hineinfrißt.“ Zögernd schaut Alex ihre beiden Kollegen an. „Glaubt Ihr auch, daß es jemand auf mich abgesehen hat? Aber warum dann so grausam? Warum nimmt da jemand in Kauf, daß Unschuldige sterben? Wenn der Anschlag tatsächlich auf mich gerichtet war, dann bin ich Schuld, daß Tanja und Theresa tot sind.“ Branco nimmt sie in den Arm, und Michael hält ihre Hand: „Das ist Schwachsinn, und das weißt Du auch!“, reagiert Michael als erster. „Du kannst doch nichts dafür, was irgendein Irrer anstellt. Außerdem ist es bis jetzt doch nicht mehr als eine vage Vermutung, daß der Täter etwas mit Dir zu tun haben könnte.“ Dabei betont Michael besonders das letzte Wort. Ganz abschütteln kann Alex ihre Selbstvorwürfe zwar nicht, aber sie muß zugeben, daß Michael eigentlich Recht hat.
Die drei sitzen noch eine ganze Weile zusammen und merken gar nicht, wie die Zeit vergeht. Branco erschrickt richtig, als er auf die Uhr schaut und es schon fast Mitternacht ist. „Ich muß los, sonst komme ich morgen früh überhaupt nicht aus dem Bett“, verabschiedet er sich von Michael und Alex. Er ruft ein Taxi, denn dadurch, daß er mit Alex’ Auto gekommen war steht seins ja noch am Kommissariat (eigentlich hatte er ja vorgehabt mit S-Bahn und Tram heimzufahren, aber das ist ihm um diese Uhrzeit dann doch zu umständlich), und Michael bringt ihn zur Tür. Leise unterhalten sich die beiden Männer noch, Alex soll davon nichts mitbekommen: „Ich rufe Dich morgen an, wenn der Arzt da war. Und dann überlegen wir auch noch mal, wie wir das mit der Beerdigung machen, ob Alex dahingehen kann, okay?“ Branco nickt: „Alles klar, laß uns morgen darüber sprechen.“ Inzwischen ist auch das Taxi gekommen, und Branco fährt nach Hause.
Michael ist müde, und geht sofort ins Bett. Er wünscht Alex eine gute Nacht und löscht das Licht. Doch obwohl sowohl Alex als auch Michael sehr müde sind, können beide nicht einschlafen, weil ihnen so viel durch den Kopf geht. „Schläfst Du schon?“, fragt Alex leise nach einer Viertelstunde. „Nein, heute kann ich auch irgendwie nicht einschlafen.“ „Es tut mir so leid, daß ich Euch so viele Sorgen und Probleme bereite“, meint Alex zerknirscht. Michael setzt sich auf und macht das Licht wieder an. Er nimmt Alex’ Hände und schaut ihr in die Augen: „Branco und ich, wir kümmern uns gerne um Dich, wir sind Deine Freunde, und es ist doch selbstverständlich, daß Freunde sich in Notsituationen gegenseitig stützen. Du würdest doch genau das selbe auch für uns tun. Jetzt mach Dir da mal keine Gedanken drum. Wenn Branco und ich mal ’ne Auszeit brauchen, dann nehmen wir uns die schon, keine Angst. Okay?“ Dankbar erwidert Alex Michaels Blick: „Ich bin so froh, Euch als Freunde zu haben.“ Dabei umarmt sie Michael. Als Michael kurze Zeit später das Licht wieder ausmacht, schläft Alex auch schnell ein. Nur Michael hat dieser Vorfall noch mehr zum Nachdenken gegeben. Er weiß, daß die starke Alex momentan sehr anlehnungsbedürftig ist, sehr ungewöhnlich für sie, und er ist wild entschlossen, ihr alles zu geben, was sie braucht. Denn dann wird sie über die Geschehnisse hinwegkommen, da ist er sich ganz sicher. Und mit diesen Gedanken schläft auch er endlich ein.
Am nächsten Morgen wird er von einem Schrei geweckt. Sofort ist er hellwach. „Alex, was ist los?“ Die ist aber auch gerade erst von ihrem eigenen Schrei aufgewacht: Sie zittert am ganzen Körper, ist blaß und klatschnass geschwitzt: „Das Feuer..., die Stimme..., überall Flammen..., und immer wieder das Lachen“ „Ganz ruhig, beruhige Dich, es war nur ein Albtraum“, spricht Michael auf sie ein, währen er sie in den Arm nimmt. Immer noch etwas verwirrt schaut Alex ihn an: „Aber es wirkte alles so echt, v.a. dieses Lachen, ein richtig hämisches Lachen.“ Langsam beruhigt sich Alex wieder. „Jetzt ziehst Du Dir erst mal was trockenes an, und dann mache ich uns Frühstück, in Ordnung?“ Michael steht auf und sucht Alex ein neues seiner großen T-Shirts raus. „Bald hast Du aber meine gesamte Kollektion durch, wenn Du jeden Tag ein neues brauchst“, lacht er. „Das ist auch mein Ziel, damit ich mal sehe was Du so alles hast“, kontert Alex. Für einen kurzen Moment können die beiden einmal alles vergessen und albern etwas herum. Allein daran kann man merken, daß Alex definitiv auf dem Weg der Besserung ist.
Nach dem Frühstück ist es auch Alex, die die ernsteren Themen anspricht: „Wie soll das eigentlich weiter gehen? Ich meine, ich kann ja nicht ewig bei Dir bleiben. Ich muß mir eine neue Wohnung suchen. Und alles muß neu besorgt werden. Ich weiß gar nicht so richtig, wo und wie ich da anfangen soll.“ Auch Michael hat sich über all diese Themen in den letzten Tagen schon so seine Gedanken gemacht. „Zuerst einmal mußt Du Dir keinen Streß machen. Nimm Dir alle Zeit der Welt, die Du brauchst. Wichtig ist, daß Du schnell gesund wirst. Und dann kümmern wir uns langsam um das Thema Wohnen. Ich hab’ mir da nämlich schon was überlegt. Mein Arbeitszimmer nutze ich doch kaum. Wenn man das ein bißchen umräumt können wir da ein Zimmer für Dich einrichten. Dann hast Du Zeit um Dir was neues zu suchen. Ich würde mich auch freuen, Dich noch ein bißchen hier zu haben. Und mit dem Zimmer hättest Du dann trotzdem auch eine Rückzugsmöglichkeit für Dich. Was hältst Du davon?“ Alex schaut Michael erstaunt und dankbar an: „Das würdest Du wirklich für mich tun?“ „Aber na klar doch! Sonst hätte ich Dir den Vorschlag nicht gemacht.“ Alex gefällt die Idee. Und außerdem muß sie einsehen, daß es ja auch nicht so schnell gehen wird, bis sie eine neue passende Wohnung findet, bei der Wohnungssituation in München. „Als erstes brauche ich etwas eigene Kleidung. Am liebsten würde ich eine Grundausstattung erst mal über ’nen Katalog bestellen. Aber ich gehe mal nicht davon aus, daß Du so was hast, oder?“ Michael schüttelt den Kopf: „Nee, das findest Du in meinem Haushalt nicht wirklich. Aber weißt Du was? Frage doch mal Brancos Cousine, Michelle. Die hat bestimmt Kataloge von irgendwelchen Versandhäusern da. Ich finde die Idee auch gut. Dann mußt Du nicht stundenlang durch die Stadt laufen. Und Michelle hat Dir doch extra angeboten, daß Du sie anrufen kannst, wenn Du etwas brauchst.“ „Na ja, irgendwie komme ich mir schon komisch vor, aber ich werde sie nachher mal versuchen zu erreichen.“
Die beiden werden durch die Türklingel in ihrem Gespräch unterbrochen. Es ist der Arzt, der nach Alex schauen möchte. Michael verzieht sich also ins Wohnzimmer, aber heute hat er ein ganz gutes Gefühl, daß Alex auf dem Weg der Besserung ist. Als er wieder ins Schlafzimmer gerufen wird bestätigt ihm der Arzt das auch. „Wir haben Glück, das Fieber ist deutlich gesunken, ich denke nicht das Frau Rietz noch ins Krankenhaus muß. Allerdings sollte sie noch zwei Tage im Bett bleiben und sich richtig auskurieren.“ Jetzt spricht er Alex direkt an: „Sie kommen nächste Woche in meine Praxis, dann werden Sie noch einmal gründlich untersucht ob wieder alles in Ordnung ist.“ Mit diesen Worten will der Arzt sich verabschieden, aber Michael hält ihn zurück: „Wir haben noch eine Problem, also eher ein Frage an Sie.“ Sofort schaltet Alex sich ein: „Morgen ist die Beerdigung von meinen Nachbarn, und ich muß da einfach hin.“ Da fällt Michael ihr ins Wort: „Doch mein Kollege und ich sind uns nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist. Schließlich ist Frau Rietz doch noch nicht wieder fit.“ „Zeit zum Ausruhen habe ich immer noch“, wirft Alex ein, „aber ich muß zu der Beerdigung, ich muß mich einfach von den beiden verabschieden. Bitte!“ Dabei schaut sie Michael und den Arzt mit flehendem Blick an. Der Arzt macht ein bedenkliches Gesicht. „Also normalerweise würde ich sagen: Auf gar keinen Fall! Andererseits sehe ich natürlich auch, wie wichtig Ihnen das ist. Und für ihre psychische Verfassung ist es wahrscheinlich sogar ratsam, zu der Beerdigung zu gehen. Also so ganz wohl ist mir dabei nicht, aber ich denke, wenn es Ihnen bis morgen nicht wieder schlechter geht, können Sie es wagen. Unter zwei Voraussetzungen: Erstens – Sie überanstrengen sich nicht, gehen wirklich nur zu der Beerdigung, und dann sofort wieder zurück ins Bett. Und zweitens – Sie gehen nicht allein dort hin!“ „Das ist klar“, verspricht Michael sofort, „mein Kollege und ich werden sie begleiten und wir passen auf sie auf.“ „Na dann kann ja eigentlich nichts mehr schief gehen“ meint der Arzt schmunzelnd. Im Stillen ist er wirklich beeindruckt über den Zusammenhalt, den er hier zwischen den drei Kollegen erlebt. Spontan fallen ihm nicht viele Leute ein, die von so einem starken und intakten Freundeskreis gestützt werden wie hier seine Patientin. „Wenn doch noch mal was sein sollte, wenn es Frau Rietz wider Erwarten auf einmal schlechter gehen sollte, dann melden Sie sich einfach bei mir.“ Mit diesen Worten verabschiedet sich der Arzt.
Alex ist einerseits sehr froh, daß sie nun sogar vom Arzt grünes Licht bekommen hat, auf die Beerdigung zu dürfen, sie wäre auf jeden Fall gegangen, da hätten Branco und Michael gar nichts gegen machen können, aber sie hat auch Angst davor. Sie weiß nicht wie sie Karsten, dem Mann von Tanja und Papa von Theresa, gegenüber treten soll. Und sie hat auch Angst davor, am Grab der beiden zu stehen. Denn eigentlich kann sie noch immer nicht begreifen, daß Tanja und Theresa wirklich tot sind. Über all diese Gedanken und Gefühle fallen ihr die Augen zu.
Als Michael das sieht, geht er ins Wohnzimmer und wählt Brancos Nummer. Erst nach dem sechsten Klingeln meldet Branco sich. „Was ist denn los bei Dir? Ich dachte schon Du gehst gar nicht mehr dran“, begrüßt ihn Michael. „Du bist gut, ich versinke hier gerade in Arbeit! Aber egal, was gibt’s neues bei Alex?“ Branco will sich schließlich nicht beschweren, denn er ist ja froh, daß Michael den Urlaub nehmen konnte, und sich so jemand um Alex kümmert. Da nimmt er auch die Mehrarbeit in Kauf. „Der Arzt war gerade da, und wir haben ihn wegen der Beerdigung morgen gefragt. Begeistert war er nicht, aber er denkt, daß es für Alex’ Psyche wichtig ist hinzugehen. Deshalb hat er es ihr erlaubt. Sie soll halt nicht alleine gehen, aber das ist ja eh klar, ich habe gesagt wir beide gehen mit. Und sie soll sich nicht überanstrengen, also sofort nach der Beerdigung wieder heim fahren und ins Bett gehen. Wenn Alex in den nächsten Tagen keinen Rückfall bekommt, also das Fieber auf einmal wieder steigt, dann kann sie in zwei Tagen auch wieder aufstehen, dann ist die Phase der Bettruhe vorbei.“ „Und dann gehen die Probleme glaube ich erst richtig los. Schließlich muß Alex sich eine neue Existenz aufbauen. Und das wird hart“, meint Branco. Daraufhin erzählt Michael ihm erst einmal von seiner Idee: „Ich habe Alex vorhin angeboten, noch eine Weile bei mir wohnen zu bleiben. Wir könnten mein Arbeitszimmer umräumen und es zu Alex’ Zimmer machen. Dann steht sie nicht so unter Druck, schnell was neues finden zu müssen. Und beim Umräumen rechne ich dann stark mit Deiner Hilfe!“ „Na hoffentlich verrechnest Du Dich da nicht“, neckt ihn Branco. „Nein, Spaß beiseite, ich finde die Idee echt klasse, und super großzügig von Dir! Und natürlich helfe ich Dir auch beim Möbelrücken. Wie hat Alex denn überhaupt auf den Vorschlag reagiert?“ „Ich glaube sie war ganz froh, daß sie jetzt nichts überstürzen muß, und sich alle Zeit nehmen kann, die sie braucht. Jetzt wo sie den ersten Schock überwunden hat fängt sie halt an, sich viele Gedanken zu machen, was nun werden wird. Aber ich bin mir ganz sicher, daß sie das mit unserer Hilfe packt.“ Ein bißchen versucht sich Michael mit dieser Aussage auch selber Mut zuzusprechen. „Ich muß jetzt Schluß machen, sonst werde ich mit meinen Sachen hier gar nicht fertig, und ich will doch so schnell wie möglich wieder zu Euch kommen“, beendet Branco das Gespräch. „Alles klar, dann bis später! Und überarbeite Dich nicht!“ Diese kleine Spitze konnte sich Michael dann doch nicht verkneifen. „Ich werde mir Mühe geben“, erwidert Branco gespielt ernst.
Nach einer Stunde wacht Alex wieder auf. Und sofort verfällt sie auch schon wieder in Grübeleien. Ihre Gedanken kreisen immer wieder darum, wer die Schuld für das Geschehene tragen könnte. Auf einmal klingelt das Telefon. Michael geht ran, kommt dann aber sofort mit dem Telefon zu Alex ins Schlafzimmer: „Für Dich! Die Kollegen die den Brand bearbeiten haben noch eine Frage an Dich.“ Verwundert nimmt Alex das Gespräch entgegen. Ob sie jemanden kennt, der einen weißen Twingo fährt. „Das Fahrzeug wurde von mehreren Zeugen in der Brandnacht vor dem Haus gesehen. Leider hat sich aber niemand das Kennzeichen gemerkt, aber es soll wohl keine Münchner Nummer gewesen sein.“ Alex überlegt etwas: „Nein, ich glaube da kann ich Euch nicht wirklich weiterhelfen. D.h. mein Cousin fährt glaube ich einen weißen Twingo, aber der lebt in Kiel, und ist außerdem gerade für vier Wochen in Australien. Also bitte, vergeßt es!“ Trotzdem wollen die Polizisten den vollständigen Namen und die Adresse des Cousins haben. „Holger Hansson, Rotkehlchenweg 15 in Kiel. Aber ich sag’ Euch doch, da braucht Ihr gar nicht weiter nachzuforschen. Ich will nicht einmal daran denken, was Ihr Euch gerade ausmalt. Wißt Ihr eigentlich, wie viele weiße Twingos es gibt?“ Alex redet sich richtig in Rage. Die Kollegen am Telefon versuchen zu beschwichtigen. „Beruhige Dich Alexandra! Wir haben doch auch gar nicht gesagt, daß Dein Cousin da was mit zu tun haben könnte. Aber Du weißt doch eigentlich selber, daß wir allem und jedem nachgehen müssen, und auch Sachen ausschließen müssen.“ Doch so einfach läßt sich Alex nicht beruhigen. „Ich habe eine intakte und liebe Familie, also bitte laßt die aus der ganzen Sache raus!“ Dann legt sie auf. Michael, der in der Zwischenzeit auf Toilette war und das Gespräch somit nicht mitbekommen hatte, wundert sich über Alex’ bösen Gesichtsausdruck, als er wieder ins Schlafzimmer kommt. „Hey, was ist denn los?“, fragt er. „Ach die Idioten, die spinnen doch. Nur weil angeblich ein weißer Twingo vor dem Haus gestanden hat, als das Feuer ausgebrochen ist, und mein Cousin in Kiel so ein Auto fährt glauben die jetzt, daß er was mit der Sache zu tun hat.“ Doch Michael durchschaut Alex’ Schilderung. „Bist Du sicher, daß sie nicht einfach nur jedem noch so kleinen Tip nachgehen, und daß sie selber gar nicht wirklich daran glauben, daß Deine Familie da was mit zu tun hat? Beruhige Dich erst mal wieder. Du kennst das ganze Procedere doch. Wie oft regen wir uns im Job auf, wenn die Zeugen mal wieder alles besser wissen.“ Dabei zwinkert er Alex zu. Die kommt auch wirklich langsam wieder etwas runter. „Ja, Du hast ja Recht. Aber ich will halt nicht, daß meine Familie in die ganze Sache mit rein gezogen wird. Das haben sie nicht verdient.“ „Das werden sie schon nicht. Weißt Du was, ich mache uns jetzt erst mal einen Tee, und dann sieht die Welt schon wieder ein bißchen anders aus.“
Etwas später fällt Alex auf einmal wieder ein, daß sie ja noch Brancos Cousine Michelle anrufen wollte. „Kannst Du mir mal bitte das Telefon bringen?“, bittet sie Michael. Inzwischen sucht sie den Zettel mit Michelles Telefonnummer raus. Bereits nach dem zweiten Klingeln meldet sich jemand: „Michelle Vukovic“. „Hallo Michelle hier ist Alex Rietz“ Weiter kommt sie gar nicht, da unterbricht Michelle sie schon: „Mensch Alex, das ist schön, daß Du anrufst. Passen Dir die Sachen von mir?“ Alex ist ganz überrascht ob der fröhlichen Begrüßung. „Ja, die Sachen passen mir genau. Ich weiß auch gar nicht, wie ich Dir dafür danken soll! Das ist echt so lieb!“ Doch Michelle wiegelt ab: „Das ist doch kein Thema, ist doch klar, daß man in so einem Fall hilft. Kann ich denn sonst noch irgendwas für Dich tun?“ Alex druckst ein bißchen herum: „Also ehrlich gesagt: Ja! Ich brauche ja doch auch wieder eigene Klamotten. Na ja, und ich bin doch noch nicht wieder so fit, das hat Branco Dir ja vielleicht schon erzählt. Zumindest wollte ich Dich fragen, ob Du nicht irgendwelche Kataloge von Versandhäusern hättest. Ich würde gerne eine Grundausstattung für mich bestellen.“ „Aber na klar doch, ich habe einige Kataloge da. Ich rufe gleich Branco an, er soll sie nach der Arbeit bei mir abholen, und dann kann er sie Dir gleich heute Abend mitbringen.“ Alex stimmt dem zu, und nachdem ihr Michelle noch einmal ausdrücklich befohlen hat, sich zu melden, wenn sie etwas braucht, legen die beiden auf.
Als Branco am Abend nach der Arbeit bei Michael vor der Tür steht, hat er nicht nur die Kataloge mitgebracht, sondern auch einen Bärenhunger. Und wie schon am Vorabend stellt sich Michael wieder in die Küche und bekocht seine Kollegen. Doch als Branco es ein bißchen gemütlich machen will, und eine Kerze anzündet bekommt Alex auf einmal Panik. Ihre Augen sind ganz groß und sie fängt an zu zittern. Mit leicht schriller Stimme spricht sie zu Branco: „Mach die Kerze aus, bitte mach sofort die Kerze aus!“ Branco ist etwas irritiert, aber natürlich löscht er die Kerze sofort. Er geht zu Alex und legt den Arm um sie: „Was ist denn mit Dir?“ Alex ist immer noch völlig aufgelöst. Auch Michael hat mitbekommen, daß etwas nicht stimmt und kommt sofort zu den beiden. „Was ist denn hier los?“, will er wissen. Branco schildert ihm kurz die Situation. Erst kann Michael das auch nicht so ganz nachvollziehen, aber dann kommt ihm eine Idee. Er setzt sich zu Alex und spricht mit ruhiger Stimme zu ihr: „Du hast Angst vor allem was mit Feuer zu tun hat, stimmt’s?“ Traurig schaut Alex auf: „Es ist so bescheuert, aber als Branco die Kerze angezündet hat habe ich in Gedanken schon die ganze Wohnung in Flammen stehen sehen. Mir ist das so peinlich, ich meine, er hat ja nur ganz normal eine Kerze angezündet!“ „Das muß Dir doch nicht peinlich sein“ erwidern Branco und Michael gleichzeitig. „Nach dem was Du erlebt hast ist das doch nur allzu verständlich!“, versucht Michael sie zu beruhigen. „Nur eins ist mir nicht ganz klar“, wirft Branco ein, „wenn Michael in den letzten Tagen geraucht hat, warum hattest Du da nicht auch schon diese Panikanfälle?“ „Ganz einfach, er hat nie in meiner Gegenwart geraucht.“ Michael denkt kurz nach: „Stimmt, entweder ich habe draußen auf dem Balkon geraucht, oder im Wohnzimmer wenn Du hier geschlafen hast, aber Du hast wirklich nie gesehen, wie ich mir eine Zigarette angesteckt habe.“ „Na jetzt wissen wir ja Bescheid“, beendet Branco das Thema, „und wir werden aufpassen, daß wir kein Feuerzeug in Deiner Gegenwart benutzen.“ Michael geht wieder in die Küche, und Branco bleibt bei Alex sitzen und hält sie noch etwas im Arm, was ihr gut tut.
Nach dem Abendessen haben die drei den Vorfall schon wieder fast vergessen. Jetzt beschäftigen sie sich mit Alex’ Garderobe. Zusammen blättern sie die Kataloge durch. Während Alex sehr systematisch überlegt, was sie am dringendsten braucht und welche Klamotten jetzt Priorität haben, albern die beiden Männer eigentlich nur rum. „Das hier ist doch sexy. Schau mal Michael, das wäre doch was für Alex, oder? Das rückenfreie Leopardentop da, und dazu dann die Lederhose auf der nächsten Seite, was hältst Du davon?“ Branco hält Michael den Katalog unter die Nase. „Du, ich bin gerade bei der Bademode – der Bikini sieht doch geil aus!“ Dabei zeigt er auf einen knallroten Hauch von Nichts. Nachdem Alex sich erst ein wenig über ihre beiden Kollegen ärgert, steigt sie einfach voll mit ein. „Vielleicht sollten wir Eure Outfits auch gleich mal ein wenig ergänzen? Schau mal, diese Badehose würde ich gerne mal an Dir sehen, Branco. Und diese Netzoberteil wäre doch das richtige für Dich, Michael, oder?“ Alle drei müssen lachen, und es tut ihnen gut, einfach nur etwas rumalbern zu können.
Nach einer Weile wird Alex müde. Michael und Branco bemerken das, und beschließen sich langsam zurückzuziehen. „Schlaf gut Alex, morgen ist ein anstrengender Tag für Dich, da mußt Du ausgeruht sein“, verabschiedet sich Branco von ihr.
Branco und Michael setzen sich noch kurz im Wohnzimmer zusammen. „Um wie viel Uhr ist denn die Beerdigung morgen eigentlich?“, will Michael wissen. „Um 14:00 Uhr. Ich würde sagen, ich hole Euch dann gegen 13:15 Uhr ab. Hoffentlich steht Alex das durch!“ „Bestimmt, wir sind doch bei ihr, und sie hat doch bis jetzt schon so viel durch gestanden, ich habe echt Respekt vor ihr“, versucht Michael sich und Branco zu beruhigen. „Da hast Du Recht, Alex beeindruckt mich wirklich jeden Tag aufs Neue“, gibt Branco zu. „Aber der Vorfall mit der Kerze hat mich doch etwas schockiert. V.a. macht mir das auch Sorgen wegen morgen – auf der Beerdigung werden mit Sicherheit Kerzen brennen.“ „Wir müssen es morgen einfach auf uns zukommen lassen, und wir sind ja dabei“, entgegnet Michael. „Sage mal, ist bei den Sachen von Deiner Cousine eigentlich eine Jacke für Alex dabei gewesen? Fällt mir gerade so ein.“ Branco überlegt kurz: „Da bin ich mir jetzt gar nicht so sicher. Ich bringe dann morgen auf jeden Fall noch ’ne Jacke von mir mit, das sollte ggf. auch gehen.“ Damit verabschiedet Branco sich für den Abend, und auch Michael geht bald darauf schlafen.
Am nächsten Morgen ist es Alex, die als erste aufwacht. Sofort sind ihre Gedanken bei der bevorstehenden Beerdigung. Sie setzt sich hin und hält Theresas Stoffhund fest an sich gedrückt. Als Michael aufwacht braucht er erst einmal einen Moment, um das Bild, daß Alex ihm bietet, richtig einzuordnen. Doch der Groschen fällt sehr schnell: „Guten Morgen, Alex! Du machst Dir Gedanken wegen der Beerdigung, oder?“ Alex nickt nur. „Du weißt, Du mußt da nicht hingehen. Du kannst Dich frei entscheiden, was Du möchtest.“ Erschrocken sieht Alex Michael an: „Nein, nein, natürlich gehe ich dahin, ich muß dahin, aber irgendwie habe ich halt auch Angst davor.“ „Branco und ich sind ja dabei, wir sind für Dich da! Jetzt mach’ uns erst mal Frühstück, und dann geht’s weiter. Branco will um 13:15 Uhr hier sein und uns abholen.“ Gesagt, getan. Auch wenn Alex kaum einen Bissen runter bekommt sitzen die beiden lange beim Frühstück zusammen. Anschließend schaut Alex noch einmal die Sachen von Michelle durch, um sich etwas für die Beerdigung herauszusuchen. Sie findet eine schwarze Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. „Michael, mir fällt gerade auf, daß ich ja gar keine Jacke habe.“ „Branco bringt eine für Dich mit, das haben wir gestern Abend schon gemerkt.“ „Ihr denkt auch wirklich an alles.“
Branco ist, ganz entgegen seiner eigentlichen Natur, überpünktlich und schon um 13:00 Uhr bei Michael. „Was ist denn mit Dir los? Seid wann kommst Du zu früh irgendwohin? Zu spät zu kommen, das sind wir ja von Dir gewohnt, aber zu früh?“, muß Michael seinen Kollegen necken. „Ha ha, so oft wie Ihr immer tut komme ich ja auch gar nicht zu spät.“ Branco schüttelt verständnislos den Kopf. „Hier ist die Jacke für Alex. Wo ist sie denn?“, fragt er. „Im Schlafzimmer. Aber geh ruhig hinter, sie ist schon seit ’ner ganzen Weile fertig.“ Als Branco ins Schlafzimmer kommt sieht er Alex ganz in Gedanken versunken auf dem Bett sitzen, das Stofftier fest an sich gedrückt. „Hey Alex“, spricht Branco sie leise an, während er sich neben sie setzt. „Alles klar?“ Alex schaut auf: „Ja ja, geht schon.“ Branco merkt genau, daß dem nicht so ist, aber da Alex offensichtlich nicht reden möchte hakt er auch nicht weiter nach. „Hier, ich hab’ Dir ’ne Jacke von mir mitgebracht.“ Er gibt ihr seine dicke gefütterte schwarze Winterjacke. „Danke, Du bist so lieb zu mir.“ „Kein Thema. Bist Du so weit, wollen wir los?“ Alex atmet noch einmal tief durch. „Okay, laß uns starten!“ Zusammen gehen sie ins Wohnzimmer. Die Anspannung steht Alex ins Gesicht geschrieben. Durch die schwarzen Sachen wirkt sie noch blasser, als sie eh schon ist. „Was schaust Du mich so an?“, bemerkt Alex den Blick von Michael. „Du siehst noch so blass aus“, meint Michael besorgt. „Ist das ein Wunder“, reagiert Alex leicht gereizt „ich hab’ ja nicht mal Schminke um mich zurecht zu machen.“ „Ich mach’ mir doch nur Sorgen um Dich!“, erwidert Michael kleinlaut. Doch da er weiß, daß Alex momentan einfach nicht sie selbst ist, nimmt er ihr ihren Ton nicht übel.
Michael fährt, und Alex sitzt still neben ihm, das Plüschtier fest mit ihren Händen umklammert. Branco sitzt hinten und grübelt: „Wenn ich ihr doch nur helfen könnte! Was denkt sie gerade, was fühlt sie?“
Nach kurzer Fahrt kommen sie am Friedhof an. Michael und Branco nehmen Alex in die Mitte und gehen in die Kirche. Alle drei atmen noch einmal tief durch, bevor sie das Gotteshaus betreten, allerdings jeder aus verschiedenen Gründen. Alex hat Angst. Sie hat Angst, ob sie die Beerdigung gefühlsmäßig durchsteht, Angst wie sie auf die Kerzen in der Kirche reagieren wird, Angst vor der Begegnung mit Karsten. Branco und Michael hingegen erahnen nur, was in Alex vorgeht. Und sie machen sich große Sorgen um sie, wie sie die nächste Stunde übersteht.
Der erste Blick von Alex in der Kirche fällt auf die beiden Särge. Sie hat das Gefühl, ihr zerreißt es die Seele. Als zweites sieht sie die vielen Kerzen, die den Altarraum erleuchten. Sie spürt wie wieder die Panik in ihr aufkommt, und sie kämpft mit sich selber: „Jetzt reiß Dich zusammen Alexandra! Du wußtest von vornherein, daß hier Kerzen sind. Außerdem kannst Du nicht den Rest Deines Lebens vor jeder kleinen Flamme davonlaufen. Also bleib ruhig! Hier sind so viele Leute, die alle aufpassen, was soll hier schon passieren?“, versucht sie sich selber zu beruhigen. Sie ist so mit sich und ihren Gefühlen beschäftigt, daß sie kaum mitbekommt, wie Michael und Branco sie auf einen Platz setzen. Branco folgt genau Alex’ Blicken, und er sieht, wie sie die Kerzen nicht aus den Augen läßt. „Wir sind bei Dir, es kann Dir gar nichts passieren, wir passen auf Dich auf“, flüstert er ihr ins Ohr. Er nimmt ihre rechte Hand, hält sie fest und streichelt sie. Alex zwingt sich, nicht weiter auf die Kerzen zu starren. Vielleicht schafft sie es ja, sie zu ignorieren.
Die Glocken läuten, und der Pfarrer beginnt den Trauergottesdienst. Mit seiner ruhigen und warmen Stimme erzählt er aus dem Leben von Tanja und Theresa. Er erinnert an die Hochzeit von Tanja und Karsten, die vor vier Jahren in genau dieser Kirche stattgefunden hatte, und an das große Glück der beiden, als sich mit Theresa ihr großer Lebenswunsch vom eigenen Kind erfüllt hatte. Ebenfalls in dieser Kirche wurde dann vor knapp zwei Jahren Theresa getauft. In blühenden Farben beschreibt er Theresas Fröhlichkeit, und ihr Talent schon in ihrem Alter genau zu spüren, wie es den Menschen um sie herum geht. Sie wollte immer das alle glücklich sind.
An dieser Stelle kann Alex endgültig nicht mehr und bricht in Tränen aus. Sie muß immer wieder daran denken, wie Theresa ihr den Stoffhund gegeben hatte, damit sie nicht so allein ist. So ein kleines Mädchen – und doch wollte sie Alex mit dieser Geste beschützen, wollte, daß es ihr gut geht. Alex weint und weint, so daß sie kaum mehr mitbekommt, was der Pfarrer weiter sagt. Noch immer hält Branco ihre Hand. Michael legt seinen Arm um sie, und sie lehnt sich an seine Schulter an. Sie hat das Gefühl, den Schmerz nicht ertragen zu können. Was wollten sie noch alles zusammen unternehmen. Theresa ging so gerne in den Zoo, und für dieses Wochenende hatten Tanja und sie sich eigentlich überlegt, wieder einmal einen Ausflug dorthin zu machen. Theresa hatte sich so darauf gefreut. Außerdem wollte sie immer mal in einem echten Polizeiauto mitfahren. Wie gerne hätte Alex ihr diesen Wunsch erfüllt. Aber irgendwie hatte es nie gepaßt, und schließlich drängte es ja auch nicht, man hatte ja Zeit. Von wegen – ach hätte sie sich doch einfach irgendwann einmal einen Ruck gegeben und wäre mit ihr in die Arbeit gefahren. Es wäre ein leichtes gewesen, einen Kollegen zu finden, der mit ihr und Theresa eine kleine Runde gefahren wäre. Doch nun war es zu spät.
Und auch mit Tanja hatte sie noch so viel vor. Die beiden verstanden sich super, obwohl sie ja völlig verschiedene Lebensmodelle lebten: Alex, die taffe Kommissarin, ledig, Single, keine Kinder, der ihre Arbeit immer sehr wichtig ist, und Tanja, die ihren Beruf aufgegeben hatte, als sie mit Theresa schwanger war, die glücklich verheiratet, und von ganzem Herzen und voller Stolz Mami war. Erst vor zwei Wochen hatte Tanja Alex anvertraut, daß langsam die Zeit für ein Geschwisterchen für Theresa reif sei. Karsten und sie hätten sich entschlossen, nicht mehr zu verhüten. Dabei strahlten ihre Augen vor purem Glück.
All das geht Alex durch den Kopf. Und auch wenn sie immer wieder zu den Särgen schaut, sie will es nicht glauben, daß all das so ein jähes Ende genommen hatte. Sie bekommt kaum mit, daß der Gottesdienst sich dem Ende neigt. Als die Särge aus der Kirche zum Grab getragen werden, und die Gemeinde den Sargträgern folgt, wird Alex immer noch von Michael im Arm gehalten.
Die Särge werden in die Erde gelassen, und als Alex an der Reihe ist, ans offene Grab zu treten, geht sie alleine vor. Sie wirkt verloren, wie sie da steht. Sie wirft den Plüschhund ins Grab und flüstert weinend: „Der soll jetzt wieder auf Dich aufpassen, kleine Theresa! Ich hab’ Dich lieb! Ich hab’ Euch lieb, Tanja und Theresa!“ Alex ist am Ende ihrer Kräfte, als sie zu Branco und Michael zurückgeht. Gemeinsam gehen sie zu Karsten. Alex und Karsten schauen sich mit verweinten Augen an. „Es tut mir so leid!“ flüstert Alex. Mehr kann sie einfach nicht sagen. „Ich weiß“, erwidert Karsten. Mehr muß auch gar nicht gesagt werden. Die beiden umarmen sich kurz, Branco und Michael sprechen Karsten ihr Beileid aus, und dann gehen die drei wieder Richtung Auto. Dabei stützen sie die immer noch weinende Alex.
Auf dem Heimweg sitzen Branco und Alex beide hinten. Branco hält Alex fest im Arm, denn sie kann sich gar nicht wieder beruhigen. Bei Michael zu Hause legt sich Alex sofort wieder ins Bett. Sie weint in die Kissen, während Branco neben ihr sitzt und ihr übers Haar streicht. Langsam werden die Schluchzer von Alex weniger, sie ist eingeschlafen.
Michael steht währenddessen auf dem Balkon und raucht. Er braucht einfach selber mal einen Moment für sich. Denn auch ihn hat die Beerdigung mitgenommen. Vor Alex wollte er das nur nicht zeigen. Wenn Kinder sterben, das ist das schlimmste! Voller Liebe denkt er an seinen Sohn. Sollte ihm etwas passieren, er würde es nicht ertragen, und Mike ist immerhin schon 13 Jahre alt. Je jünger die Kinder sind, desto grausamer ist es doch. Andererseits ist es eigentlich egal, wie alt das eigene Kind ist. Es wird immer ein Teil von einem selbst bleiben, und genauso liebt man es auch.
Bevor Branco wieder ins Kommissariat fährt, setzen sich die beiden Männer noch kurz im Wohnzimmer zusammen. „Sie tut mir so leid, wie sie sich jetzt in den Schlaf geweint hat. Aber ich glaube jetzt auch, daß es doch richtig war, daß sie hingegangen ist. Vielleicht hat das Abschiednehmen und das Weinen sie doch auch etwas befreit und ihr geholfen, die ganze Situation zu verarbeiten“, gibt Branco zu. Michael nickt: „Warten wir mal ab, wie es ihr geht, wenn sie wieder wach wird.“ Nach einem kurzen Blick zur Uhr geht Branco zur Tür: „Ich muß jetzt echt wieder los. Aber ich komme nachher noch mal vorbei. Wird aber wohl etwas später werden als die letzten Tage. Und wenn was ist, dann rufst Du mich an, okay?“ „Alles klar, mach ich.“
Kaum hat Branco die Wohnung verlassen greift sich Michael das Telefon. Er wählt eine der ganz wenigen Nummern, die er auswendig kann. Nachdem es dreimal geklingelt hat meldet sich jemand: „Hallo?“ „Hallo Mike, hier ist Papa!“ „Hallo Papa – was ist denn los? Du rufst doch sonst nicht mitten am Tag an?“ Michael tut es gut, die Stimme von seinem Sohn zu hören. „Stimmt, aber ich habe diese Woche frei. Wie geht’s Dir denn? Was machst Du gerade?“ „Mir geht’s gut. Ich will gerade zu Simon, der hat heute Geburtstag und wir gehen auf die Go-Cart-Bahn. Aber wieso hast Du frei? Normalerweise bist Du doch hier in Düsseldorf, wenn Du frei hast?“, wundert sich Mike. „Ja stimmt. Aber eigentlich habe ich nur frei um mich um die Alex zu kümmern. Der geht’s nicht gut. Vor ein paar Tagen hat es bei ihr gebrannt, ihre Nachbarn sind sogar bei dem Feuer ums Leben gekommen. Na und da braucht sie jetzt halt jemanden, bei dem sie erst mal bleiben kann, und der sich um sie kümmert. Deshalb habe ich Urlaub genommen.“ „Oh mein Gott, das ist ja furchtbar!“ Auch Mike ist schockiert. Schließlich hat er Alex bei den Besuchen bei seinem Vater schon kennen gelernt und findet sie auch ganz in Ordnung. „Bitte bestell ihr doch Grüße von mir!“ „Na klar, mach ich. Sie rappelt sich schon wieder, dauert halt nur etwas.“ Michael will schließlich Mike nicht auch noch mit dem Thema belasten. „Du sorry, aber ich muß jetzt wirklich los, Simon wartet“, drängelt Mike etwas. „Alles klar, dann bis bald mal wieder“, verabschiedet sich Michael. „Ja, ciao!“ Mike legt auf.
Michael hat das Telefon noch nicht wieder auf die Station gelegt, als es wieder klingelt. Es sind noch einmal die Kollegen, die in dem Brandfall ermitteln: „Ist Alexandra zu sprechen?“ Doch diesmal muß Michael verneinen: „Wir sind eben erst von der Beerdigung der Opfer gekommen, und Alex ist gerade eingeschlafen. Was gibt’s denn?“ Der Polizist druckst etwas herum: „Das würde ich schon gerne mit Alexandra selber besprechen. Kannst Du ihr bitte ausrichten, daß sie mich nachher zurückrufen soll? Ich geb’ Dir mal meine direkte Durchwahl.“ Michael schreibt sich die Nummer auf, und verspricht, Alex Bescheid zu geben, auch wenn ihm gar nicht wohl bei dem Gedanken ist, so wie der Kollege am Telefon geklungen hat.
Nach zwei Stunden wacht Alex wieder auf. Zwar fängt sie nicht wieder an zu weinen, aber sie liegt im Bett, starrt vor sich hin und sagt kein Wort. Michael weiß gar nicht, wie er in diesem Moment mit ihr umgehen soll. Er weiß nur, daß er den Anruf erst mal noch ein bißchen verschweigen wird. Auch wenn Alex nicht sprechen möchte spürt er doch, daß sie jemanden braucht, der für sie da ist. Also setzt er sich neben sie auf das Bett. Als er sie in den Arm nehmen will, schaut sie ihn dankbar an und legt dann ihren Kopf auf seinen Schoß. So sitzen beide eine lange Zeit schweigend zusammen und gehen ihren Gedanken nach. „Es tut so weh!“, unterbricht Alex irgendwann das Schweigen. „Ich weiß“, erwidert Michael nur kurz. Er sucht einen Moment nach den richtigen Worten: „Ich weiß, es tut wahnsinnig weh, aber auch wenn Du es Dir jetzt nicht vorstellen magst, es wird vorbei gehen. Irgendwann wirst Du an die beiden denken können, und Dich an die vielen schönen Erlebnisse und fröhlichen Stunden erinnern, ohne daß es Dir die Seele zuschnürt. Doch das braucht Zeit – und Du hast die Zeit! Nimm Dir so viel Zeit wie Du brauchst. Doch vergiß nicht, warum auch die beiden Dich so gemocht haben: Wegen Deiner positiven und lebensbejahenden Einstellung! Vergiß Dich über all die Trauer nicht selber. Du machst gerade wahnsinnig viel durch, aber verkriech Dich nicht in Dein Schneckenhaus, das wäre das letzte, was die beiden gewollt hätten!“ Während Michael so spricht, dreht Alex sich um, daß sie ihm direkt in die Augen schaut. Sie erwidert nichts, doch ihr Blick spiegelt ihre gesamte Gefühlswelt wieder: Den Schmerz, die Trauer, die Verbitterung, aber auch die Dankbarkeit Michael gegenüber.
Es vergeht noch etwas Zeit, bis Michael sich endlich dazu durchringt, Alex um den Rückruf bei den Kollegen zu bitten. Er bringt Alex das Telefon: „Soll ich rausgehen, während Du telefonierst?“, fragt er sie. „Nein, bleib’ bitte hier.“ „René Schulze“, meldet es sich am anderen Ende der Leitung. „Hallo, hier ist Alexandra Rietz. Ich sollte Euch zurückrufen?“ „Ja genau, danke! Wir hätten da noch ein paar Fragen an Dich. Zuerst einmal – was sagt Dir der Name Jochen Koslowski?“ Alex überlegt einen Moment: „Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht woher jetzt genau.“ Fragend schaut sie Michael an, der mithört, da sie das Telefon auf laut gestellt hat. Auch ihm scheint der Name etwas zu sagen, aber ebenso wie Alex kann er ihn nicht wirklich zuordnen. „Dann will ich Deinem Gedächtnis mal ein bißchen auf die Sprünge helfen. Der Typ hat vor ca. 2,5 Jahren eine Bank überfallen. Allerdings hat er sich dabei so dilettantisch angestellt, daß Ihr ihn Euch innerhalb kürzester Zeit geschnappt hattet. Er hatte sogar noch die Beute bei sich.“ Alex geht ein Licht auf: „Ja, an den Kerl erinnere ich mich. Oh man war der wütend, als wir ihn gestellt hatten. Am meisten hat ihn wohl damals geärgert, daß er das Geld noch dabei hatte. So ist ihm wirklich außer dem Gefängnis nichts geblieben. Der hat sich aber auch zu blöd angestellt: Mit einer Spielzeugpistole eine Bank zu überfallen, dabei noch das Tuch was man sich vors Gesicht gebunden hat, runterrutschen zu lassen, ohne es zu merken in die Überwachungskameras zu schauen, und einen schrottreifen Fluchtwagen zu benutzen, der nach kurzer Zeit den Geist aufgibt – soviel Doofheit ist fast schon beeindruckend. Aber warum fragst Du mich nach dem Typen?“ Alex kann das alles gar nicht richtig einordnen. „Jochen Koslowski ist nach einem Freigang nicht wieder in den Knast zurückgekehrt, das war vier Tage vor dem Brand. Und er ist gelernter Pyrotechniker! Er kennt sich also mit Feuer bestens aus!“ Ganz erschrocken schaut Alex Michael an: „Ihr meint also, daß der hinter dem Brand stecken könnte?“ „So genau können wir das noch nicht sagen, aber es ist zumindest mal eine Spur unter vielen, die wir verfolgen werden. Hat er Dir vielleicht damals gedroht?“ Wieder überlegt Alex kurz: „Auch nicht mehr als alle anderen. Klar war er sauer, als wir ihn festgenommen haben. Aber wirklich bedroht hat er eigentlich keinen von uns. Da haben wir uns schon eine Menge heftigerer Drohungen anhören dürfen.“ „Okay, wir werden auf jeden Fall an dem Typen mal dran bleiben. Übrigens – Du warst in den letzten Jahren ja echt fleißig! Wie viele von Dir festgenommene Räuber, Mörder und Erpresser wir in den letzten Tagen schon überprüft haben, das ist der Wahnsinn!“ Bei diesem Lob muß Alex sogar ein wenig lächeln. Ja so schnell macht ihr, Michael und Branco niemand etwas vor. Und ihre Aufklärungsquote war in den letzten Jahren wirklich durchweg gut. „Dann wäre da noch etwas anderes.“ René Schulze druckst etwas herum, was Michael sofort hellhörig werden läßt. „Du hast uns doch neulich wegen dem weißen Twingo gesagt, daß Dein Cousin so einen Wagen fährt. Die Kollegen in Kiel haben das Auto nirgends finden können.“ Sofort verfinstert sich das Gesicht von Alex. „Fangt Ihr schon wieder damit an? Laßt meine Familie da raus – das habe ich Euch neulich schon gesagt! Mein Cousin ist in Australien, und damit nicht erreichbar. Und was weiß ich, wo er sein Auto stehen hat, oder wem er es in dieser Zeit geliehen hat.“ Alex ist wirklich wütend. Michael legt die Hand auf ihre Schulter um sie etwas zu beruhigen. „Wir wollen doch nur ausschließen, daß Deine Familie was damit zu tun hat. Du machst das doch bei Deinen Fällen nicht anders“, versucht auch René Schulze sie zu beruhigen. Tief in ihrem Inneren sieht Alex ja ein, daß der Kollege damit Recht hat, aber das will sie nicht wirklich wahrhaben. „Weißt Du, wer einen Schlüssel für die Wohnung Deines Cousins hat? Irgendjemand wird sich doch sicher um die Post kümmern, die Blumen gießen und lauter solche Sachen. Vielleicht kann derjenige ja mal nachschauen, ob die Autoschlüssel und –papiere da sind. Oder vielleicht weiß er sogar, wo das Auto steht.“ Etwas widerwillig gibt Alex Auskunft: „Also ich bin mir nicht sicher, aber es kann sein, daß seine Nachbarn sich in seiner Abwesenheit um die Wohnung kümmern. Zumindest haben die das wohl schon öfter gemacht. Ich weiß aber nicht, welche Nachbarn das genau sind.“ „Kein Thema, das bekommen wir schon raus. Danke für die Information! Das war’s auch erstmal schon.“ Das Telefongespräch ist beendet, und Alex ist immer noch wütend. Und Michael merkt, daß es gescheiter ist jetzt erst mal nichts zu sagen, denn Alex würde ihm momentan jedes Wort im Mund umdrehen.
Nach einer Weile hat sie sich wenigstens wieder etwas beruhigt. „Darf ich noch mal kurz telefonieren?“, fragt sie Michael. „Alex – Du mußt nicht jedes mal fragen, na klar doch!“ Diskret verläßt er den Raum während Alex noch wählt. „Rietz“, meldet es sich am anderen Ende der Leitung. „Hallo Papa, hier ist Alexandra!“ „Hallo, das ist ja schön daß Du anrufst! Wie geht es Dir?“ „Es geht schon. Ich war heute bei der Beerdigung meiner Nachbarn. Ich kann es immer noch nicht fassen, daß sie tot sind.“ Alex muß mehrmals schlucken, und ihr Vater merkt das: „Das glaube ich Dir Mäuschen. Aber wir sind so froh, daß mit Dir alles in Ordnung ist. Bist Du denn immer noch bei Deinem Kollegen?“ „Ja, bei Michael. Und er und Branco kümmern sich auch total lieb um mich. Michael hat mir sogar angeboten, sein Arbeitszimmer umzuräumen und da ein Zimmer für mich einzurichten. Und ich denke, ich werde das Angebot auch annehmen. So schnell finde ich schließlich auch keine neue Wohnung. Und ehrlich gesagt, ich mag auch momentan nicht gerne allein sein.“ Da Alex Vater nicht genau weiß, wie er reagieren soll, wechselt er das Thema: „Weiß man denn inzwischen schon genau, was die Brandursache war?“ „Ja, es war auf jeden Fall Brandstiftung. Und eigentlich rufe ich auch genau deshalb an. Die Kollegen von der Polizei ermitteln wirklich in alle Richtungen, und gerade haben sie sich irgendwie bei mir fest geschossen. Es kann also durchaus sein, daß in nächster Zeit die Polizei auch Euch befragt und irgendwelche Dinge wissen will. Denkt Euch da nichts weiter bei – sie müssen halt jeder noch so kleinen Möglichkeit nachgehen.“ Zwar ist Alex immer noch darüber sauer, aber sie will ihren Vater nicht beunruhigen und spricht deshalb eigentlich genauso mit ihm, wie noch vor kurzer Zeit René Schulze mit ihr gesprochen hat. Doch das fällt ihr selber gar nicht auf. Ihr Vater wundert sich zwar etwas, was denn die Polizei von ihnen wissen wollen würde, aber andererseits hatte ihm Alex schon ab und zu von ihrer Arbeit erzählt, wie sie da auch jeden aus dem Umfeld der Opfer befragt haben. Also beschließt er da bei Alex nicht weiter nachzuhaken. Schließlich spürt er auch, daß es Alex offensichtlich noch nicht ganz so gut geht, wie sie versucht ihn glauben zu machen. Deshalb betont er noch einmal: „Mäuschen, Du weißt, wir sind immer für Dich da! Du bist stark, Du schaffst das schon alles!“ Alex muß bei diesen Worten lächeln: „Na klar, ich bin doch schließlich Eure Tochter!“ Na der Spruch klang doch schon wieder eher nach seiner Alexandra. „Ich leg’ dann mal auf. Bestell Mama schöne Grüße!“
Alex läßt sich wieder in die Kissen fallen. Ihr geht soviel durch den Kopf, daß sie sich wünscht, alle Gedanken und Gefühle nur einmal kurz ignorieren zu können. Ihr wird einfach alles zuviel.
Inzwischen ist auch Branco wieder eingetroffen. An diesem Abend sitzen die drei zusammen und reden nicht viel. Jeder versucht für sich die Beerdigung zu verarbeiten. Am schwierigsten ist es aber für Michael und Branco zu spüren, wie sie mit Alex umgehen sollen. Sie sagt kaum ein Wort, liegt still im Bett und reagiert kaum auf den Zuspruch und auf die Berührungen der beiden. Sie wünscht sich einfach, dem ganzen entfliehen zu können, aufzuwachen und festzustellen, das alles ein böser Traum ist, oder wahlweise einzuschlafen, und einfach nicht mehr aufzuwachen, all die Trauer, den Schmerz und die Ängste nicht mehr fühlen zu müssen. Immer wieder schluchzt sie in ihre Kissen, und jedes mal wechseln Branco und Michael hilflose Blicke. Denn schließlich können sie auch gar nicht wissen, was in Alex gerade vorgeht.
Nach einer Weile ist Alex eingeschlafen, Branco und Michael schleichen leise aus dem Zimmer. „In einem Moment scheint sie sich gefangen zu haben, wirkt optimistisch und scheint alles zu verarbeiten, und im nächsten Moment weint sie wieder und wirkt so verzweifelt und zerbrechlich“, meint Michael erschöpft. Langsam geht ihm die ständige Anspannung und Sorge um Alex an die Substanz. Traurig schaut Branco ihn an: „Ich weiß, ich mache mir doch auch solche Sorgen. Und ich glaube, diese Schwankungen sind ganz normal. Aber wenn ich Dich so ansehe, dann fange ich an, mir auch um Dich Gedanken zu machen. Dir wächst das alles über den Kopf, oder? Es tut mir leid, daß ich Dich nicht mehr unterstützen kann, aber für mich auch noch Urlaub zu bekommen wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.“ „Ach Quatsch, Du tust doch, was Du kannst. Mehr geht doch gar nicht: Tagsüber hältst Du die Stellung im Kommissariat, und abends kommst Du her – Du hast doch selber gar keine Zeit mehr für andere Dinge.“ Branco winkt ab: „Aber auf Arbeit komme ich doch auf andere Gedanken und habe nicht diese Anspannung, der Du ja hier doch ausgesetzt bist. Weißt Du was? Morgen Abend komme ich ja wieder her, und Du nimmst Dir eine Auszeit, gehst was trinken oder worauf Du Lust hast. Ich bleibe hier bei Alex, und Du kommst mal auf andere Gedanken.“ Dankbar schaut Michael Branco an. So viel Einfühlungsvermögen hätte er gar nicht erwartet. „Das würdest Du wirklich machen? Dankeschön! Das wäre echt super! Ich komme mir ganz schäbig vor, wo Alex so viel durchmacht, aber ich habe einfach das Gefühl, mir fällt die Decke auf den Kopf.“ „Niemand kann rund um die Uhr für andere da sein, jeder braucht mal Zeit für sich, das ist so! Und morgen nimmst Du Dir Deine Auszeit, abgemacht.“ Bei diesen Worten ist Branco aufgestanden und legt Michael die Hand auf die Schulter. „Geh jetzt schlafen, Du brauchst auch etwas Ruhe, und ich auch, ich fahre jetzt heim.“ Michael stimmt dem zu. Branco nimmt seine Autoschlüssel und verschwindet. Und Michael geht sofort ins Bett. Er schaut auf die schlafende Alex und sieht, daß sie schon wieder ganz naß geschwitzt ist. Kurz überlegt er, ob er sie wecken soll, damit sie sich etwas trockenes anzieht. Aber er verwirft den Gedanken wieder, zu groß sind die Befürchtungen, daß sie nicht wieder einschlafen würde. „Wir schaffen das schon, Alex!“, flüstert er ihr zu, und will damit eigentlich mehr sich selbst Mut machen. Dann dreht er sich um, und schläft ein.
So richtig zur Ruhe kommt Michael aber in dieser Nacht nicht. Er schläft sehr unruhig, wacht immer wieder auf, schreckt hoch. Als es draußen langsam hell wird hat er das Gefühl, nicht mal eine Stunde geschlafen zu haben. Etwas später wacht Alex auf. Obwohl Michael rasende Kopfschmerzen hat, reißt er sich zusammen und ist sofort wieder für Alex da. Er zwingt sich zu einem Lächeln: „Hey Alex, wie hast Du geschlafen?“ „Ganz gut, danke“, beantwortet sie seine Frage. „Du bist aber wieder völlig naß geschwitzt. Hast Du wieder Fieber?“ Michael legt seine Hand auf Alex Stirn und erschrickt, denn Alex fühlt sich ganz heiß an. „Das war gestern vielleicht doch ein bißchen viel für Dich. Zuerst suche ich Dir mal was trockenes zum Anziehen raus. Und dann rufe ich den Arzt an.“
Nur 10 Minuten später telefoniert Michael bereits. „Meine Kollegin hat wieder Fieber bekommen.“ „Das habe ich fast befürchtet, als ich sie zu der Beerdigung habe gehen lassen“, erwidert der Arzt. „Frau Rietz soll möglichst viel trinken, und sie muß auf jeden Fall im Bett bleiben. Und dann versuchen Sie es ruhig mal mit den herkömmlichen Hausmitteln, also mit Wadenwickeln. Wenn das Fieber deutlich über 39°C steigt, oder wenn der Kreislauf Ihrer Kollegin Probleme macht melden Sie sich bitte noch mal, dann komme ich wieder vorbei.“ Damit wird das Telefonat beendet.
Michael sucht aus seinem Medizinschränkchen das Fieberthermometer raus und geht damit zu Alex. „Ich habe mit dem Arzt telefoniert, und ich muß jetzt wissen, wie hoch Dein Fieber ist.“
Er geht schnell wieder ins Bad und nimmt selbst erst einmal eine Paracetamol gegen seine Kopfschmerzen. Alex soll nicht mitbekommen, daß es ihm nicht gut geht. Als er wieder ins Schlafzimmer kommt, schaut er Alex nur fragend an. „39,1°C“, beantwortet ihm Alex seine unausgesprochene Frage. „Dann kommt jetzt die ganz althergebrachte Methode, ich mache Dir Wadenwickel. Das hat auch der Arzt gesagt. Außerdem sollst Du viel trinken.“ Alex verzieht nur das Gesicht: „Das ist jetzt nicht Dein Ernst, oder? Wadenwickel wurden mir das letzte Mal gemacht, da war ich noch ein Kind!“ Doch in dem Fall ist Michael erbarmungslos. „Es nützt nichts, Alex. Was sein muß, das muß sein.“ Alex seufzt Schicksalsergeben. Sie merkt daß Michael an dieser Stelle wohl nicht mit sich diskutieren läßt. Doch auch Michael kommt sich etwas komisch vor, als er mit den feuchten Tüchern vor Alex steht. „Brrr ist das kalt“, schimpft Alex. „Das ist ja der Sinn der Sache, Alex“ belehrt Michael sie augenzwinkernd.
Nachdem Michael Alex die Wadenwickel gemacht hat, und sie beide eine Kleinigkeit gefrühstückt haben, schläft Alex, vom Fieber geschwächt, wieder ein. Michael ist darüber eigentlich ganz froh. Er setzt sich auf sein Sofa im Wohnzimmer und will auch gerade die Augen zumachen, als das Telefon klingelt. Es ist Branco „Hallo Michael, alles klar bei Euch?“ , erkundigt er sich. „Na ja, nicht wirklich. Alex hat wieder Fieber bekommen. Ich habe mit dem Arzt gesprochen, und er meinte, daß wir es mit Wadenwickeln versuchen sollen. Und wenn das Fieber nicht sinkt, dann sollen wir noch mal anrufen, dann kommt er wieder vorbei. Jetzt ist Alex gerade noch mal eingeschlafen“, gibt Michael Bericht. „Die Arme! Aber Schlaf ist ja bekanntlich die beste Medizin. Und was ist mit Dir? Wie geht’s Dir heute morgen? Du klingst so niedergeschlagen.“ Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit bewundert Michael Brancos Einfühlungsvermögen. „Ich hab’ nur schlecht geschlafen, oder um genauer zu sein so gut wie gar nicht. Und jetzt habe ich rasende Kopfschmerzen. Ich hab’ zwar vorhin schon ’ne Tablette genommen, aber das hat auch nicht geholfen.“ Als Branco das hört, fühlt er sich so hilflos. Er sollte jetzt bei Michael sein, und ihn und Alex unterstützen. Und was macht er stattdessen? Er sitzt hier im Büro und tippt Berichte! „Oh je, das klingt aber auch nicht gut. Vielleicht solltest Du Dich auch noch mal hinlegen, wenn Alex jetzt schläft. Ich versuche den Kram hier im Büro so schnell wie möglich abzuarbeiten, damit ich heute nicht wieder so spät komme.“ „Okay, danke, dann bis später!“, verabschiedet sich Michael.
Er ist gerade dabei einzudösen, als Alex ihn ruft. „Michael!“ Seufzend steht er von seinem Sofa auf, atmet einmal tief durch, und versucht eine fröhliche Miene aufzusetzen. „Hey Alex, gut geschlafen? Was kann ich für Dich tun?“ „Kannst Du mir bitte noch einen Tee machen? Ich habe so einen Durst.“ „Na klar, Du sollst ja auch viel trinken!“ Er geht in die Küche und kocht den Tee auf. „Wenn ich doch nur nicht solche Kopfschmerzen hätte, die machen mich heute echt wahnsinnig“, denkt er sich. Und weil er ja der Meinung ist, daß Alex nichts davon mitbekommen soll, daß das einfach nicht sein Tag ist, muß er sich wirklich zusammenreißen, als er wieder zu Alex ins Schlafzimmer geht. „Setz Dich doch zu mir“, bittet sie ihn. „War klar, gestern sagt sie nicht pieps, und heute will sie natürlich reden. Und ich will mich eigentlich nur hinlegen und die Augen zumachen.“, denkt sich Michael. Doch bereits eine Zehntelsekunde später schämt er sich schon für seine Gedanken. Denn eigentlich sollte er doch froh sein, daß Alex ihre Gedanken nicht in sich hineinfrißt, sondern darüber sprechen möchte, was sie beschäftigt. „Wenn Branco doch nur schon hier wäre!“, wünscht er sich. „Ich habe solch eine Angst vor der Zukunft, Michael. Wie soll das nur alles weiter gehen? Selbst wenn ich erst einmal bei Dir wohnen bleiben kann, es gibt doch so viel zu besorgen. Wenn ich allein daran denke, daß ich jetzt mehr oder weniger auf einen Schlag meine gesamte Garderobe neu kaufen muß! Und nach und nach muß ich mir ja auch wieder meinen eigenen Haushalt aufbauen! Ich mag gar nicht darüber nachdenken wie teuer das wird! Ein paar Rücklagen habe ich zwar, aber allzu weit werde ich damit nicht kommen. Und dann muß mein Auto demnächst auch noch zur Durchsicht und zum TÜV. Neue Reifen brauche ich auch – allein das kostet doch schon ein kleines Vermögen. Ich weiß doch schon, daß wieder einiges am Wagen gemacht werden muß! Und daß jetzt die neuen Schlösser eingesetzt worden sind muß ich ja auch noch bezahlen. Dann sind da noch die Raten für meine Küche, die zahle ich doch auch immer noch ab, auch wenn ich von der Küche ja nun nichts mehr habe. Ich weiß einfach nicht, wie ich das alles schaffen soll.“ Sie vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen. Michael nimmt sie in den Arm. „Deshalb mußt Du doch nicht verzweifeln. Wir erstellen zuerst mal eine Liste, was Du wirklich dringend brauchst, und was Zeit hat und Du nach und nach kaufen kannst. Und dann schauen wir, wie weit Du mit Deinen finanziellen Möglichkeiten da kommst. Ich kann Dir auch noch etwas Geld leihen, z.B. für die Instandsetzung Deines Autos. Mach Dir doch ums Geld keine Sorgen! Das wichtigste ist doch, daß Du schnell wieder gesund wirst, und dann sehen wir weiter. Du hast doch unsere Unterstützung!“ Mit Tränen in den Augen schaut Alex Michael an: „Ihr macht doch schon so viel für mich, das kann ich doch nie wieder gut machen! Ich weiß nicht, was ich ohne Euch tun würde!“ „Ist doch Ehrensache“, erwidert Michael. Sie bleiben noch etwas so sitzen, und nach einer Weile ist Alex in Michaels Armen eingeschlafen.
Vorsichtig, damit sie nicht aufwacht, befreit sich Michael von Alex, legt sie hin und deckt sie zu. Dann geht er wieder ins Wohnzimmer, läßt sich auf die Couch fallen, und will endlich auch gerade eindösen, als ihm auf einmal ein Gedanke kommt. Sofort greift er sich das Telefon und wählt Branco an. Langsam sollte er eine Standleitung zu seinem Kollegen einrichten, so oft wie sie am Tag miteinander telefonieren. Nach nur einem Klingeln meldet sich Branco. „Hallo Michael, was gibt’s?“ „Du, mir ist gerade eingefallen, das wir noch überlegen müssen, wie das Ganze nächste Woche weitergeht. Ich meine, es ist Freitag, und mein Urlaub ist ja heute eigentlich zu Ende. Aber wir können Alex in der nächsten Woche noch nicht den ganzen Tag alleine lassen, so weit ist sie noch nicht.“ Auch Branco hatte da bis jetzt noch gar nicht drüber nachgedacht: „Gut, daß Dir das noch eingefallen ist. Wie machen wir denn das? Hmmm, paß auf, soll ich versuchen, ob wir nächste Woche tauschen können? Also Du arbeitest und ich kümmere mich um Alex? Vielleicht bekomme ich das eher durch als noch eine zweite Woche Urlaub für Dich!“ Michael denkt kurz nach: „Würdest Du das echt machen, Deine kostbaren Urlaubstage für Alex opfern?“ „Hallo, was machst Du denn gerade, doch auch nichts anderes. Alex ist unsere Freundin, da ist es doch logisch daß wir alles tun, was in unserer Macht steht um ihr zu helfen“, erwidert Branco. „Ja Du hast Recht. Also ich finde die Idee gut. Ich drücke die Daumen, daß es so klappt.“ „Mach Dir keine Gedanken, ich setze unsere Urlaubsvorstellungen schon durch“, läßt Branco optimistisch verlauten. Dann beenden sie das Gespräch.
Michael startet einen neuen Versuch, ein Nickerchen zu machen. Doch kaum ist er etwas eingedöst wird er schon wieder geweckt – das Telefon klingelt. „Entschuldigen Sie die Störung Herr Naseband, hier ist Rietz, der Vater von Alexandra. Ist meine Tochter zu sprechen?“ „Hallo Herr Rietz, das tut mir leid, aber Alex schläft gerade etwas. Soll sie Sie zurückrufen, wenn sie wieder wach ist?“, fragt Michael. „Nein, nein. Ich wollte nur kurz hören wie es ihr geht. Sie klang am Telefon gestern so deprimiert, so kenne ich sie gar nicht. Und wieso schläft sie überhaupt um diese Zeit, mitten am Tag? Verheimlicht sie uns etwas?“ Michaels Gedanken drehen sich. Er weiß, daß Alex ihre Eltern nicht beunruhigen möchte, aber der Vater spürt ja, daß eben nicht alles so in Ordnung ist, wie seine Tochter tut. Also beschließt er, schonend die Wahrheit zu sagen. „Die Beerdigung gestern hat sie etwas mitgenommen. Und jetzt hat sie über Nacht wieder Fieber bekommen, deshalb schläft sie jetzt.“ „Was heißt wieder bekommen? War sie in den letzten Tagen schon krank?“ Michael könnte sich ohrfeigen. Warum mußte ihm diese blöde Formulierung so rausrutschen. „Ja, sie hatte in den letzten Tagen schon etwas Fieber. Das ist halt alles ein bißchen viel für sie momentan, und da hat sich ihr Körper gewehrt. Ist aber alles halb so schlimm, mein Kollege und ich, wir kümmern uns um Alex. Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen.“ Michael hofft, damit alles wieder halbwegs hingebogen zu haben. „Aber warum hat sie uns das denn nicht gesagt?“, wundert sich der Vater. „Ich glaube, sie wollte Sie nicht belasten. Und Sie kennen Alex doch viel besser als ich – sie versucht doch immer möglichst alles mit sich selbst auszumachen.“ Damit ist es Michael nun endgültig gelungen, Herrn Rietz zu beruhigen: „Da haben Sie Recht. Dann bedanke ich mich bei Ihnen, daß Sie mir gesagt haben, was mit Alexandra los ist. Richten Sie ihr doch bitte viele Grüße und gute Besserung aus.“ „Mach ich auf jeden Fall! Auf Wiederhören!“
Kaum hat er das Telefon aufgelegt piepst sein Handy. „Was will heute eigentlich jeder von mir?“, schimpft er leise vor sich hin. Es ist eine SMS von Branco: „Hallo Michael! Habe das mit dem Urlaub so hinbekommen wie besprochen. LG, Branco“ Na das war doch wenigstens mal ’ne gute Nachricht.
Inzwischen ist auch Alex wieder aufgewacht. „Hey, gut geschlafen? Wie geht es Dir?“ „Na ja, geht so, fühle mich ganz schön schlapp. Außerdem ist mir irre heiß!“, antwortet Alex. Als Michael ihre Stirn fühlt ist ihm auch klar warum. „Miß doch bitte noch mal Fieber. Ich glaube, wir sollten noch mal Wadenwickel machen, die haben doch vorhin ganz gut geholfen.“
Und so bekommt Alex noch einmal die kalten Tücher zu spüren, da sie noch immer 39°C Fieber hat. „Ich weiß, es ist eigentlich nebensächlich“ beginnt Alex wieder das Gespräch, „aber ich hätte so gerne ein Foto von Tanja und Theresa. Doch die sind ja leider alle verbrannt.“ Traurig dreht sie ihr Gesicht zur Seite, denn bei der Erinnerung an den Brand füllen sich ihre Augen mit Tränen. „Ich bin mir ganz sicher, daß wir ein Foto von den beiden organisieren können. Bestimmt haben die Großeltern doch Fotos der beiden. Und wenn Du die fragst, kannst Du da bestimmt ein paar Abzüge von machen.“ Michael spürt, daß Alex gerade sehr stark an Tanja und Theresa denkt. „Wie lange kennst Du Tanja und Karsten eigentlich schon?“ Alex überlegt kurz. „Gut zwei Jahre, also seit ich in das Haus gezogen bin. Tanja war hochschwanger mit Theresa. Zuerst kannte ich sie ja nur vom Sehen, aber dann habe ich Tanja irgendwann mal auf dem Heimweg von der Arbeit getroffen und mit dem Auto mitgenommen. Tja, und dann kamen wir ins Gespräch und haben uns sofort super verstanden. Sogar zum Babysachen kaufen hat sie mich mitgenommen.“ Bei der Erinnerung daran verzieht Alex das Gesicht fast zu einem Lächeln. „Als bei Tanja dann die Wehen einsetzten war ich es, die sie und Karsten ins Krankenhaus gefahren hat. Karsten hatte bei ihnen am Auto das Licht brennen lassen, und so war im entscheidenden Moment die Batterie runter. Und da bin ich dann sozusagen als ‚Taxifahrerin’ eingesprungen. Es war dann auch schon höchste Zeit, wir haben es gerade noch in die Klinik geschafft, bevor Theresa kam.“ Alex schluckt kurz. „Die beiden waren so dankbar, daß ich ihnen geholfen habe, und wir haben uns ja auch wie gesagt da schon super verstanden, und sie fanden, daß ich ein Vorbild für die Kleine werden sollte – also, naja, mit vollem Namen hieß sie dann Theresa Alexandra Sommer.“ Michael weiß nicht, wie er jetzt richtig reagieren soll. Er nimmt Alex einfach in den Arm und drückt sie an sich.
Nachdem Alex Michael noch etwas über Theresa erzählt hat wird sie wieder müde. „Schlaf noch etwas, dann kommst Du schnell wieder auf die Beine“, redet Michael ihr zu. Und wirklich Alex schläft noch einmal ein.
Auch Michael legt sich im Wohnzimmer noch etwas hin. Seine Kopfschmerzen werden immer schlimmer anstatt besser, und er ist todmüde. Er macht den Fernseher an, um sich etwas abzulenken, aber nach kurzer Zeit ist auch er eingeschlafen.
Als Branco eine Stunde später die Wohnung betritt (inzwischen hatte er einen Schlüssel von Michael bekommen) bietet sich ihm ein ruhiges Bild: Michael liegt im Wohnzimmer und schläft vor dem laufenden Fernseher, und Alex schläft einen Raum weiter. Zuerst stellt Branco den Fernseher aus, dann holt er leise aus dem Schlafzimmer eine Decke, und deckt Michael zu. „Er sieht wirklich ziemlich fertig aus“, denkt Branco sich dabei. Er setzt sich auf einen Sessel im Wohnzimmer und kommt dadurch, daß die beiden anderen schlafen, zum ersten Mal seit Michael und er sich um Alex kümmern wirklich zur Ruhe. Die letzten Tage bestanden ja wirklich nur daraus, daß er morgens aufstand, zur Arbeit fuhr, versuchte die Arbeit so schnell wie möglich zu erledigen, dann zu Michael und Alex fuhr, sich hier um Alex kümmerte, heimfuhr und dort todmüde ins Bett fiel. Er hatte gar keine Zeit über alles nachzudenken, die Situation wirklich an sich heran zulassen. Erst jetzt, in dem Moment wo die Anspannung das erste Mal seit Tagen wieder etwas von ihm abfällt spürt er, wie erschöpft auch er ist. Zum Glück hat er nicht auch noch Wochenenddienst. Vielleicht sollte er sich am Wochenende etwas mit Michael abwechseln. Er könnte sich ja am Samstag mehr um Alex kümmern, und Michael mehr am Sonntag. Somit hätten sie beide einen Tag, an dem sie sich selbst auch etwas erholen könnten. Und wenn er so auf den schlafenden Michael schaut, hat der eine freien Tag wirklich dringend nötig. Über all diese Gedanken fallen auch Branco fast die Augen zu. Doch bevor er wirklich einschläft hört er, daß Alex aufgewacht ist. Schnell steht er auf und geht ins Schlafzimmer. Nicht daß Alex noch nach Michael ruft und ihn aufweckt, der soll mal noch ein bißchen schlafen. Alex ist ganz erstaunt, als Branco das Zimmer betritt: „Hallo! Ich habe Dich gar nicht kommen hören. Und es war auch so leise, sonst höre ich Euch beide doch immer erzählen, wenn Ihr nebenan seid“, wundert sie sich. „Ich bin schon ungefähr ’ne halbe Stunde da. Und da hast Du noch geschlafen, deshalb hast Du die Tür nicht gehört. Aber Du warst nicht die einzige die geschlafen hat – nebenan liegt Michael auf dem Sofa. Offensichtlich war das Fernsehprogramm nicht sehr spannend“, versucht Branco die Stimmung etwas aufzulockern. „Kann ich irgendwas für Dich tun? Brauchst Du was?“ fragt er Alex. „Ja, kannst Du mir bitte noch einen Tee machen? Ich habe so schrecklichen Durst. Und wenn Du Dich dann einfach zu mir setzt. Es bedeutet mir viel, daß Michael und Du sich so um mich kümmern. Denn ganz ehrlich – im Augenblick mag ich einfach nicht alleine sein!“ Branco streicht ihr über die Wange: „Das mußt Du doch auch nicht, wir sind doch für Dich da.“ Dann steht er auf, geht in die Küche und will den Tee kochen. Doch tollpatschig wie Branco nun mal ist, schmeißt er als erstes die Teekanne runter, die in Dutzende Scherben zerspringt. Von dem Lärm ist auch Michael aufgewacht. Noch ganz verschlafen schaut er in die Gegend, weil er die Geräusche erst gar nicht einordnen kann. „Alex, bist Du das?“, fragt er. Schon erscheint Brancos Kopf in der Wohnzimmertür. „Es tut mir leid, ich wollte Dich nicht aufwecken.“ Dann schaut er Michael mit großen um Verzeihung bittenden Augen an: „Ich hoffe, Du hast nicht zu sehr an Deiner Teekanne gehangen.“ Michael verdreht die Augen: „Oh Branco, Dich kann man wirklich nicht 10 Minuten alleine werkeln lassen, ohne daß Du Schaden anrichtest. Na ja, Scherben sollen ja Glück bringen.“ Michael richtet sich auf seinem Sofa aus. „Wie geht’s Dir denn?“, fragt ihn Branco. Erschrocken schaut Michael ihn an und deutet mit seinem Blick in Richtung Schlafzimmer. Doch Alex hat die Frage nicht mitbekommen. „Ich hab’ halt immer noch rasende Kopfschmerzen, aber es geht schon“, flüstert er Branco zu. „Laß uns gleich noch mal sprechen, ich bringe nur Alex schnell den Tee.“ Auch wenn Branco es überhaupt nicht nachvollziehen kann, daß Michael vor Alex so eine Geheimnistuerei macht akzeptiert er es. Er geht ins Schlafzimmer. „So Alex, hier ist Dein Tee. Ich komme gleich wieder zu Dir, ich muß nur in der Küche noch schnell die Schäden beseitigen.“ Mit diesen Worten verzieht er sich wieder aus dem Zimmer. „Wie machen wir das denn heute Abend?“, fragt er Michael. „Ich hatte Dir ja einen freien Abend versprochen, aber ich denke mal so wie Du aussiehst magst Du heute nur noch ausruhen und schlafen, oder?“ Michael nickt. „Ehrlich gesagt: Ja.“ Branco überlegt kurz: „Hmmm, hier kommst Du ja aber doch nicht zur Ruhe. Was hältst Du davon, wenn wir heute Nacht Wohnungen tauschen? Du fährst zu mir, und ich bleibe über Nacht hier. Dann kannst Du morgen so lange schlafen wie Du willst, mußt Dich um niemanden kümmern, kannst einfach nur entspannen. Das brauchst Du jetzt. Und irgendwann im Laufe des Nachmittags oder am Abend kommst Du wieder her. Und am Sonntag nehme ich mir dann eine kleine Auszeit. Ich habe gemerkt, daß ich auch mal etwas abschalten muß. Okay?“ Michael schwankt etwas: Einerseits findet er die Idee ganz gut – und obwohl er ja gerade erst etwas geschlafen hat sehnt er sich im Augenblick nach nichts mehr als nach einem Bett. Und Branco hat auch Recht, hier kann er doch nicht abschalten. Aber irgendwie ist es ihm auch unangenehm, daß Branco jetzt auch noch so um ihn besorgt ist. Branco, der Michaels Zweifel merkt, spricht ihn an: „Los, jetzt gib Dir einen Ruck!“ Da willigt Michael dann ein. „Dann fahre ich schnell zu mir und hole ein paar Sachen für die Nacht, und dann bin ich gleich wieder da und Du fährst in meine Wohnung okay?“, bespricht Branco die weitere Vorgehensweise mit Michael. „Okay, dann bis gleich“, verabschiedet Michael ihn.
Michael geht ins Schlafzimmer, um auch für sich seine Schlafsachen zusammenzupacken. „Wo ist Branco?“, fragt Alex ihn sofort, als er alleine das Zimmer betritt. „Branco ist kurz heim gefahren, kommt aber gleich wieder.“ Er setzt sich zu Alex aufs Bett. „Wir haben uns gerade darauf geeinigt, daß Branco heute Nacht hier bleibt, und ich bei Branco übernachte.“ Ganz erstaunt schaut Alex ihn an: „Aber wieso das denn?“ Michael druckst ein bißchen rum. Er überlegt, ob er Alex sagen soll, daß er etwas Zeit für sich braucht, und er setzt schon fast an, es zu sagen, da entscheidet er sich noch einmal um: „Ein Bekannter von mir hat morgen Geburtstag und er feiert rein. Und ich habe ihm halt schon vor Ewigkeiten zugesagt, daß ich komme. Damit ich Dich dann heute Nacht nicht wecke, wenn ich irgendwann nach Hause komme, haben Branco und ich beschlossen für heute Nacht die Wohnungen zu tauschen.“ Die Ausrede klang doch eigentlich plausibel. „Da hast Du Recht, da kannst Du auch morgen so lange schlafen wie Du willst, ohne daß Du gestört wirst. Das ist wirklich eine gute Idee! Dann wünsche ich Dir viel Spaß heute!“ Alex hat die Ausrede geschluckt.
Kurze Zeit später ist Branco auch schon wieder da, und Michael verabschiedet sich. „Paß gut auf Alex auf!“ ermahnt er Branco. „Und wenn was ist, dann ruf mich an!“ „Den Teufel werde ich tun, Dich anzurufen“, denkt Branco sich. „Du sollst Dich doch ausschlafen und etwas ausspannen.“ Doch laut sagt er: „Na klar, mache ich! Dann bis morgen.“
Michaels Kopfschmerzen sind so heftig, daß sich nur kurz in Brancos Wohnung umschaut, bevor er sich hinlegt. Die Wohnung ist nicht allzu groß und wird von einer neuen Musikanlage dominiert. Überall liegen CDs verstreut im Zimmer. Ansonsten handelt es sich um eine typische Junggesellenwohnung – IKEA läßt grüßen. Doch Michael hat dafür kein Auge – er will nur daß seine Kopfschmerzen endlich besser werden, und so liegt er schon um kurz nach 20:00 Uhr in Brancos Bett und ist eingeschlafen.
Währenddessen hat Branco für sich und Alex etwas zu essen gemacht. Zwar hat Alex nicht wirklich Hunger, was ja auch ganz normal ist, wenn man krank ist, aber ein bißchen ißt sie doch. Danach sitzen die beiden zusammen, bzw. Branco sitzt auf dem Bett, und Alex liegt in seinen Armen. Sie denkt wieder nur an Tanja und Theresa, und da tut es ihr gut, Nähe zu spüren. Branco merkt, daß Alex wieder ins Grübeln verfällt und möchte sie gerne ablenken. „Was hältst Du davon, wenn wir uns einen netten Film anschauen – also ich hätte da echt Lust drauf!“, schlägt Branco vor. Eigentlich ist Alex gar nicht danach, aber da Branco so begeistert ist von der Idee, will sie es ihm nicht abschlagen. „Na dann laß uns mal Michaels Video- und DVD-Sammlung durchforsten“, geht sie auf seinen Vorschlag ein. Zusammen gehen sie ins Wohnzimmer. „Also mir wäre ja nach was lustigem“, meint Branco. „Wie wär’s denn mit ‚Der Schuh des Manitu’?“ Alex ist es eigentlich egal, also stimmt sie zu. Die beiden machen es sich auf Michaels großer Couch bequem. Alex liegt zugedeckt da, mit dem Kopf auf Brancos Schoß. Und wirklich scheint Branco mit seiner Taktik Recht zu behalten, nach einiger Zeit sieht man an einer besonders witzigen Szene tatsächlich ein Lächeln über das Gesicht von Alex huschen.
Nachdem der Film zu Ende ist lassen sie einfach noch den Fernseher ein bißchen an. Doch irgendwann schlafen beide vor dem Fernseher ein. Als Alex wieder aufwacht haben gerade die Spätnachrichten begonnen. Da Branco ja auch schläft traut Alex sich nicht aufzustehen, sie will ihn nicht wecken, wenn sie sich bewegt. Also schaut sie sich die Nachrichten an. Zuerst geht es um die Russland-Reise von Bundeskanzlerin Merkel, und danach um eine Prominenten-Hochzeit. Doch dann folgt ein Beitrag, der Alex das Blut in den Adern gefrieren läßt: Es wird von einem Hausbrand in Leipzig berichtet. Bilder des brennenden Hauses sind zu sehen, und Menschen, die gerade noch aus den Flammen gerettet werden konnten. Die Bilder rufen bei Alex sofort die schrecklichen Erinnerungen auf den Plan. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie beginnt am ganzen Körper zu zittern. „Nein“, flüstert sie leise, und dann wird sie immer lauter: „Nein – nein – NEIN!“ Inzwischen schreit sie fast. Davon wacht dann auch Branco auf. Er braucht einen Moment um sich zu orientieren, doch dann fällt sein Blick auf den Fernseher, wo gerade ein Feuerwehrmann den Brand schildert, und sofort ist ihm alles klar. Schnell macht er den Fernseher aus, und dann nimmt er Alex fest in den Arm. Sie weint und schluchzt, kann sich gar nicht wieder beruhigen. „Komm, ich bring’ Dich wieder ins Bett“, spricht Branco auf sie ein. Doch Alex reagiert gar nicht. Er nimmt sie hoch und trägt sie ins Schlafzimmer. Alex ist so in ihrer Erinnerung und ihren Schmerz gefangen, daß sie das gar nicht mitzubekommen scheint. So liegt sie nun im Bett und weint und weint. Dabei zittert sie noch immer so sehr, daß Branco sich große Sorgen macht. Er fühlt sich hilflos, weiß nicht was er machen soll. Also kniet er sich vor das Bett, so daß er Alex direkt in die Augen schauen kann und streicht ihr über das Haar und die Wangen. Nach einer endlos scheinenden Zeit beruhigt sie sich endlich etwas. „Versuch zu schlafen, alles wird gut“, spricht Branco leise auf sie ein. „Möchtest Du, daß ich hier bei Dir schlafe? Sonst bin ich im Wohnzimmer auf dem Sofa“ fragt er. Mit ihren rot geweinten Augen schaut Alex ihn an: „Bitte bleib hier bei mir. Ich habe solche Angst alleine, daß wieder etwas passiert.“ Branco nimmt Alex in den Arm: „Du brauchst keine Angst haben, Du bist hier sicher, ich passe auf Dich auf.“ Doch Alex widerspricht ihm: „Das habe ich in meiner Wohnung auch immer gedacht, daß ich zu Hause sicher bin – aber das ist eine Lüge, man ist nirgends wirklich sicher!“ Dann bricht sie wieder in Tränen aus.
Darüber hat Branco noch gar nicht nachgedacht: Na klar, bei sich zu Hause fühlt man sich doch eigentlich wirklich immer am sichersten und geborgen. Doch was muß man durchmachen, wenn man auf einmal so schmerzlich erfährt, daß dieses Gefühl trügerisch ist, daß man wirklich nirgends sicher ist, nicht einmal daheim! Er setzt sich auf das Bett und hält Alex weiter in den Armen. Nach einer Weile merkt er, daß Alex eingeschlafen ist, sie hat sich in den Schlaf geweint. Vorsichtig löst er sich von ihr, geht schnell ins Bad und legt sich dann auch ins Bett. Trotz all der Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen schläft er vor lauter Erschöpfung schnell ein.
Alex schläft in dieser Nacht sehr unruhig. Sie hat heftige Albträume, wacht immer wieder auf und dreht sich von einer Seite auf die andere. Branco schläft so fest, daß er davon gar nichts mitbekommt. Als er am Morgen aufwacht schaut Alex ihn mit müden Augen an. „Hey, guten Morgen! Hast Du gut geschlafen?“, fragt er sie. Sie schüttelt nur den Kopf: „Ich hatte Albträume, bin immer wieder aufgewacht.“ „Ach Alex, wenn ich Dir doch nur irgendwie helfen könnte“, seufzt Branco. „Du und Michael, Ihr helft mir doch schon soviel, das ist mehr als ich erwarten kann.“ Branco erwidert nichts, er küßt Alex nur auf die Wange bevor er aufsteht.
Dann macht er Frühstück. Eigentlich hat Alex ja gar keinen Hunger, da sie immer noch krank ist, aber eine Kleinigkeit ißt sie doch. Dabei sucht sie das Gespräch mit Branco: „Ich muß immer wieder darüber nachdenken, wer das wohl getan haben könnte, wer hat das Haus angezündet und Menschenleben zerstört. Und ich habe nicht wirklich das Gefühl, daß die Kollegen schon eine heiße Spur haben.“ Sie hält kurz inne. „Glaubst Du auch, daß ich der Schlüssel zu dem Fall bin? Ich meine, dann wäre ich Schuld, daß Tanja und Theresa tot sind!“ Erschrocken schaut Branco auf: „Was ist das denn für ein Gedankengang? Selbst wenn es bei dem Brand eigentlich um Dich ging, was ja noch gar nicht erwiesen ist, dann kannst Du doch überhaupt nichts dafür. Alex, wie viele der Opfer, mit denen wir so täglich zu tun haben, können etwas dafür, daß sie Opfer geworden sind? Und Du bist hier das Opfer! Deine Existenz ist zerstört worden! Jetzt mach’ Dich nicht verrückt, die werden schon rausfinden, wer hinter der ganzen Sache steckt!“ Brancos Stimme, die eben sehr energisch war wird wieder ruhiger. „Du hast ja Recht! Trotzdem...“ „Nichts trotzdem“, unterbricht Branco Alex, „ich habe Recht! Punkt!“ Dabei zwinkert er Alex zu. Doch ganz durch ist Alex mit dem Thema noch nicht. „Kannst Du Dir vorstellen, daß dieser Jochen Koslowski was mit der Geschichte zu tun hat?“, fragt sie Branco. „Möglich ist’s natürlich. Und ich bin mir sicher, daß wir das auch bald wissen, die Kollegen arbeiten mit Hochdruck an dem Fall. Das siehst Du doch schon daran, wie oft sie sich bei Dir melden und noch Rückfragen haben.“ Alex muß an ihr letztes Gespräch mit René Schulze denken, und sie spürt, wie sich langsam wieder Ärger in ihr aufbaut. „Ach die, die haben sich doch offensichtlich auf meine Familie eingeschossen, diese Saftnasen! Anstatt den Täter zu suchen, beschäftigen sie sich damit wo mein Cousin seinen Wagen während seines Australien-Urlaubs geparkt hat.“ Branco liegen so einige Gegenargumente auf der Zunge, doch er weiß, daß Alex diese nicht gelten lassen würde. Als sagt er lieber gar nichts. Zum Glück wird das Gespräch an dieser Stelle von der Hausklingel unterbrochen. Es ist der Paketdienst, der die vor ein paar Tagen beim Versandhaus bestellten Sachen für Alex liefert. „Das ging jetzt aber echt schnell“, bemerkt Branco. „Stimmt“, pflichtet ihm Alex bei. „Ich werde die nachher gleich mal anprobieren.“ Branco beäugt Alex von oben bis unten. „Was ist denn los?“, fragt sie irritiert, als sie seine Blicke bemerkt. „Mir ist nur gerade aufgefallen, daß Du wieder etwas munterer bist, als die letzten Tage. Und darüber freue ich mich. Hast Du denn noch Fieber?“ „Weiß nicht“, murmelt Alex in sich hinein. „Miß doch bitte noch mal Deine Temperatur, solange ich das Geschirr wegräume. Michael stellt sonst wer weiß was mit mir an, wenn rauskommt daß Du noch Fieber hast und ich Dich nicht richtig versorgt habe.“ Dabei zwinkert er Alex zu. Die gibt sich geschlagen.
„Und?“, fragt er, als er kurze Zeit später wieder das Schlafzimmer betritt. „Ich hab’ fast kein Fieber mehr, nur noch 38,1°C.“ „Das klingt doch super! Noch ein/zwei Tage Bettruhe, und Du bist wieder auf den Beinen!“ freut sich Branco.
Am frühen Nachmittag erscheint Michael wieder in der Wohnung. Branco sieht sofort, daß es Michael offensichtlich deutlich besser geht als am Vortag. Bevor Michael zu Alex ins Schlafzimmer geht nimmt Branco ihn kurz zur Seite: „Wie geht’s Dir?“, will er wissen. „Ich habe 13 Stunden am Stück geschlafen – das hat echt gut getan! Die Kopfschmerzen von gestern sind weg, und ich fühle mich wieder fit!“
„Wie war denn die Geburtstagsfeier?“, begrüßt Alex Michael. Branco schaut etwas irritiert und will schon nachfragen, wovon Alex denn jetzt spricht, als Michael ihm einen warnenden Blick zuwirft. „War nichts besonderes, aber ganz nett“, weicht Michael etwas aus. Da versteht auch Branco langsam, daß Michael hier gestern offensichtlich eine „Notlüge“ an den Mann, bzw. an die Frau gebracht hat. „Aber jetzt sag’ erst mal, wie geht es Dir denn heute?“, fragt Michael Alex. „Du siehst schon etwas besser aus, und Dein Fieber...“ er fühlt Alex’ Stirn, „...scheint auch nicht mehr so hoch zu sein.“ „Mir geht’s auch wirklich etwas besser“, antwortet Alex ihm. „Noch ein/zwei Tage Bettruhe, und Du bist wieder auf den Beinen!“ Alex muß grinsen: „Genau dasselbe hat Branco eben auch gesagt, bevor Du gekommen bist.“ „Da siehst Du mal, wie einig wir uns sind!“ erwidert Michael mit einem Zwinkern in Brancos Richtung. „Du kannst Dich auch gleich mal dran gewöhnen, daß Branco sich um Dich sorgt – ab Montag bin ich nämlich wieder im Büro, und Branco ist dann tagsüber hier.“ Alex Blick wandert von einem zum anderen: „Ihr opfert echt Euren Urlaub für mich?! Das ist so lieb!“ Beide Männer schauen ihre Kollegin mit liebevollen Blicken an: „Das ist doch kein Ding!“, meint Michael. „Wir können Dich doch nicht den ganzen Tag alleine lassen. Du hast selber gesagt, daß es Dir gut tut, uns um Dich zu haben“, ergänzt Branco. Und wieder einmal hat Alex feuchte Augen, doch diesmal sind es Tränen der Rührung. Wer hat schon so tolle Freunde wie sie?
Nach einer Weile schläft Alex ein. Da sie ja in der vergangenen Nacht so unruhig geschlafen hatte, fallen ihr jetzt die Augen zu. Leise verziehen sich Branco und Michael ins Wohnzimmer. „Wie ging es denn gestern Abend und heute Nacht?“, will Michael nun wissen. „Du traust mir nicht wirklich zu, daß ich mich auch um Alex kümmern kann, oder?“ Langsam wird Branco sauer. „Nein, nein, das nicht“, wiegelt Michael ab. „Ich will mir einfach nur ein Bild machen wie es ihr geht.“ Branco sieht ein, daß er gerade etwas überreagiert hat, aber langsam macht sich die Anspannung und der Streß der letzten Tage halt doch bemerkbar. Er erzählt Michael von dem Zwischenfall in der Nacht, wie Alex auf den Fernsehbericht reagiert hat: „Ich gebe ja zu, daß es blöd war, den Fernseher laufen zu lassen. Aber andererseits können wir ja auch nicht alles von Alex fernhalten.“ Michael nickt: „Ich mache Dir doch auch gar keinen Vorwurf, das hätte mir genauso passieren können. Und ich gebe Dir ja auch Recht. Wenn Alex körperlich wieder gesund ist, dann sollten wir mit ihr auch darüber reden, ob sie nicht professionelle Hilfe in Anspruch nehmen will. Alleine kann man solche Erlebnisse glaube ich gar nicht verarbeiten. Und v.a. ihre Angst vor Flammen muß sie irgendwie in den Griff bekommen, sonst kommt es auch bei der Arbeit zu Problemen.“ Branco gibt Michael Recht: „Da habe ich auch schon drüber nachgedacht. Aber das ist auch so ein Punkt, an dem ich Alex überhaupt nicht einschätzen kann. Entweder sie akzeptiert es relativ schnell, oder sie wehrt sich mit Händen und Füßen. Und irgendwie kann ich mir bei ihr beide Reaktionen vorstellen.“ „Tja“, schlussfolgert Michael, „in ein paar Tagen wissen wir mehr, wenn wir sie darauf angesprochen haben.“
Als Alex wieder aufwacht sind die beiden Männer mit den ersten Überlegungen beschäftigt, wie Michaels Arbeitszimmer umgestaltet werden soll. Auf ein Blatt Papier haben sie die Umrisse des Raumes gezeichnet, und nun denken sie darüber nach, welche Möbel noch gebraucht werden, welche raus müssen, und welche drinnen bleiben können. Sie setzen sich zu Alex aufs Bett und stecken die Köpfe zusammen. „Also ein Sofa steht ja eigentlich drin, aber zum Schlafen ist das etwas sehr klein. Wir sollten schauen, ob wir irgendwo ein richtiges Schlafsofa herbekommen“, meint Michael. „Der Schreibtisch kann auf jeden Fall im Zimmer bleiben. Soviel Platz brauche ich ja auch gar nicht“, wirft Alex ein. Ihre Stimme wird leiser: „Ich habe doch kaum noch was.“ Branco nimmt ihre Hand und drückt sie aufmunternd. „Dann würde ich auch vorschlagen, daß das Bücherregal erst mal stehen bleibt. Was halt noch dringend gebraucht wird ist ein Kleiderschrank“, meldet auch Branco sich zu Wort. Er überlegt kurz: „Ich habe bei mir im Keller auch noch meinen alten Fernseher stehen. Der ist zwar etwas klein, aber den kannst Du gerne erst mal haben, wenn Du magst.“ Michael lacht: „Ich seh’s schon kommen – wenn wir fertig sind wird Alex’ Zimmer wahrscheinlich das schönste der ganzen Wohnung!“ Diese Bemerkung läßt alle drei kurz auflachen. „Wenn Du wieder auf den Beinen bist, dann fahren wir nächste Woche mal in die verschiedenen Möbelmärkte und schauen nach einem Schlafsofa und einem Kleiderschrank“ beendet Branco das Thema. Mit einem Blick auf Michael spricht er weiter: „Und wir beide fangen morgen schon mal an, die Sachen die nicht gebraucht werden aus dem Zimmer auszuräumen.“
Kurze Zeit später verabschiedet Branco sich. Schließlich hatte er ja mit Michael ausgemacht, daß dies sein freier Abend wird. Und um wirklich auf andere Gedanken zu kommen hat er sich mit Michelle im Kino verabredet. „Morgen gegen Mittag komme ich wieder her, dann können wir uns auf das Zimmer stürzen“, verabschiedet er sich.
Alex und Michael schauen noch etwas fern, aber als Alex relativ früh einschläft nutzt auch Michael die Gelegenheit und geht früh ins Bett.
Den Sonntag lassen die beiden ganz ruhig angehen. Alex geht es immer besser. Sie hat kein Fieber mehr, dafür endlich wieder etwas Appetit. „Ich denke, ich kann Euch heute Nachmittag schon helfen, das Zimmer auszuräumen“, bietet sie Michael an. „Vergiß es, jetzt übertreib’ es nicht gleich. Ich freue mich total, daß Du Dich wieder besser fühlst, aber heute bleibst Du noch liegen! Morgen kannst Du dann wegen mir wieder aufstehen. Außerdem mußt Du ja morgen eh zum Arzt, dann sehen wir weiter“, bremst Michael sehr bestimmt ihren Tatendrang. Alex merkt, daß es an dieser Stelle wohl nichts bringt, sich auf eine Diskussion mit Michael einzulassen. Seufzend läßt sie sich in die Kissen fallen: „Na gut Chef, Du hast gewonnen!“ Michael strahlt Alex förmlich an, denn allein dieser Spruch zeigt ihm, daß Alex sich wirklich auf dem Weg der Besserung befindet – in jeder Hinsicht.
Branco freut sich, daß er endlich mal wieder ausschlafen kann. Der Abend mit Michelle war richtig nett. Erst waren sie im Kino, anschließend haben sie noch einen Cocktail getrunken, aber dann sind sie auch nicht allzu spät heimgefahren. Jetzt fallen die Sonnenstrahlen durch die Ritzen der Jalousie und tanzen durch den Raum. Es verspricht wirklich ein schöner Tag zu werden. Branco beschließt erst einmal joggen zu gehen. Da ist er in letzter Zeit gar nicht zu gekommen, und er merkt wie er das Laufen vermißt. Als er auf die Straße geht schlägt es ihm zwar kalt entgegen, aber das ist schließlich genau das richtige, um morgens in Schwung zu kommen.
Inzwischen langweilt Alex sich. Die letzten Tage fühlte sie sich so schlapp, daß es ihr gar nichts ausmachte, den ganzen Tag im Bett zu verbringen. Aber jetzt würde sie gerne irgendetwas sinnvolles machen – alleine schon um sich von den immer wiederkehrenden Gedanken an die Ereignisse der letzten Woche abzulenken. So fiebert sie dem Nachmittag entgegen, wenn Branco wieder da ist und die beiden Männer mit den Umräumarbeiten in ihrem neuen Reich beginnen wollen.
Als Branco mittags wieder bei Michael und Alex auftaucht ist er voller Tatendrang. Das Ausschlafen und das Joggen haben ihm gut getan, er fühlt sich fit und erholt. „Na dann wollen wir mal loslegen, Deinen Raum etwas zu entrümpeln!“ wirft er Michael entgegen. „Ich kann auch helfen“, startet Alex noch einmal einen Versuch. „Hatten wir das Thema nicht vorhin schon?“, wirft Michael ein. Alex wirft ihren beiden Kollegen einen bittenden Blick zu und klimpert frech mit den Wimpern. Branco und Michael müssen lachen. „Die Nummer zieht bei uns gar nicht, das solltest Du doch wissen. Aber Du kannst Dich auf die Couch im Arbeitszimmer legen, und uns mit Deinen launigen Kommentaren mental unterstützen“, schlägt Michael grinsend vor. Also bezieht Alex den Platz auf dem Sofa, und Branco und Michael stehen etwas hilflos im Raum, weil sie nicht so ganz genau wissen, wo sie anfangen sollen. „Irgendwie kann man das Gefühl bekommen, daß Du hier drin in letzter Zeit nicht wirklich viel gearbeitet hast, sondern nur Deine Sachen gestapelt hast“, bemerkt Alex mit einem Blick auf die Papierberge, die sich auf dem Schreibtisch türmen: „Das sieht ein bißchen aus wie Dein Schreibtisch im Büro.“ Verlegen kratzt sich Michael am Kopf. „Na ja, wenn ich halt von der Arbeit nach Hause komme fehlt mir irgendwie die Motivation, mich auch hier noch an den Schreibtisch zu setzen. Geht Euch das nicht auch so?“ Schuldbewußt schauen Alex und Branco nach oben. Die von Michael beschriebene Situation kennen beide nur zu gut. Michael muß grinsen, als er die betont unschuldigen Blicke seiner beiden Mitstreiter sieht. „Aha, hab’ ich’s mir doch gedacht“, lacht Michael. „Also los jetzt“, ergreift Branco die Initiative, „vom Quatschen erledigt sich der Kram nicht. Zusammen bekommen wir das schon hin. Wir machen jetzt mal mehrere Stapel aus dem Chaos hier: Einer mit den Sachen, wo Du noch irgendwas machen mußt, ein Stapel mit den Dingen die weg können, und einer mit allem, was nur noch abgeheftet werden muß.“ Erstaunt schauen Michael und Alex ihren Kollegen an. „Ich glaub’s nicht – ausgerechnet unser Chaos-King Branco fängt an, hier Strukturen rein zubringen!“, wundert sich Alex. „Schade daß er im Büro keinen Schreibtisch hat, der wäre bestimmt immer super aufgeräumt und leer“, zieht Michael Branco auf. Aber der geht da gar nicht drauf ein.
Zwei Stunden später hat sich der eine große Papierstapel in drei kleinere verwandelt, von denen der größte gleich mal von Michael runter in die Papiertonne gebracht wird. „Super Jungs – jetzt habt Ihr über drei Stunde geschuftet, und man sieht nicht wirklich, daß hier was gemacht worden ist“, zieht Alex ihre beiden Kollegen auf. „Nee ist klar Kollegin, bei Dir würden sich die Papiermassen nie stapeln“, kontert Michael gedankenverloren. Alex schaut Michael mit große Augen an, schnappt sich ihre Decke und verzieht sich ins Schlafzimmer. Michael könnte sich ohrfeigen. „Oh man, ich bin doch ein Rindvieh! Jetzt hatte sie gerade mal für einen Moment vergessen, daß sie alles verloren hat, du ich muß sie natürlich mit so einem bescheuerten Spruch drauf stoßen! Das darf doch echt nicht wahr sein!“, ärgert sich Michael über sich selbst. Branco versucht ihn zu beruhigen: „Okay, es war jetzt nicht gerade wirklich diplomatisch, aber so schlimm nun auch wieder nicht. Wir können schließlich nicht 24 Stunden am Tag darüber nachdenken, was wir sagen, und was Alex über welche Sätze denken könnte. Das geht einfach nicht. Mir lag eben schon ein ähnlicher Spruch auf der Zunge, Du warst nur schneller!“ Trotzdem ärgert sich Michael, über seinen Spruch.
Branco geht zu Alex ins Schlafzimmer. Sie liegt auf dem Bett und weint in die Kissen. Er setzt sich neben sie und streichelt ihr über den Rücken. „Michael macht sich Vorwürfe, der Spruch tut ihm leid.“ Alex sagt gar nichts, vergräbt sich nur immer mehr in die Kissen. Nach einer ganzen Weile schaut sie Branco mit rot geweinten Augen an: „Das muß er nicht. Er hat doch eigentlich gar nichts schlimmes gesagt. Es hat mir in dem Moment nur wieder so bewußt gemacht, daß ich alles verloren habe.“ Branco nimmt sie schweigend in den Arm und drückt sie fest an sich. Da betritt Michael den Raum. Mit geknicktem Gesichtsausdruck geht er auf Alex zu. Sie schaut ihn an, macht sich von Branco los und umarmt Michael: „Du hast nichts falsches gesagt, mach Dir da bitte keine Gedanken, ich muß halt erst noch lernen, mit der Situation umzugehen.“ Branco und Michael tauschen Blicke aus. Ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist? Sie beschließen es zu versuchen. „Da verstehen wir auch Alex!“, setzt Branco an, „es wird noch eine ganze Weile dauern, bis Du den Brand verarbeitet hast. Und der Weg dahin wird nicht leicht. Deshalb haben Michael und ich uns überlegt mit Dir darüber zu sprechen, ob Du Dir vorstellen kannst, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.“ Bevor Alex etwas erwidern kann schaltet sich Michael ein: „Du brauchst einfach mehr Hilfe, als Branco und ich Dir geben können. Und ich glaube einfach, daß es keinen Menschen gibt, der mit so einem Schicksalsschlag, so einem Schock wie Du ihn erlitten hast einfach so fertig werden würde.“ Gespannt warten die beiden Männer nun auf die Reaktion von Alex. Zweifelnd schaut sie die beiden an: „Meint Ihr wirklich? Ich weiß nicht, ich glaube ich packe das auch so. Ich habe doch schon so viel überstanden!“ „Das ist ja richtig, und dafür bewundern wir Dich auch ehrlich“, spricht Michael auf sie ein. „Aber diesmal ist es halt so wahnsinnig viel, das Du verarbeiten mußt. Denke doch nur mal an Deine Feuerphobie! Willst Du Dein ganzes Leben lang Angst haben, wenn irgendwo eine Kerze angezündet ist? Oder wie schnell kann wieder jemand einen Spruch bringen, der Dir sämtliche Erinnerungen vor Augen führt, so wie es gerade passiert ist! Bitte – tue es für Branco und für mich, denn wie gesagt, hier sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir überfordert sind.“ Branco sieht, wie Alex mit sich selbst kämpft. „Du mußt ja heute noch nichts entscheiden. Denke darüber nach, schlafe eine Nacht drüber, und dann kannst Du morgen ja vielleicht auch noch mal mit dem Arzt drüber sprechen, okay?“ Alex nickt: „Okay, ich denke zumindest drüber nach – versprochen.“
Inzwischen ist es Abend geworden. „Laß uns doch mal kurz abklärem, wann ich morgen früh hier aufkreuzen soll, also wann Du ins Kommissariat startest“, spricht Branco die organisatorische Seite des nächsten Tages an. Michael überlegt kurz: „Magst Du nicht jetzt noch heim fahren und Deine Sachen holen, und dann hier schlafen? Dann kannst Du etwas länger schlafen und mußt nicht so früh aufstehen.“ Die Aussicht am nächsten Morgen mal nicht vom schrillen Klingeln des Weckers geweckt zu werden hat etwas sehr verlockendes für Branco. Also geht er auf Michaels Vorschlag ein, und fährt rasch nach Hause, um seine Schlafsachen zu holen. Währenddessen bereitet Michael das Abendessen vor.
Nachdem Branco wieder da ist, und sie etwas gegessen haben, kommt von Alex der Vorschlag, etwas zu spielen. Branco und Michael schauen sich verwundert an. Sie hätten nicht gedacht, daß Alex nach spielen zu Mute ist. Was die beiden auch nicht ahnen können, Alex ist gerade dabei in ihr altes Muster zurückzufallen und ihre Sorgen und Nöte mit sich selbst auszumachen. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie spürt wie viele Sorgen sich Branco und Michael um sie machen. Und so möchte sie die beiden beruhigen, indem sie sie glauben läßt, daß sie langsam wieder die alte Alex wird. Dabei weiß sie, wenn sie ganz ehrlich zu sich ist, daß es die alte Alex nie wieder geben wird.
Doch noch ahnen Michael und Branco nichts von dem , was in Alex vorgeht. Sie verbringen einen netten Abend und spielen Scrabble. Dabei läßt Alex die beiden Männer ganz schön alt aussehen. „Tja, mit Worten sind wir Frauen einfach unschlagbar“, kokettiert sie.
Als die drei ins Bett gehen (Branco schläft in Michaels Bett und Michael schläft auf dem Sofa, damit er am Morgen niemanden weckt wenn er aufsteht), rekapitulieren alle gedanklich noch einmal den Abend. Michael ist froh, daß es Alex scheinbar besser geht, er hat den Tag genossen, mal abgesehen von der Episode mit seinem Spruch beim Aufräumen, und er sieht den nächsten Tagen optimistischer entgegen, als noch am Vortag. Branco hingegen ist sehr verwundert über Alex’ Aufgedrehtheit. Für ihn paßt das alles nicht zusammen, und er würde sehr viel darum geben, zu erfahren, wie es in Alex wirklich aussieht. Und dazu bekommt er schneller die Gelegenheit als er denkt. Denn auch Alex liegt noch wach. Sie beobachtet Branco, und als sie sieht daß er die Augen zu hat denkt sie, er schläft schon. In diesem Moment läßt sie ihren Gefühlen wieder freien Lauf. Der Panzer, an dem sie gerade arbeitet ihn aufzubauen, bricht wieder, und sie weint leise in ihr Kissen. Doch Branco ist noch gar nicht eingeschlafen. Als er leise Schluchzer hört öffnet er die Augen und dreht sich zu Alex. Sie hat ihm den Rücken zugedreht, doch er merkt, daß sie heftig weint. Er setzt sich auf und legt Alex seine Hand auf die Schulter. Alex erschrickt und zuckt zusammen. Sie versucht noch, sich die Tränen wegzuwischen. „Was ist los Alex?“, fragt Branco mit sanfter Stimme. „Nichts, es ist nichts los, mir ist nur ’ne Wimper oder so ganz blöd ins Auge gekommen“, versucht Alex sich herauszureden. „Und Du meinst, das glaube ich Dir jetzt? Du hast wieder das Feuer vor Augen, oder?“ Alex sieht ein, daß sie Branco nichts vormachen kann. Sie nickt. „Komm her“, Branco nimmt Alex in den Arm. „Du mußt uns nichts vorspielen. Wir wissen, daß Du stark bist! Sonst hättest Du das alles diese Woche gar nicht so durch gestanden! Aber wenn Dir nach Weinen zu Mute ist, dann weine! Und wenn Du schreien willst, dann schrei! Schluck’ Deine Emotionen nicht runter, das macht doch alles nur noch schlimmer!“ Endlich läßt Alex alles zu – sie weint: „Heute Nacht vor einer Woche, da ist es passiert! Ich kann an nichts anderes mehr denken, und dabei möchte ich die Gedanken so gerne verbannen! Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was ich für eine Angst habe. Ich fürchte mich, daß jeden Moment wieder etwas schlimmes passiert!“ Branco sagt nichts. Er hält sie in den Armen, streicht ihr übers Haar und läßt sie weinen. Und so schlafen beide nach einiger Zeit ein: Alex eingekuschelt in Brancos Armen.
Als die beiden am nächsten Morgen aufwachen ist Michael schon längst im Kommissariat. Noch immer liegt Alex dicht an Branco gekuschelt. Sie braucht einen Moment um sich zu orientieren. „Habe ich die ganze Nacht so gelegen?“, fragt sie Branco. „Also wenn ich meinen Arm so spüre, oder besser gesagt nicht mehr spüre, dann würde ich sagen: Ja!“, witzelt Branco. „Erschrocken setzt sich Alex auf: „Das tut mir leid!“ Doch Branco winkt ab: „Quatsch, ich habe auch die ganze Zeit geschlafen, es hat mich nicht gestört. Es wäre was anderes, wenn Du mich damit wach gehalten hättest.“ Aufmunternd lächelt Branco ihr zu. „Was hältst Du jetzt erst mal von einem netten Frühstück?“, fragt er sie. „Das ist eine gute Idee!“ Zum ersten Mal seit einer Woche steht auch Alex zum Frühstück auf. Zwar ist sie noch ein bißchen schwach auf den Beinen, aber das ist nach einer Woche Bettruhe schließlich auch nicht ungewöhnlich.
Branco hat gerade den Kaffee eingeschenkt, als das Telefon klingelt. Es ist René Schulze, der Polizist der den Brandfall bearbeitet. Auch wenn Alex einerseits ja hofft, daß der Fall möglichst schnell aufgeklärt wird, kann sie dem Kollegen nicht so ganz verzeihen, daß er sich immer wieder auf ihre Familie einschießt. „Alexandra, ich will Dir nur mitteilen, daß wir den Wagen Deines Cousins nirgends gefunden haben.“ Es geht also echt schon wieder los. Alex merkt, wie sie langsam wütend wird, aber sie versucht sich zu beherrschen. „Das heißt?“, fragt sie. „Na ja, das ist doch schon irgendwie ungewöhnlich. Ich meine, wir haben tatsächlich seine Nachbarn gefragt, und auch die gefunden, die sich um die Wohnung kümmern. Und die wußten auch, wo der Wagen normalerweise steht. Aber da stand er nicht. Die Kollegen in Kiel haben die ganze Gegend abgesucht. Und Du mußt doch zugeben, daß da irgendwas nicht stimmt.“ In Alex kämpfte es: Die dienstliche Alex gegen die private Alex. Die dienstliche gibt René Schulze Recht. Das ist zumindest eine Spur, der man nachgehen muß, und die man nicht außer Acht lassen darf, auch wenn es vielleicht nicht die Hauptspur ist. Die private Alex aber bäumt sich dagegen auf. Ihr Cousin ist in Australien, kann also mit der ganzen Geschichte nichts zu tun haben! Und außerdem hätte er nicht einmal ein Motiv. Und das sagt sie auch laut: „Also wenn Ihr Euch schon nicht von der Idee verabschieden wollt, daß mein Cousin irgendwie in der Sache drinhängt, dann verratet mir doch mal bitte das Motiv! Mir fällt da nämlich gar nichts ein. Und was ist überhaupt mit dem anderen Verdächtigen? Diesem Ex-Knacki, wie hieß er doch gleich? Ach ja, Jochen Koslowski?“, versucht Alex das Gespräch in eine andere Richtung zu bringen. „Der hat ein Alibi für die Tatnacht, der ist raus aus der Nummer. Hätten wir so auch nicht gedacht.“ Alex kann es gar nicht glauben: „Was will der denn für ein Alibi haben?“ René Schulze lacht: „Er war in einem Puff – und zwar auch noch in einem, wo die Kollegen vom Drogendezernat in der Nacht eine Razzia durchgeführt haben. Dabei wurden auch seine Personalien aufgenommen. Also ein besseres Alibi gibt es fast gar nicht!“ Alex denkt weiter nach: „Und was ist, wenn die ganze Sache überhaupt nichts mit mir zu tun hat?“ Etwas zögerlich erhält sie die Antwort: „Daran haben wir auch schon gedacht, und wir ermitteln da auch noch in ein paar Richtungen, aber wir glauben trotzdem, daß Du unser Schlüssel zu dem Fall bist.“ Na super, das ist genau das, was Alex nicht hören wollte. „Also lange Rede kurzer Sinn, wir müssen Deinen Cousin irgendwie erreichen. Hat denn niemand aus Deiner Familie eine Telefonnummer, oder eine Adresse für den Notfall?“ In Alex sträubt sich alles, aber widerwillig gibt sie dann doch zu: „Ich glaube meine Tante hat eine Telefonnummer. Er wollte sich in Australien für die Zeit ein Handy organisieren und ihr dann die Nummer für Notfälle durchgeben. Ich besorge sie Dir – aber bitte laß mich das machen!“ Widerwillig steht er das Alex zu: „Okay, aber ich brauche sie bis heute Nachmittag, sonst kümmere ich mich selbst darum.“ Alex seufzt, aber sie ist schon froh, daß sie wenigstens selbst mit ihrer Tante sprechen darf. „Gute, danke! Dann melde ich mich nachher wieder bei Dir, wenn ich die Nummer habe.“ Alex legt auf, und schaut zu Branco: „Ich kann das einfach nicht glauben. Das ist definitiv die falsche Spur, in die hier ermittelt wird! Und der wahre Täter ist wahrscheinlich schon über alle Berge.“ Wie inzwischen nach jedem Gespräch mit René Schulze ist Alex ganz schön aufgebracht. Und Branco weiß nicht so ganz, wie er reagieren soll. Denn auch wenn er Alex’ Gefühle nachvollziehen kann, ist er doch der Meinung, daß die Kollegen ihren Job schon richtig machen.
Inzwischen kämpft sich Michael im Kommissariat durch die Massen von E-Mails und Post, die sich in der vergangenen Woche bei ihm angesammelt haben. Er weiß gar nicht richtig, wie er anfangen soll, dem ganzen Chaos Herr zu werden. Zu allem Überfluß klingelt auch noch das Telefon. Er soll Kollegen, die ebenfalls gerade in ihrer Abteilung unterbesetzt sind, bei der Klärung einer Serie von Raubüberfällen helfen. „Nee klar, ich sitze hier ja auch sonst und drehe Däumchen!“, schimpft er leise vor sich hin. Den ganzen Tag ist er nun damit beschäftigt, Zeugenaussagen aufzunehmen, auszuwerten und zu vergleichen. Er arbeitet sehr konzentriert, so daß seine Gedanken gar keine Chance haben, zu Alex abzuschweifen.
Alex schaut auf das Telefon und kämpft mit sich. Sie hat überhaupt keine Lust, jetzt mit ihrer Tante zu telefonieren, von der sie weiß, daß sie wahrscheinlich gleich am Telefon vor lauter Mitleid zu Alex in Tränen ausbricht. Und auch wenn ihre Tante ein herzensguter Mensch ist, das ist eigentlich das letzte, was Alex gerade braucht: Offen zur Schau gestelltes Mitleid. Aber sie gibt sich einen Ruck. Denn es ist auf jeden Fall besser, sie spricht mit ihrer Tante, als die Polizei ruft auf einmal bei ihr an. Sie will gerade die Nummer wählen, als ihr auffällt, daß sie die ja gar nicht auswendig kann. Und durch den Brand hat sie ja sowohl ihr Adressbuch, als auch ihr Handy verloren, in dem die Nummer gespeichert war. Sie könnte ihre Eltern anrufen und die nach der Nummer fragen, aber dann müßte sie denen auch noch kurz erzählen, warum sie bei ihrer Tante anrufen will, und darauf hat Alex gerade keine Lust. Also ruft sie die Auskunft an, und sie hat auch Glück, die Nummer ist dort hinterlegt.
Nach zweimaligem Klingeln meldet sich ihre Tante: „Beate Hansson“ Alex atmet noch einmal tief durch: „Hallo Beate, hier ist Alexandra!“ Sofort bekommt die Stimme von Beate Hansson eine mitleidige Nuance: „Hallo Alexandra! Wie geht es Dir! Ich habe von dem Feuer gehört, das ist ja alles so furchtbar!“ Das Gespräch entwickelt sich genau so, wie Alex es sich vorgestellt hat. „Na ja, es ist alles nicht ganz einfach. Aber zum Glück habe ich sehr gute Freunde, die mir zur Seite stehen und für mich da sind. Und das hilft schon sehr!“ Alex will das Thema jetzt eigentlich nicht vertiefen. „Also wenn ich irgendetwas für Dich tun kann, Alexandra, dann gib’ mir einfach Bescheid! Ich würde Dir so gerne irgendwie helfen!“ Nun kommt Alex zum Kern der Sache: „Du könntest mir schon einen Gefallen tun. Du hast doch eine Telefonnummer, unter der Holger jetzt in Australien in Notfällen erreichbar ist, oder? Kannst Du mir die bitte geben?“ Beate Hansson wundert sich etwas. „Ja, die Nummer habe ich, und ich suche sie Dir auch gleich raus, aber wozu brauchst Du die denn?“ Diese Rückfrage hat Alex schon befürchtet. „Die Ermittlungen, wer für den Brand verantwortlich ist laufen auf Hochtouren! Und natürlich wird da jetzt in jede Richtung ermittelt.“ Alex weiß gar nicht, wie das jetzt erklären soll, ohne daß es zu beunruhigend klingt. „In der Brandnacht wurde genauso ein Auto gesehen, wie Holger es hat. Und jetzt wird von allen Mietern ermittelt, ob sie Angehöre, Freunde oder Verwandte haben, die einen Wagen dieses Typs fahren. Und nun müssen sie das entsprechende Auto finden. Deshalb muß Holger uns sagen, wo er sein Auto geparkt hat, oder ob er es verliehen hat“, fährt Alex fort. Sie hofft, daß sie alles diplomatisch genug geschildert hat. „Aber was soll denn Holgers Auto mit dem Brand in München zu tun haben?“ Alex’ Tante versteht das alles nicht so ganz. „Gar nichts“, beantwortet Alex die Frage, “es muß halt nur definitiv ausgeschlossen werden, daß sein Auto hier in München war.“ Langsam wird Alex etwas ungeduldig, sie will einfach nur das Gespräch beenden. Endlich findet ihre Tante die Nummer und gibt sie Alex durch. „Danke, Beate! Ich gebe sie gleich an die Kollegen weiter. Da hast Du mir schon mit geholfen.“ Alex verabschiedet sich von ihrer Tante und legt auf.
Sofort ruft sie René Schulze an und gibt ihm die Nummer durch. „Und sobald Ihr etwas neues habt, informiert Ihr mich, ja?“, bittet Alex die Kollegen. „Na klar doch“, bekommt sie das Versprechen dafür.
„Du Alex“, meldet sich Branco. „Wir sollten uns langsam auf den Weg zum Arzt machen, okay?“ Den Arzttermin hätte Alex jetzt glatt vergessen! Aber zum Glück hat sie Branco und Michael, die auf sie aufpassen. Eine Viertelstunde später sind Branco und Alex schon auf dem Weg zum Arzt. Vorsichtig nimmt Branco noch einmal das Thema des Vorabends wieder auf. Er druckst ein bißchen rum: „Versprichst Du mir, daß Du mit dem Arzt wegen psychologischer Hilfe für Dich sprichst? Ich will Dich wirklich nicht in eine Entscheidung drängen, aber ich möchte halt, daß Du Dir verschiedene Seiten dazu anhörst, solange Du Dir noch nicht sicher bist.“ Alex gibt ihm das Versprechen. Sie hat ja inzwischen selbst schon ein wenig intensiver darüber nachgedacht, und vielleicht ist die Idee ja wirklich nicht so schlecht.
„Wie geht es Ihnen denn heute, Frau Rietz“, fragt der Arzt zu Beginn der Untersuchung. „Na ja, ich fühle mich noch ein wenig schlapp, aber schon deutlich besser als in den letzten Tagen. Und ich hab’s heute auch nicht mehr im Bett ausgehalten.“ Für den Arzt klingt das alles schon ganz positiv. Er untersucht Alex. „Außer Ihrem Blutdruck, der etwas zu niedrig ist, kann ich bei Ihnen körperlich nichts feststellen. Schonen Sie sich in den nächsten Tagen noch etwas, damit Sie wieder richtig zu Kräften kommen. Ich schreibe Sie auf jeden Fall noch eine Woche krank, und von meiner Sprechstundenhilfe lassen Sie sich bitte für nächsten Montag noch einmal einen Termin geben, dann schaue ich mir Sie noch einmal an.“ Alex nickt. „Es gibt noch etwas, über das ich gerne mit Ihnen sprechen möchte.“ Der Arzt nimmt auf dem Stuhl gegenüber von Alex Platz und hört Ihr zu. „Meine Kollegen, der Herr Naseband und der Herr Vukovic, haben mir nahe gelegt, ob ich nicht eventuell psychologische Hilfe in Anspruch nehmen soll. Ich kann mich da nur nicht so ganz zu entschließen. Die meiste Zeit glaube ich wirklich, daß ich alles gut verarbeite und auch darüber hinwegkommen werde, aber dann gibt es halt auch die Augenblicke, wo alles wieder auf mich einstürzt.“ Fragend schaut Alex den Arzt an. „Und jetzt wollen Sie von mir wissen, wie ich darüber denke, oder?“, fragt der Arzt. „Ja“, antwortet Alex nur knapp. „Ich würde die Idee nicht von der Hand weisen. Jeder Mensch verarbeitet solche Ereignisse anders. Soweit ich das einschätzen kann haben Sie insofern Glück, daß Sie von einem sehr starken und intakten Freundeskreis aufgefangen werden. Doch ich glaube, daß irgendwann auch Ihre Freunde an ihre Grenzen kommen. Und gerade in Ihrem Beruf als Kommissarin ist es ja doch sehr wichtig, daß Sie Erlebtes verarbeiten.“ Alex ist nach dieser Aussage etwas verwirrt: „Also meinen Sie, ich sollte Hilfe in Anspruch nehmen?“ Der Arzt sieht ihr direkt in die Augen: „Ja, ich glaube, daß Ihnen das wirklich helfen würde. Versuchen Sie es doch einfach – Sie haben doch nichts zu verlieren. Ich gebe Ihnen die Adresse eines guten Therapeuten. Wenn Sie für sich auch der Meinung sind, daß es Ihnen hilft, dann kontaktieren Sie ihn.“ Er schiebt Alex den Zettel mit der Adresse hin, und Alex steckt ihn in ihre Handtasche. Dann steht sie auf, verabschiedet sich, und geht zu Branco, der im Wartezimmer auf sie wartet. Fragend schaut er sie an: „Alles in Ordnung, nur mein Blutdruck ist etwas niedrig. Deshalb müssen wir noch schnell in der Apotheke vorbei fahren und Tabletten dagegen holen. Ich bin jetzt erst mal noch eine Woche krank geschrieben, und ich soll mir für nächsten Montag noch mal einen Termin geben lassen.“ Branco ist beruhigt, auch wenn ihm eine Ungewißheit noch auf der Seele brennt. Doch da er Alex nicht drängen mag, traut er sich nicht zu fragen. Doch Alex sieht, daß er mit sich kämpft. „Ja, ich habe mit dem Arzt gesprochen“, beantwortet sie ihm die unausgesprochene Frage. Branco freut sich, das zu hören, und mehr will er auch gar nicht wissen. Alex wird schon irgendwann erzählen, wie sie sich entscheidet.
Als sie wieder in Michaels Wohnung angekommen, legt Alex sich etwas hin und macht ein Nickerchen. So ganz fit ist sie halt doch noch nicht. Auch Branco nutzt die Gelegenheit, etwas abzuschalten. Er macht den Fernseher an, und döst ein bißchen vor sich hin.
Wieder einmal ist es das Klingeln des Telefons, daß die nachmittägliche Ruhe stört. „Vikovic bei Naseband“, meldet sich Branco. Zum wiederholten Male an diesem Tag ist es René Schulze, der Alex sprechen möchte. Branco setzt gerade an mitzuteilen, daß Alex etwas schläft, als sie in der Tür auftaucht. „Moment, ich sehe gerade sie ist aufgewacht, ich geb’ Dich mal weiter“, informiert Branco René Schulze. Alex sieht dem Gespräch diesmal etwas ruhiger entgegen. Schließlich glaubt sie zu wissen, was der Kollege ihr mitteilen will: Nämlich daß ihr Cousin rein gar nichts mit dem Brand zu tun hat und sich bestens in Australien amüsiert. „Hallo Alexandra! Ich habe eine gutem und eine nicht ganz so gute Nachricht für Dich!“, beginnt René Schulze das Gespräch. „Zuerst einmal haben wir Deinen Cousin in Australien erreicht. Er kann also vor einer Woche gar nicht in München gewesen sein.“ Ein etwas hochmütiges „Hab ich’s nicht gesagt?“ liegt Alex auf der Zunge, aber sie schluckt es runter. „Die zweite Sache ist, daß aber hier in Deutschland, also in Kiel, offensichtlich das Auto von Deinem Cousin gestohlen wurde. Er konnte uns nämlich ganz genau beschreiben, wo es eigentlich stehen müßte, aber da ist weit und breit nichts zu finden.“ Diese Nachricht verwirrte Alex jetzt doch etwas. Sollte dieses Auto tatsächlich in der Brandnacht hier in München gewesen sein? Andererseits – es werden doch täglich so viele Autos geklaut, das muß ja gar nichts mit dem Brand zu tun haben. Na immerhin ist ihr Cousin aus der Schußlinie, und damit würde ja wohl nun endlich auch ihre gesamte Familie in Ruhe gelassen werden. „Wir haben den Wagen jetzt natürlich zu Fahndung ausgeschrieben. Vielleicht kommen wir ja auch in unseren Ermittlungen etwas weiter, wenn wir das Auto haben.“ Mit dieser Aussage verabschiedet sich René Schulze von Alex.
In wenigen Worten erzählt Alex Branco, was sie eben erfahren hat. Sie kann diese Information gar nicht richtig einordnen. Auch Branco kann dazu nicht viel sagen, denn genau wie Alex, aber auch wie René Schulze, ist er der Meinung, daß das Auto etwas mit der Brandnacht zu tun haben kann, aber nicht unbedingt muß. Die Stelle, die wirklich unlogisch scheint ist, daß das Auto ja in Kiel gestohlen wurde. Und selbst wenn der Täter hier vielleicht eine falsche Spur legen wollte, hätte er dann nicht einen Wagen aus der näheren Umgebung gestohlen, als ausgerechnet einen am anderen Ende des Landes? So grübeln sowohl Alex als Branco über die ganze Sache nach. Doch zu einem wirklich Ergebnis kommen sie beide nicht.
„Ich halte dieses Nachdenken nicht länger aus! Da wird man ja wahnsinnig bei“, unterbricht Alex nach einer Weile die Stille. Um sich abzulenken geht sie ins Schlafzimmer, wo noch immer das ungeöffnete Paket aus dem Versandhaus steht. Sie macht es auf, und beginnt die Sachen anzuprobieren. Mitten in ihre ‚Modenschau’ platzt Michael herein, der müde von der Arbeit heim kommt. „Na hier ist ja was los – kaum bin ich aus dem Haus ist hier Highlife, oder was?“ ruft er lachend den beiden entgegen. Er ist froh zu sehen, daß auch Alex gerade Spaß hat und es ihr offensichtlich momentan gut geht. „Du kommst gerade richtig“, kontert Alex, „ich kann noch einen zweiten Modeberater gebrauchen. Was sagst Du zu der Hose, die sitzt hinten ein bißchen eng, oder?“ Dabei dreht sie sich vor dem Schlafzimmerspiegel zu allen Seiten und betrachtet sich. Michaels und Brancos Blicke wandern genüßlich zu Alex’ Hinteransicht. „Och, das würde ich jetzt nicht sagen“, meint Michael. Alex schaut auf, sieht die beiden an und schüttelt lachend den Kopf. „Eigentlich hätte ich mir ja denken können was dabei raus kommt, wenn ich Euch um modischen Rat frage!“ Dabei zwinkert sie den beiden zu, die auch ganz brav eine schuldbewußte Miene aufsetzen.
Nachdem Alex sich entschieden hat, welche Sachen sie behalten will, und welche zurück gehen können, und Branco das Abendessen für alle gemacht hat, gehen sie wieder in Michaels Arbeitszimmer um dort noch etwas voranzukommen. Da der Schreibtisch ja nun entrümpelt ist geht es jetzt mit dem Bücherregal weiter. Da liegen die Bücher inzwischen schon davor, weil es zu voll ist. „Also ich glaube, wenn wir das Schlafsofa an den Platz stellen, wo jetzt das Sofa ist, dann können wir das Bücherregal etwas zur Seite schieben, und dann könnte man in dem Bücherregal Platz für den Fernseher machen. Ich glaube, der paßt da ganz gut rein, und dann kannst Du gut vom Sofa aus fernsehen“, schlägt Branco vor. „Die Idee ist gut, das gefällt mir“, stimmt Alex ihm zu. „Alle Bücher müssen ja auch gar nicht raus. Am besten, wir sortieren die mal durch, was hier alles so steht, und die Bücher, die Du häufiger zur Hand nimmst bleiben oben, die anderen tun wir Kisten in den Keller, und ich denke mal da sind bestimmt auch welche bei, die Du gar nicht mehr brauchst, die packen wir in eine separate Kiste, und können sie ja dann vielleicht bei Ebay reinsetzen“, versucht Alex System in die ganze Sache zu bringen. Michael akzeptiert den Vorschlag, und verschwindet erst mal im Keller, um ein paar Kisten hoch zu holen. Zum Glück hat er noch diverse Kartons von seinem letzten Umzug da, die er jetzt nutzen kann.
Als er wieder hoch in die Wohnung kommt sitzen Alex und Branco auf dem Boden vor dem Regal und blättern in einigen Büchern. Branco ist in einen Bildband über New York vertieft, und Alex blättert in einem Reiseführer über Formentera. „Ich glaub’s ja! Ich dachte Ihr habt schon das ganze Regal ausgeräumt, und da sitzt Ihr hier und lest!“, schimpft Michael die beiden lachend. „Wir lesen nicht, wir pflegen unser Fernweh“, verbessert ihn Branco. „Oh ja, nach New York würde ich auch gerne mal wieder“, pflichtet Michael ihm mit einem Blick auf den Bildband zu. „Wenn nur die Flüge nicht immer so verdammt teuer wären. Und dann kommt da ja noch vor Ort Unterkunft und Verpflegung dazu. Und etwas Geld zum Shoppen sollte ja auch noch drin sein.“ Auch in Michaels Augen blitzt nun das Fernweh auf. „Ich war einmal zur Weihnachtszeit in New York, das ist echt der Wahnsinn, die ganzen Lichter, das kann man sich gar nicht vorstellen!“, schwärmt er weiter.
Alex schaut mit sehnsuchtsvollem Blick zu den beiden. Sie ist ganz still geworden. Branco bemerkt das. „Alex, was ist los mit Dir?“ Sie winkt ab: „Nichts.“ Branco steht auf, geht zu ihr und legt ihr die Hand auf die Schulter. „Das glaube ich Dir nicht. Was bedrückt Dich?“ Noch immer wiegelt Alex ab: „Ach, es ist wirklich nichts. Ich habe mir nur gerade überlegt, wann ich wohl mal wieder so viel Geld zusammen habe, um in den Urlaub fahren zu können.“ Das sind berechtigte Gedanken. Branco weiß nicht, was er erwidern soll, und auch Michael schaut ihn nur hilflos an. Branco umarmt Alex kurz: „Das wird schon wieder. Und jeder braucht mal Urlaub. Wenn das alles hier vorbei ist und die Normalität wieder eingekehrt ist, dann suchen wir uns einen Billigflieger nach Mallorca, buchen eine nette Finca und gönnen uns alle ein verlängertes Wochenende. Und das ist dann auch gar nicht so teuer, okay? Ich habe auch eine Bekannte, die in einem Reisebüro arbeitet, da bekommen wir sogar noch ein paar Prozente Ermäßigung, nicht viel, aber immerhin etwas.“ Aufmunternd streicht er Alex noch einmal über den Rücken. „So, dann wollen wir mal schauen, was unser Kollege sonst noch so für Bücher hat.“ Dabei lacht Branco spitzbübisch.
Die nächsten drei Stunden sortieren sie wirklich konzentriert Michaels Bibliothek durch. Neben diversen Reiseführern und Bildbänden kommen immer wieder historische Romane zum Vorschein, dazu einige Biografien und ein paar Krimis. Alex ist ganz fasziniert: „Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, daß Du so viele Bücher hast, und v.a. auch so gute. Ein paar davon würde ich gerne mal lesen.“ Michael schaut von einem Stapel, den er gerade durchsortiert auf: „Ja klar, gerne. Dann leg’ Dir die gleich zur Seite, die lassen wir hier oben.“ Das Sortieren gestaltet sich schwieriger als gedacht, schließlich neigt man ja doch dazu, in den Büchern etwas zu schmökern. Aber endlich lichtet sich das Chaos, das halbe Regal ist leer, und die Bücher, die in den Keller sollen, bzw. die bei Ebay noch etwas einbringen sollen sind in Kisten verpackt. Alex gähnt. Erschrocken schaut Michael auf die Uhr: „Ach Du meine Güte, es ist schon fast halb zwölf. Und Du sollst Dich doch eigentlich noch schonen. Also ich würde sagen, wir beenden das hier für heute und gehen jetzt ins Bett.“
Bereits eine halbe Stunde später sind alle drei bereits tief und fest eingeschlafen. Und in dieser Nacht haben alle schöne Träume: Branco träumt, daß er in New York auf der Freiheitsstatue steht, Alex träumt von einem Sommertag in einer Finca auf Mallorca, und Michael träumt von einem Bootsausflug auf Formentera.
Es ist bereits 10:00 Uhr, als Branco am nächsten Morgen das erste Mal blinzelt. Doch obwohl er so lange geschlafen hat, fühlt er sich immer noch müde. Alex hingegen wacht zwar auch gerade erst auf, aber sie macht einen wesentlich munteren Eindruck als Branco. „Ich habe heute mal richtig gut geschlafen! Und ich habe von unserem Mallorca-Wochenende geträumt“, berichtet sie Branco, und dabei lächelt sie ihn an. Da Branco noch ganz schön verschlafen ausschaut steht Alex als erstes auf und geht ins Bad. Anschließend macht sie Frühstück. Während sie frühstücken klingelt das Telefon. Und niemand ist wirklich überrascht, daß es René Schulze ist, der sich am anderen Ende der Leitung meldet. „Was gibt es Neues“, erkundigt sich Alex. „Wir haben eine Spur von dem gestohlenen Wagen Deines Cousins.“ Da ist Alex ja mal gespannt. „Wo ist das Auto denn jetzt?“, will sie wissen. „Na ja, also so ganz genau können wir das nicht sagen“, druckst René Schulze etwas rum. „Ja was denn nun? Habt Ihr das Auto, oder habt Ihr es nicht?“ Langsam wird Alex ungeduldig. „Der Wagen ist vorgestern geblitzt worden, und zwar in der Nähe von Frankfurt/Main. Danach verliert sich aber die Spur wieder. Jetzt haben wir eine Bitte an Dich. Auf dem Foto aus dem Blitzer ist eine Fahrerin zu erkennen. Wir möchten gerne, daß Du Dir das Foto anschaust, und uns sagst, ob Du diese Frau kennst. Kannst Du heute Vormittag kurz bei uns vorbei kommen.“ Alex seufzt, denn sie denkt nicht, daß das irgendetwas bringt. Aber natürlich sagt sie zu. „Ich bin so in ’ner Stunde bei Euch, ist das okay?“, fragt sie. “Ja klar“, erhält sie die Antwort.
Branco und Alex frühstücken in Ruhe zu Ende, und dann machen sie sich auf den Weg ins Kommissariat. Zuerst schauen sie kurz bei Michael vorbei, der immer noch mit der Bearbeitung der Raubüberfall-Serie beschäftigt ist. „Alex, Branco, was macht Ihr denn hier?“, fragt er ganz erstaunt, als die beiden den Raum betreten. Mit wenigen Worten berichtet Alex über den Grund ihres Besuches. Während sie mit Michael spricht schielt sie auf ihren Schreibtisch, und sie sieht, daß sich da schon einiges stapelt. Michael verfolgt ihren Blick: „Da darfst Du nicht einmal dran denken, Alex. Die Arbeit läuft schon nicht weg, und Du bist schließlich immer noch krank geschrieben. Also raus hier!“ Freundlich aber bestimmt verweist Michael Alex des Raumes.
Als sie sich ein paar Minuten später von René Schulze das Foto aus dem Blitzer zeigen läßt bestätigen sich ihre Vermutungen: Diese Sache bringt gar nichts. Die Frau auf dem Bild hat lange lockige Haare, die ihr ins Gesicht hängen und eine große Sonnenbrille auf. „Nein, ich kenne diese Frau nicht. Tut mir leid“, stellt sie fest. René Schulze und sein Kollege gucken etwas enttäuscht. Irgendwie hatte sie gehofft, daß Alex die Fahrerin kennen würde. „Okay, trotzdem danke, daß Du so schnell her gekommen bist.“
Auf dem Rückweg zu Michaels Wohnung beschließen Branco und Alex schon einmal einen kleinen Abstecher in ein Möbelhaus zu machen. Schließlich brauchen sie ja mindestens noch ein Schlafsofa und einen Kleiderschrank. Fast zwei Stunden betrachten sie Möbel, bis sie endlich ein Schlafsofa finden, das gut aussieht und trotzdem einen fairen Preis hat. Doch sie trauen sich noch nicht, es zu kaufen. Dadurch, daß sie ja eigentlich als sie losgefahren waren gar nicht geplant hatten, Möbel zu kaufen, hatten sie auch nicht ausgemessen, wie groß das Sofa überhaupt sein darf. Alex erklärt einer Verkäuferin ihr Problem, und kann das Sofa bis zum nächsten Tag reservieren.
Wieder in Michaels Wohnung angekommen legt Alex sich etwas hin. Sie ist von der Einkaufstour im Möbelhaus erschöpft. Branco macht währenddessen den Fernseher an, doch nach kurzer Zeit ist auch er eingeschlafen.
Als beide wieder wach sind, beschließen sie, sich einen ruhigen Nachmittag zu machen. Alex hat sich eins von Michaels Büchern geschnappt, und Branco liest Zeitung. Auch als Michael nach Hause kommt fehlt allen Dreien die Motivation, noch irgendetwas sinnvolles zu tun. Also beschließen sie, sich an diesem Abend nicht weiter mit Alex’ neuem Zimmer zu beschäftigen, sondern einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher zu verbringen. „Laß uns nur erst noch schnell ausmessen, wie groß das Sofa sein darf, damit wir sehen, ob das reservierte Sofa dahin passen würde, dann können wir das nämlich morgen kaufen“, merkt Alex an. Michael stimmt ihr zu, und seufzend erheben sich die beiden und gehen mit Zettel, Stift und Zollstock bewaffnet in Michaels Arbeitszimmer. Es dauert nicht lange bis sie feststellen, daß das Schlafsofa, das Alex sich ausgesucht hat, morgen gekauft werden kann. Damit ist das Tagwerk dann aber auch endgültig vollbracht, und die beiden gehen zurück ins Wohnzimmer.
Sie schauen etwas fern, erzählen zwischendurch, blättern auch etwas in der Zeitung, doch nach einer Weile fällt Michael und Alex auf, das Branco den ganzen Abend über kaum etwas gesagt hat. Außerdem sitzt er ganz zusammengekauert in der Ecke des Sofas, und hat sich sogar mit einer Wolldecke zugedeckt. „Was ist eigentlich los mit Dir Branco? Geht’s Dir nicht gut?“, fragt Alex ihn. „Ach es ist nichts“, beschwichtigt Branco, „mir ist nur kalt, und ich hab’ etwas Kopf- und Halsschmerzen.“ Erschrocken schaut Alex ihn an: „Das klingt aber gar nicht gut! Ich glaube Du wirst krank. Komm, leg Dich ins Bett und schlaf. Vielleicht geht’s Dir dann morgen schon besser!“ „Ist halb so schlimm, macht Euch mal um mich keine Gedanken“, meint Branco. „Aber ich bin wirklich müde.“ Mit diesen Worten steht er auf und geht ins Schlafzimmer. Bereits zehn Minuten später ist er eingeschlafen. “So wie Branco eben da saß ist er morgen wahrscheinlich richtig krank“ stellt Alex fest. Michael stimmt ihr zu: „Wenn morgen irgendwas sein sollte, dann ruf mich einfach an, dann komme ich nach Hause, okay?“ Alex nickt: „Mach’ ich. Aber warten wir doch erst mal ab, wie es ihm morgen geht. Und ich kann mich doch um ihn kümmern, wenn er wirklich krank wird.“
In dieser Nacht schläft Branco sehr schlecht. Und am nächsten Morgen bestätigen sich Alex’ Befürchtungen: Branco liegt völlig flach. Er hat Husten, Schnupfen, Kopf-, Hals- und Gliederschmerzen und Schüttelfrost. „Es tut mir so leid! Eigentlich hatte ich mir doch frei genommen, um mich um Dich zu kümmern! Und nun ist es umgekehrt“, krächzt Branco. „Jetzt mach’ Dir darüber doch mal keine Gedanken. Du kannst doch nichts dafür, daß Du krank geworden bist! Du bleibst jetzt ein paar Tage im Bett, ich sorge für Dich, und dann ist alles wieder vergessen“, beruhigt Alex ihn. Eigentlich ist sie sogar ganz froh darüber, daß Branco sie jetzt braucht. Das lenkt sie ab von ihrer momentanen Situation. „Mir ist so kalt!“ Branco klappert richtig mit den Zähnen, dabei guckt schon nur noch die Nasenspitze unter der Decke hervor. „Ich bringe Dir noch eine Decke.“ Alex geht ins Wohnzimmer und holt eine Wolldecke, mit der sie Branco zudeckt. Sie legt ihre Hand auf seine Stirn: „Du hast etwas Fieber, und das steigt wahrscheinlich gerade noch, deshalb frierst Du so. Ich mach’ Dir jetzt einen Tee, und dann versuchst Du zu schlafen.“
Als Branco endlich eingeschlafen ist geht Alex zur Apotheke, um ein paar Grippemittel für Branco zu holen. Ihr Kollege tut ihr wirklich leid, und wenn Männer krank sind, dann leiden sie ja gleich doppelt. Alex weiß, daß Branco da keine Ausnahme machen würde.
Zurück in der Wohnung angekommen schläft Branco immer noch. Alex will sich gerade in der Küche einen Kaffee machen, als mal wieder das Telefon klingelt. Es ist Michael, der sich nach Branco erkundigt. „Den hat’s wirklich richtig erwischt, der liegt flach. Ich war schon in der Apotheke und habe Grippemittel für ihn besorgt. Momentan schläft er, dick unter zwei Decken eingemummelt“, gibt Alex Auskunft. „Der Arme. Kommst Du klar?“, will Michael wissen. „Ja, ich kümmere mich schon um ihn. Das einzige ist: Was machen wir denn jetzt mit dem Schlafsofa? Ich muß da ja eigentlich heute noch mal hin, um es zu kaufen. Also ich würde schon alleine fahren, aber ich mag Branco nicht alleine lassen.“ Michael überlegt kurz: „Der Laden hat doch bestimmt bis 20:00 Uhr offen, oder? Ich hoffe, daß ich hier gegen 18:00 Uhr abhauen kann. Dann komme ich heim, und Du fährst schnell zu dem Laden. Paßt das wirklich, daß Du alleine fährst?“ Ein bißchen besorgt ist Michael doch. „Ja klar, ich muß doch auch sehen, daß ich wieder selbständig werde. Ihr könnt doch schließlich nicht ständig um mich sein.“ Da hat Alex natürlich auch wieder Recht. „Aber Du mußt wirklich nichts überstürzen, mach nur das, was Du Dir zutraust!“, ermahnt Michael sie. „Ja ich paß schon auf mich auf“, erwidert Alex. Und dann beenden sie das Gespräch.
Inzwischen ist Branco wieder aufgewacht. Alex merkt es an dem Hustenanfall, den sie aus dem Schlafzimmer hört. „Hey, wie geht’s Dir?“, fragt Alex leise, als sie ins Schlafzimmer kommt. „Beschissen“, beantwortet Branco die Frage sehr direkt. Und genauso sieht er auch aus. „Ich hab’ Dir was aus der Apotheke geholt. Das bring’ ich Dir gerade. Und dann mache ich Dir noch einen frischen Tee. Du mußt viel trinken!“ Schnell geht sie in die Küche, und kommt kurz darauf mit den Sachen wieder. „Frierst Du immer noch so?“, fragt sie fürsorglich. „Nein, jetzt geht’s“, antwortet Branco. „Michael hat eben angerufen und sich nach Dir erkundigt.“ Etwas kläglich versucht Branco zu lächeln. „Das ist ja lieb von ihm.“ Bevor er weiter sprechen kann, wird er wieder von einem Hustenanfall unterbrochen. Erschöpft sinkt er in die Kissen. „Alex, mir geht’s so mies!“ Fast hat seine Stimme einen weinerlichen Unterton. Da muß Alex lächeln – genau das hat sie erwartet – Branco, typisch Mann, leidet. Doch da sie auch weiß, daß es am besten ist, kranken Männern das Gefühl zu geben, verstanden zu sein, setzt sie sich auf den Bettrand, streicht ihm über die Haare und bemitleidet ihn. „Morgen, oder spätestens übermorgen geht’s Dir bestimmt schon wieder besser. Versuch so viel wie möglich zu schlafen!“ Branco seufzt, dreht sich um, und schläft tatsächlich gleich wieder ein. Irgendwie tut ihr ja Branco schon leid, es geht ihm ja wirklich nicht gut. Aber so, wie er das ganze leicht dramatisiert, da muß Alex dann im Inneren doch etwas lachen.
Und so vergeht der Tag. Branco schläft die meiste Zeit, und wenn er aufwacht, dann jammert er etwas und wird von Alex versorgt und getröstet. Eigentlich ist es ja anstrengend, einen kranken Mann zu umsorgen, aber Alex tut es sogar gerne. Zum einen hat sie das Gefühl, etwas von der Hilfsbereitschaft zurückgeben zu können, die Branco ihr in den letzten Tagen entgegengebracht hat, und zum anderen lenkt es sie ab. Es ist wirklich rührend, wie sie Branco umsorgt.
Als Michael am Abend nach Hause kommt, sitzt Alex gerade wieder bei Branco, und sieht zu, wie er heiße Hühnerbrühe löffelt, die sie ihm gekocht hat. (Die Spuren davon lassen sich noch in der Küche besichtigen, die wie ein Schlachtfeld aussieht. Alex ist eine etwas chaotische Köchin, und sie hatte noch keine Zeit zum Aufräumen.) Auch Michael muß jetzt innerlich grinsen, als er Branco da wie ein Häufchen Elend im Bett sitzen sieht, dick eingepackt mit Schal um den Hals und roter Nase. „Hey, was machst Du denn für Sachen, wie geht’s Dir?“, erkundigt er sich mit leiser Stimme. Branco schaut auf: „Sieht man doch, wie’s mir geht“, antwortet er pampig. Alex wirft Michael einen Blick zu, der sagt: Einfach nur ignorieren! „So, dann laß ich Euch beide mal alleine, okay? Ich fahre dann das Sofa kaufen.“ Michael hat immer noch so seine Zweifel: „Bis Du Dir wirklich sicher, daß Du das packst?“, fragt er „Na klar – und außerdem können wir ihn doch nicht alleine lassen!“ Dabei wirft sie einen Blick auf den kranken Branco. „Na gut, aber fahr vorsichtig, paß auf Dich auf, und sobald was ist, ruf mich an. Nimm Brancos Handy mit, der braucht ja seins schließlich gerade nicht.“ Auch wenn Alex die ganzen Ermahnungen etwas übertrieben findet, nimmt sie das Handy und startet.
Im Möbelhaus angekommen findet sie sogar die Verkäuferin vom Vortag. „Ich möchte das Sofa jetzt gerne kaufen, daß ich gestern reserviert habe.“ Eine Viertelstunde später ist alles erledigt. Als Liefertermin erhält sie den kommenden Montag.
Alex will sich gerade wieder in ihr Auto setzen und starten, als ihr auf einmal eine Mutter mit einem kleinen Kind auffällt. Das Mädchen hat lange braune Locken, und von hinten sieht sie genauso aus wie Theresa. Im ersten Moment ist Alex der Meinung, daß es wirklich Theresa ist, und will sie rufen, doch bereits einen Augenblick später wird ihr bewußt, daß es gar nicht sein kann, da Theresa ja tot ist. Völlig fertig von diesem Erlebnis setzt sie sich hinters Steuer und fängt an furchtbar zu weinen. Der ganze Schmerz ist auf einmal wieder da. Sie zittert, und schafft es kaum, das Handy aus ihrer Tasche zu holen, und Michaels Nummer zu wählen.
Michael schrickt auf, als sein Handy auf einmal klingelt, und er im Display „Branco“ aufblinken sieht. „Alex, was ist los?“, fragt er besorgt. Zuerst hört er es nur schluchzen. „Alex! Alex, was ist passiert?“ Michael bekommt Angst. Endlich sagt Alex etwas: „Bitte komm her und hole mich ab, ich kann nicht mehr fahren.“ Dann hört Michael wieder, daß sie weint. „Ich komme sofort! Aber was ist denn passiert, hattest Du einen Unfall? Wo bist Du denn jetzt?“ Immer noch weinend antwortet Alex: „Nein, ich hatte keinen Unfall, ich erzähl’ Dir alles wenn Du hier bist. Ich steh’ auf dem Parkplatz am Möbelhaus.“ „Ales klar, bleib’ wo Du bist, ich bin gleich bei Dir!“ Michael legt auf und schreibt Branco, der gerade schläft, noch einen Zettel, daß er gleich wieder da ist und nur Alex schnell abholt. Die Nachricht legt er auf den Nachttisch neben Branco, und dann ist er auch schon auf dem Weg zu Alex.
Nur eine Viertelstunde später ist er auf dem Parkplatz am Möbelhaus angekommen, und sieht auch sofort Alex’ Auto stehen. Michael parkt seinen Wagen gleich daneben, steigt aus, und öffnet die Fahrertür von Alex’ Skoda. Alex sitzt noch immer weinend und zitternd da. Die Arme hat sie aufs Lenkrad gelegt, und ihr Gesicht darin vergraben. Michael hockt sich hin, streichelt ihr erst vorsichtig den Rücken, zieht dann Alex zu sich heran und nimmt sie in den Arm. „Komm, steig erst mal aus, und dann erzählst Du mir was passiert ist.“ Widerstandslos macht Alex, was ihr gesagt wird. Jetzt kann Michael sie richtig umarmen. Er drückt sie an sich, und sie weint sich an seiner Schulter aus. Nach kurzer Zeit beginnt sie Michael zu erklären: „Eigentlich war gar nichts, aber dann habe ich die Frau mit dem kleine Mädchen gesehen, und die Kleine sah genauso aus, wie Theresa. Für einen Moment habe ich wirklich geglaubt, es ist Theresa. Aber dann wurde mir wieder bewußt, daß...“ Alex stockt. „Und dann kam der ganze Schmerz wieder hoch, die ganzen Erinnerungen. Na ja, und dann mußte ich halt so anfangen zu weinen, daß ich das Gefühl hatte, daß es besser ist nicht selbst zu fahren. Deshalb habe ich Dich angerufen.“ „Und das war auch eine gute Entscheidung – so aufgelöst wie Du gerade bist wärst Du wahrscheinlich sonst vor dem nächsten Baum gelandet. Komm, jetzt steig erst mal bei mir ein, Dein Auto holen wir morgen, und dann fahren wir heim.“ Immer noch mit Tränen in den Augen nickt Alex.
Zwar hat Alex sich wieder etwas beruhigt, als sie in Michaels Wohnung ankommen, aber sie macht noch immer einen sehr unruhigen Eindruck. Sie legt sich im Wohnzimmer aufs Sofa und starrt die Decke an. Michael weiß gar nicht, um wen er sich zuerst kümmern soll: Branco, der mit Fieber im Schlafzimmer liegt, oder Alex, die apathisch im Wohnzimmer liegt. Und an den nächsten Tag mag er schon mal gleich gar nicht denken, denn eigentlich muß er ja arbeiten gehen.
Zum Glück schläft Branco die meiste Zeit, so daß Michael die Gelegenheit hat, sich intensiv mit Alex zu beschäftigen. Aber die reagiert überhaupt nicht auf ihn. Doch Michael gibt nicht auf, an sie ranzukommen. Denn in ihrem Gesicht kann er lesen, daß es in Alex arbeitet. Immer wieder streicht er ihr über das Haar, redet mit ruhiger Stimme zu ihr. Endlich dreht sich Alex zu ihm um: „So kann es nicht weiter gehen! Ich muß mich doch irgendwann wieder fangen, muß selbständig werden. Und so etwas wie heute kann mir schließlich jederzeit wieder passieren.“ Alex ist völlig verzweifelt, sie beginnt wieder leise zu weinen. Liebevoll schaut Michael sie an und wischt ihr die Tränen von den Wangen. „Du schaffst das, laß Dir einfach Zeit! Der Brand ist doch noch nicht einmal zwei Wochen her! Da ist es doch ganz natürlich, daß Du noch nicht wieder zum Alltag übergehen kannst, als sei nichts geschehen. Sei geduldig mit Dir, das wird schon wieder, okay?“ Immer noch mit Tränen in den Augen nickt sie: „Ich habe auch über Euren Vorschlag nachgedacht – und ich werde morgen einen Termin bei dem Therapeuten machen. Ich glaube Ihr habt Recht, ich schaffe es so nicht.“ Michael fällt wirklich ein Stein vom Herzen. Er hatte so sehr gehofft, daß Alex sich zu einer Therapie entschließen würde, und es zeigt ihm auch, daß es der richtige Weg war, sie nicht zu drängen, sondern ihr nur die Option aufzuzeigen. „Ich halte das für eine gute Idee – und Du weißt ja, Branco und ich unterstützen Dich bei allem. D.h. erst mal müssen wir Branco wieder aufpäppeln.“ Bei diesen Worten zwinkert Michael Alex zu. Und die muß unter ihren Tränen fast ein bißchen lächeln. Schweigend sitzen die beiden noch eine Weile zusammen, bis Alex irgendwann vor Erschöpfung einschläft.
Dafür ist Branco wieder aufgewacht. Michael geht zu ihm. „Was ist mit Alex?“, will Branco wissen. Kurz nachdem Michael mit Alex nach Hause gekommen war, war Branco schon einmal kurz aufgewacht, doch Michael war in dem Moment so mit Alex beschäftigt gewesen, daß er Branco nicht ausführlich erzählen konnte, was passiert war. Das holt er nun nach. „Und sie hat wirklich von sich aus gesagt, daß sie eine Therapie machen will?“ Auch Branco ist darüber ganz begeistert und freut sich. Doch als er weiter sprechen will, hindert ihn erst einmal ein Hustenanfall daran. „Dir geht’s immer noch nicht wirklich besser, oder“, stellt Michael mehr fest, als daß er fragt. „Nein“, seufzt Branco. Er sieht auch immer noch ziemlich fertig aus: Ganz blaß, mit roter Nase und fiebrig glänzenden Augen. Michael verabreicht ihm noch etwas von dem Grippemittel, das Alex aus der Apotheke geholt hatte. „Hier, nimm das, und dann versuch wieder einzuschlafen. Das tut Dir gut“, fordert Michael ihn auf. Und wirklich, nach kurzer Zeit schläft Branco bereits wieder.
Jetzt hat Michael einen Moment Zeit zum Durchatmen und versucht erst einmal seine Gedanken zu sortieren. Egal was passiert, er kann am nächsten Tag einfach nicht zur Arbeit gehen. Alex ist noch nicht wieder stark genug um sich um Branco zu kümmern, und umgekehrt geht es schon mal gar nicht. Gleich morgen früh würde er im Kommissariat anrufen müssen, und telefonisch klären, daß er den Rest der Woche frei bekommt. Wie er das anstellen soll ist Michael zwar noch nicht ganz klar, aber einen anderen Weg sieht er nicht. Also beschließt er, das Gespräch am nächsten Tag auf sich zukommen zu lassen.
Während er sich so seine Gedanken macht fällt sein Blick auf die Uhr. Es ist schon kurz nach Mitternacht. Da Alex immer noch vollständig angezogen auf dem Sofa schläft, beschließt er sie zu wecken. Dazu streicht er ihr über die Wangen: „Hey, Alex, aufwachen. Ist doch ein bißchen ungemütlich so, oder?“ Müde blinzelt Alex ihn an. „Du kannst gleich weiter schlafen, du ich würde sogar sagen Du hier auf dem Sofa, und ich im Schlafzimmer, damit ich mich um Branco kümmern kann, wenn nachts irgendwas ist, okay?“ Alex nickt ganz verschlafen. Genau genommen ist sie auch gar nicht richtig wach. „Ich ziehe Dir das Sofa aus, und bringe Dir Dein Bettzeug her. Du kannst solange schnell ins Bad gehen und Dich umziehen, okay?“ Wie ferngesteuert macht Alex, was Michael ihr gesagt hat. Der tauscht in Zwischenzeit das Bettzeug von ihm und Alex um, und als Alex wieder aus dem Bad kommt, kann sie sich sofort unter ihre Decke kuscheln und einschlafen.
Auch Michael geht jetzt ins Bett. Doch seine Nachtruhe wird erheblich gestört. Mehrmals wird er von Branco geweckt, der sehr unruhig schläft, sich hin und her wälzt und auch öfter mit Hustenanfällen wach wird.
Und auch Alex leidet in dieser Nacht wieder unter Albträumen. Einmal wacht sie mitten in der Nacht schreiend auf. Davon schreckt auch Michael hoch, der natürlich sofort zu ihr eilt. Als er Alex zitternd auf dem Sofa sitzen sieht nimmt er sie vorsichtig in den Arm. „Ich habe schon wieder von dem Feuer geträumt – das muß doch irgendwann mal aufhören!“ Alex ist ganz verzweifelt. „Das hört auch irgendwann wieder auf, da bin ich mir ganz sicher!“, versucht Michael sie zu beruhigen. Und tatsächlich gelingt ihm das auch. Nach kurzer Zeit ist sie wieder in seinen Armen eingeschlafen. Vorsichtig legt er sie wieder hin, deckt sie zu und streicht ihr noch einmal über die Haare. „Alles wird wieder gut“, flüstert er ihr zu, bevor er sich selbst wieder hinlegt.
Für den nächsten Morgen hat sich Michael den gestellten Wecker extra unters Kopfkissen gelegt, in der stillen Hoffnung, daß nur er ihn dann hört. Und tatsächlich funktioniert es auch. Leise schleicht sich Michael aus dem Schlafzimmer, holt das Telefon aus dem Wohnzimmer und geht damit ins Arbeitszimmer. Jetzt ist sein ganzes Verhandlungsgeschick gefragt, wenn er es irgendwie schaffen will, sein freien Tage durchzubekommen.
Es ist wirklich nicht einfach für Michael, seinen Willen zu bekommen, denn ihm wird klar gemacht, daß nicht einfach alle drei Kommissare des K11 abwesend sein können. Die Diskussion geht eine Weile hin und her, aber als Michael anbietet, daß er sich etwas von der Büroarbeit holen und dann zu Hause erledigen würde hat er es endlich geschafft, er hat die beiden restlichen Tage dieser Woche frei. Nun schwankt Michael ein wenig: Eigentlich könnte er sich jetzt noch mal hinlegen, und noch eine Runde schlafen. Oder sollte er lieber gleich ins Kommissariat fahren und die Akten holen? Noch schlafen die anderen beiden ja, und es würde nicht auffallen. Andererseits würden sie sich vielleicht auch wundern, wenn sie in der Zwischenzeit aufwachen und er ist weg. Nach einigen Überlegungen siegt die Müdigkeit. Schließlich war die Nacht ja etwas unruhig für ihn, und wenn er vielleicht doch noch ein Stündchen die Augen zumachen könnte wäre das schon schön. Also legt er sich wieder hin, und nur zwei Minuten später ist er auch schon eingeschlafen.
Gegen 10:00 Uhr werden die drei langsam wach. Alex wundert sich etwas, warum sie auf dem Sofa geschlafen hat. „Erinnerst Du Dich nicht mehr dran? Du bist abends auf dem Sofa eingeschlafen, und kurz nach Mitternacht habe ich Dich dann geweckt, Du hast Dir Deine Schlafsachen angezogen, und ich habe Dir hier das Bett zurecht gemacht. Wir haben die Betten getauscht, damit ich mich ggf. um Branco kümmern kann, wenn was ist“, gibt Michael Auskunft. Alex denkt angestrengt nach: „Doch, irgendwas war da, aber ich habe gedacht, das habe ich geträumt.“ Da muß Michael lächeln. „Ich hatte auch nicht den Eindruck, daß Du wirklich wach warst dabei.“
Branco signalisiert wieder einmal durch einen Hustenanfall, daß er auch wach ist. „Wie geht’s Dir denn heute?“, will Michael wissen. Branco setzt an zu antworten, aber er ist so heiser, daß er nur flüstern kann: „Noch nicht besser.“ „Oh je, das merkt man. Möchtest Du etwas frühstücken, hast Du Hunger?“, fragt Michael. Doch Branco schüttelt nur den Kopf. Also macht Michael nur für zwei Personen Frühstück, und Branco bekommt einen Erkältungstee. Auf einmal fällt es Alex wie Schuppen von den Augen: „Mußt Du nicht ins Büro? Da hält doch sonst jetzt niemand die Stellung!“ Doch Michael kann sie beruhigen: „Tja, da müssen sie halt durch, daß wir mal alle drei nicht da sind. Ich habe heute morgen angerufen, und für heute und morgen mehr oder weniger frei bekommen. Nur ein paar Akten muß ich nachher noch holen, die ich dann hier zu Hause bearbeiten will.“
Den Rest des Frühstücks verbringen sie schweigend. Alex ist wieder in Gedanken versunken, und Michael spürt, daß es besser ist, jetzt nicht weiter nachzuhaken was los ist. Wenn sie das Bedürfnis hat zu reden, dann wird sie sich schon anvertrauen.
Als beide aufgegessen haben schnappt Alex sich das Telefon und geht ins Arbeitszimmer. Michael kämpft mit sich. Er wüßte zu gerne, wen Alex jetzt anruft. Andererseits – sollte er nicht Alex’ Wunsch respektieren, daß sie offensichtlich nicht möchte, daß er das Gespräch mit anhört? Doch die Entscheidung, was er nun macht wird ihm abgenommen. Branco ruft ihn na ja, zumindest versucht er zu rufen, soweit seine Stimme das erlaubt. „Kannst Du mir bitte noch einen Tee machen, aber einen richtigen, und nicht wieder so was ekliges!“ Allein bei dem Gedanken an den Geschmack des Erkältungstees verzieht Branco das Gesicht. Da muß Michael grinsen. „Jetzt hab’ Dich nicht so, der hilft wenigstens. Du wirst an dem Geschmack schon nicht zu Grunde gehen“, neckt er Branco, der das allerdings in dem Moment gar nicht lustig findet.
Als Michael in der Küche steht und darauf wartet, daß das Teewasser kocht, kommt Alex zu ihm. „Michael, könntest Du mich bitte heute Nachmittag zu Dr. Sandner fahren? Das ist der Therapeut, dessen Namen mir der Arzt gegeben hat. Ich habe da um 15:00 Uhr einen Termin.“ Das war es also, weshalb Alex telefoniert hat. Michael ist froh, daß er nicht gelauscht hat, er würde sich sonst jetzt ganz schäbig vorkommen. „Na klar, das mache ich doch gerne. Ich find’s super, daß Du Dich entschieden hast, Dir dort einen Termin zu holen. Komm her!“ Michael umarmt Alex. „Ich bin stolz auf Dich! Du schaffst das! Das weiß ich!“ In dem Augenblick ist das Teewasser fertig. „Willst Du den Tee unserem Patienten bringen?“, fragt Michael. Alex nickt. „Wenn wir ihn dann also heute Nachmittag schon ein Weilchen alleine lassen, dann müssen wir uns wenigstens jetzt um ihn kümmern. Er leidet doch so“, meint sie, nicht ohne schelmischen Unterton. Michael ist nur froh, daß Alex sich offensichtlich erst einmal von dem Vorfall gestern Abend erholt hat. Und wenn sie jetzt sogar bereit ist eine Therapie zu beginnen, dann wird wirklich alles wieder gut.
Während Alex bei Branco sitzt, um ihn etwas abzulenken und zu trösten macht Michael sich schnell auf den Weg ins Büro und holt die Unterlagen, die er noch zu bearbeiten hat. Seufzend nimmt er sich die untersten von seinem und von Alex’ Schreibtisch. „Oh man, wie ich diesen ganzen Schreibkram hasse“, denkt er sich im Stillen. Aber es nützt ja nichts, es muß schließlich gemacht werden.
Wieder bei sich zu Hause angekommen bietet sich ihm ein Bild, daß wirklich schmunzeln läßt. Alex sitzt auf dem Bett, und Branco liegt so verquer schlafend in ihren Armen, daß sie sich gar nicht alleine von ihm befreien kann, ohne ihn aufzuwecken. Sie wirft Michael hilflose Blicke zu, und der faßt sich auch ein Herz und legt den schlafenden Branco wieder so hin, daß Alex aufstehen kann. Also Michael und Alex dann im Wohnzimmer stehen kann Michael sich aber nicht länger zusammen reißen und muß loslachen: „Du hättest Dich eben sehen sollen – ein herrliches Bild.“ Sogar Alex muß grinsen: „Das kann ich mir vorstellen.“. „Wie hast Du das überhaupt hinbekommen, Dich so von ihm vereinnahmen zu lassen?“, will Michael wissen. „Na er litt doch wieder so schrecklich, und jammerte wie ein kleines Kind, weil ihm alles weh tat, und da wollte ich ihn ein wenig trösten und habe ihn in den Arm genommen. Na ja, und darüber ist er dann irgendwann eingeschlafen, und ich saß fest.“ Alex sieht Michael an: „Die Story eben wirst Du uns noch in zehn Jahren immer wieder unter die Nase reiben, oder?“ Beide lachen. „Da könntest Du mit Recht haben“, stimmt Michael zu.
Irgendwie müssen die beiden etwas zu laut gelacht haben, denn aus dem Schlafzimmer hört man wieder leises Jammern – Branco ist wach. „Och nö“, Alex zieht eine Schnute, „ich hatte gehofft er schläft länger.“ Also gehen die beiden wieder zu Branco. „Michael, Alex, mir ist so heiß, und ich habe Durst!“ Die Gedanken von Michael und Alex in diesem Augenblick sind absolut identisch: Hoffentlich wird Branco schnell wieder gesund! Lange läßt sich ein kranker Branco nämlich nicht mehr aushalten. „Ich mach’ Dir frischen Tee“, meint Michael, und verzieht sich in die Küche. Und Alex setzt sich wieder neben Branco und fühlt seine Stirn. „Das ist ganz normal, daß Dir heiß ist, Du hast etwas Fieber. Das geht schon wieder weg. Ruh Dich aus, und versuch’ so viel wie möglich zu schlafen.“
Als Branco nach einer ganzen Weile endlich wieder eingeschlafen ist, fällt Alex auf einmal ein, daß ihr Auto ja noch bei dem Möbelhaus steht. Sie spricht Michael darauf an. „Das hätte ich jetzt echt fast vergessen. Hmm, wie machen wir das denn jetzt?“, überlegt er. Denn nach der gestrigen Erfahrung ist er der Überzeugung, daß Alex noch nicht wieder alleine fahren sollte. Zwar sieht Alex das zuerst noch etwas anders, aber sie läßt sich dann doch ziemlich schnell von Michael überzeugen, daß das vielleicht doch nicht so gut ist. Letztendlich einigen sie sich darauf, daß Michael mit dem Bus zum Möbelhaus fährt, und dann dort das Auto holt. Im Internet schaut er noch schnell nach, wann der nächste Bus fährt, und dann startet er auch schon. Alex setzt sich im Wohnzimmer auf das Sofa und macht den Fernseher an, doch nach kurzer Zeit ist sie darüber eingeschlafen.
Sie wacht erst wieder auf, als sie hört, wie jemand die Wohnungstür aufschließt. Es ist Michael, der wieder da ist. Noch etwas verschlafen schaut sie ihn an. „Was macht denn unser Patient?“, will Michael wissen. „Also ehrlich gesagt, kann ich Dir das jetzt gar nicht so sagen, ich habe nämlich selber bis eben geschlafen. Irgendwie bin ich beim Fernsehen eingenickt.“ „Na dann hat Branco Dich wenigstens nicht die ganze Zeit mit Beschlag belegt“, entgegnet Michael augenzwinkernd.
Kaum hat Michael den Satz ausgesprochen, meldet sic auch schon wieder ein Krächzen aus dem Schlafzimmer. „Ich geh schon“, meint Alex. „Kümmere Du Dich mal um die Akten, die Du aus dem Büro geholt hast, sonst wirst Du damit ja nie fertig.“ „Okay, mach’ ich, Du hast ja Recht. Und wenn Du meine Hilfe brauchst, dann gib mir einfach Bescheid!“ Damit verzieht Michael sich ins Arbeitszimmer. Und Alex geht zu Branco: „Hey, gut geschlafen?“, fragt sie ihn. „Na ja, so halbwegs. Ach Alex, mir tut alles weh, dazu der Husten und der Schnupfen, ich fühle mich so mies!“, fängt er wieder an zu jammern. „Du tust mir auch echt leid, aber da mußt Du durch. Aber wir können ja mal ein paar Hausmittel anwenden, vielleicht hilft das ja. Ich mache Dir zuerst mal ein Dampfbad zum Inhalieren. Das sollte gegen den Schnupfen und die Heiserkeit helfen. Und danach bringe ich Dir warme Milch mit Honig gegen die Halsschmerzen.“ Branco verzieht das Gesicht, doch Alex ignoriert das. Sie hatte in der Apotheke gestern extra ein ätherisches Öl für Dampfbäder besorgt, aber dann gestern auch nicht mehr daran gedacht.
Als Alex nach kurzer Zeit mit dem Dampfbad und einem Handtuch zu Branco geht versucht der sich ein letztes Mal gegen die Behandlung zu wehren. Langsam verliert Alex die Geduld. „Jetzt hab’ Dich nicht so Branco, jetzt atmest Du das zehn Minuten ein, das hilft wirklich. Das mache ich auch immer, wenn ich erkältet bin!“ Da Branco keine Chance hat aus der Nummer raus zukommen gibt er sich geschlagen. Und so sitzt er nun wirklich mit dem Handtuch über dem Kopf da und atmet die heilenden Dämpfe ein. Nach zehn Minuten ist er aber froh, das ganze hinter sich zu haben. Er bricht seelisch und moralisch zusammen, als Alex ihm ankündigt, daß sie die Prozedur am Abend noch einmal wiederholen werden. „So, jetzt mache ich Dir noch Deine Milch, und meinst Du, daß Du dann eine Weile alleine zurecht kommst? Michael und ich müßten nämlich noch mal weg.“ Erstaunt schaut Branco sie an: „Was habt Ihr denn vor?“ Erst druckst Alex ein bißchen rum, aber dann erzählt sie auch Branco, daß sie einen Termin beim Therapeuten hat. Und genau wie Michael freut er sich sehr darüber, daß Alex diesen Schritt gewagt hat.
Als Michael und Alex sich etwas später auf den Weg zu Dr. Sandner machen ist Alex schon etwas flau im Magen. Im Augenblick geht es ihr auch gut, so daß sie glaubt es auch ohne Therapie schaffen zu können. Aber dann muß sie wieder an den Vorfall vom Vorabend denken. So was soll ihr nicht noch mal passieren, und beruflich darf es ihr auch gar nicht passieren. Also redet sie sich selber ein, daß sie die ganze Sache nur macht, um möglichst bald wieder als Kommissarin arbeiten zu können.
Michael merkt, daß Alex sehr still ist, und er vermutet, daß sie sich so ihre Gedanken zur Therapie macht. „Laß es einfach auf Dich zukommen! Und wenn Dir dieser Dr. Sandner nicht gefällt, dann suchen wir Dir halt einen anderen“, muntert er sie auf.
Sie haben Glück und finden direkt bei der Praxis einen Parkplatz. Alex betritt die Praxis alleine, sie haben beschlossen, daß Michael in einem Café um die Ecke auf sie warten wird. Und da sitzt Michael nun und rührt gedankenverloren in seinem Capuccino. Seine Gedanken wandern zu Alex. Wie lange es wohl dauert bis so eine Therapie anschlägt? Wie bald wird Alex wieder arbeiten können? Lauter Gedanken dieser Art schwirren ihm durch den Kopf und er merkt gar nicht wie die Zeit vergeht. Auf einmal klingelt sein Handy. „Naseband“ meldet er sich. „Hallo Michael, hier ist Alex. Du, kannst Du gerade mal in die Praxis kommen? Dr. Sandner möchte auch mit Dir kurz sprechen.“ Michael ist zwar etwas verwundert, aber natürlich sagt er zu: „Ich bin in fünf Minuten da.“ Schnell winkt Michael die Kellnerin heran, zahlt, und wirklich, nur fünf Minuten später ist er bei Alex. „Herr Dr. Sandner, Sie wollen mit mir sprechen?“ Der Therapeut bietet Michael einen Platz an. „Soll ich hier bleiben oder rausgehen?“, fragt Alex. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich gerne mit Herrn Naseband unter vier Augen sprechen“, antwortet der Therapeut. Also verläßt Alex den Raum, was Michael nur noch mehr wundern läßt. „Sie fragen sich jetzt bestimmt, was ich von Ihnen will“, beginnt Dr. Sandner das Gespräch. „Ja, genau“, erwidert Michael. „Frau Rietz hat mir erzählt, daß sie sehr gut befreundet sind und auch zusammen arbeiten, und daß sie jetzt übergangsweise bei Ihnen wohnt.“ „Das ist richtig.“ Noch immer weiß Michael nicht so ganz genau, worauf Dr. Sandner hinaus will. „Die Sache ist die: Frau Rietz hat ja wirklich schlimmes durchgemacht, aber ich habe das Gefühl, daß sie viel schon selbst ganz gut verarbeitet. Wenn ich sie richtig verstanden habe, hat sie sich ja auch von sich aus für eine Therapie entschieden.“ Michael stimmt dem zu: „Das ist richtig. Mein Kollege und ich haben Sie zwar darauf angesprochen, aber nur um ihr die Option aufzuzeigen. Wir haben sie wirklich nicht gedrängt. Sie hat mir auch erst erzählt, daß sie sich für eine Therapie entschieden hat, nachdem sie den Termin mit Ihnen heute Morgen gemacht hat.“ „Das ist sehr gut, Sie haben sich absolut vorbildlich verhalten. Wenn Patienten freiwillig kommen haben sie den schwersten Schritt schon hinter sich gebracht, nämlich zu akzeptieren, daß sie Hilfe benötigen. Und das habe ich auch bei Ihrer Kollegin sofort gemerkt. Also, warum ich eigentlich mit Ihnen sprechen möchte: Frau Rietz wird jetzt erstmal dreimal pro Woche zu einer Sitzung kommen. Dabei wird es Tage geben, wo sie erleichtert diese Praxis verläßt und Tage, an denen sie am Verzweifeln ist. Und da kommen Sie jetzt ins Spiel: Geben Sie ihr in jedem Fall das Gefühl, daß Sie für sie da sind. Aber bedrängen Sie sie nicht, mit Ihnen über die Sitzungen zu sprechen. Vielleicht möchte sie mit Ihnen darüber reden – dann ist’s gut Aber wenn Sie nichts sagt, dann haken Sie auch nicht weiter nach! Das war’s auch schon, was ich Ihnen sagen wollte.“ Beide erheben sich von Ihren Plätzen. „Ich bedanke mich für die Anweisungen. Glauben Sie mir, ich werde mich gut um Frau Rietz kümmern, und ich bin auch sehr froh, daß sie sich für eine Therapie bei Ihnen entschieden hat.“ Mit diesen Worten verabschiedet sich Michael von Dr. Sandner.
Draußen wartet schon Alex auf ihn. Sie hat inzwischen die nächsten Termine ausgemacht, so daß sie direkt nach Hause fahren können. Schließlich müssen sie sich ja auch wieder um den kranken Branco kümmern. „Was wollte Dr. Sandner eigentlich von Dir“, will Alex auf der Heimfahrt wissen. „Ein Glück daß hier niemand neugierig ist“, neckt Michael sie. Alex steigt sofort darauf ein: „Was? Wie? Neugierig? Ich? Ich bin doch nicht neugierig! Nie!“ Beide müssen ein wenig lachen. „Also okay. Es ging eigentlich nur darum, daß Dr. Sandner ein ganz gute Gefühl hat, was Deine Therapie betrifft. Und er hat mir dann nur noch ein paar Tips gegeben, wie ich Dich unterstützen kann.“ So ganz stellt diese Antwort Alex zwar noch nicht zufrieden, aber sie merkt, daß wohl mehr aus Michael nicht rauszuholen ist. „Ach übrigens, Dr. Sandner hat mir einen Schein für meinen Arzt geschrieben, daß ich wohl noch für zwei weitere Wochen krank geschrieben werde. Aber er meinte danach kann ich dann vielleicht schon wieder arbeiten kommen.“ Schelmisch schaut sie zu Michael: „Wahrscheinlich habt Ihr beiden Männer bis dahin das Büro völlig auf den Kopf gestellt!“ „Was Du wieder von uns denkst“, erwidert Michael gespielt entrüstet. „Und erst mal muß Branco wieder auf die Beine kommen – wo er doch so schwer krank ist.“ Wieder müssen beide grinsen.
Bei Michael zu Hause angekommen werden sie schon sehnlich erwartet. Branco ist wach und fordert die Aufmerksamkeit seiner Freunde. „Geht’s Dir denn inzwischen wenigstens schon wieder ein bißchen besser?“, fragt Alex. Branco druckst ein bißchen herum: „Ja, schon, ich habe das Gefühl ich kann wieder ein wenig freier atmen.“ Alex lächelt wissend. Den Satz „Ich wußte doch, daß das Dampfbad hilft“ verkneift sie sich. Doch auch so kann Branco in ihrem Gesicht ablesen, daß sie gerade triumphiert. Und das paßt ihm ja nun gar nicht. Schlecht gelaunt dreht er sich um und macht die Augen zu. Jetzt tut er Alex schon fast wieder ein bißchen leid. Sie streicht ihm über die Wange: „Hey, nicht sauer sein, ich will Dir doch nur helfen, Du sollst doch schnell wieder gesund werden!“ Doch noch immer schmollt Branco – er fühlt sich nicht so ganz ernst genommen. (Und damit liegt er ja nicht einmal so ganz falsch.) „Kann ich Dir den irgendwas Gutes tun?“, fragt Alex weiter. Das wollte sie ja nun auch nicht, daß Branco sich wegen ihrem Verhalten noch mieser fühlt. Ein letztes As hat sie noch im Ärmel: „Ich habe noch ein paar Gummibärchen für Dich, soll ich Dir die holen?“ Endlich dreht sich Branco wieder zu Alex um: „Das ist lieb von Dir, aber danke, ich habe da gerade keine Lust drauf.“ Oh ha, dann geht es ihm aber wirklich schlecht. Wenn Branco keinen Appetit auf sein Lieblingsnaschwerk hat ist wirklich etwas mit ihm nicht in Ordnung. „Magst Du irgendetwas anderes?“ Alex bemüht sich sehr um Branco, während Michael schon längst wieder im Arbeitszimmer verschwunden ist. „Eigentlich mag ich nur, daß es mir endlich wieder besser geht“, antwortet Branco jammernd. „Ja das wünsche ich mir auch. Aber warte mal ab, ich glaube morgen hast Du das Schlimmste schon hinter Dir!“, versucht Alex ihn aufzubauen. Branco schaut sie an: „Ich habe mich noch gar nicht bei Dir bedankt, daß Du Dich so um mich kümmerst! Eigentlich habe ich ja echt Glück, daß ich hier bei Euch krank geworden bin. Zu Hause hätte ich ja für mich selber sorgen müssen.“ Alex erwidert seinen Blick: „Da sind wir doch alle drei Geschwister im Geiste. Schau uns doch mal an – drei Singles, deren letzte Beziehungen schon ewig her sind, und die sich an ihr Single-Dasein gewöhnt haben – zumindest mehr oder weniger. Aber wir haben doch uns. Und ehrlich gesagt: Eine gute Freundschaft, so wie unsere, ziehe ich einer schlechten Beziehung vor!“ Branco setzt sich auf und umarmt Alex: „Wenn ich Dich nicht hätte!“ Nach dieser spontanen Gefühlsanwandlung von Branco ist Alex ganz verwirrt. „Ich glaube, das Fieber hinterläßt langsam Spuren bei Dir“, meint sie lachend. Auch Branco muß grinsen. Er legt sich wieder hin, und bald darauf fallen ihm wieder die Augen zu. Alex macht es sich auf der anderen Betthälfte gemütlich und liest etwas.
Als Branco nach einer Weile wieder aufwacht, sitzt sie immer noch lesend da. Liebevoll schaut sie Branco an, der noch etwas verschlafen dreinschaut. „Weißt Du, ich fühle mich genauso wie als kleiner Junge, wenn ich krank war. Da hat meine Mutter auch immer an meinem Bett gesessen und gelesen.“ Na ja schließlich benimmt der kranke „große“ Branco sich auch wie ein kleiner Junge, aber das spricht Alex natürlich nicht aus. Deshalb wechselt sie ganz schnell das Thema. „Hast Du gut geschlafen?“ Branco nickt.
In dem Moment kommt Michael in das Schlafzimmer. „Alles klar bei Euch?“, erkundigt er sich. „Aber natürlich“, gibt ihm Alex Auskunft. „Wißt Ihr was mir gerade aufgefallen ist? Wir haben schon lange nichts mehr von René Schulze gehört. Die müssen doch irgendwann mal weiter kommen mit der Auflösung des Brands – und sie hatten doch eigentlich versprochen, sich mit jeder Neuigkeit bei uns zu melden!“, wundert sie sich. „Stimmt, ein bißchen komisch ist das schon“, pflichtet Michael ihr bei. „Also wenn er sich bis morgen Vormittag nicht meldet, dann rufe ich da mal an und frage nach“, meint Alex. „Ja mach das. Aber jetzt lassen wir das alles erst mal hinter uns, und ich mache uns was leckeres zum Abendbrot.“, schlägt Michael vor. „Ich finde, wir sollten heute auf Dich anstoßen, Alex!“ Ganz verwirrt schaut die Michael an: „Auf mich, aber wieso denn?“ Doch diesmal checkt sogar Branco, auf was Michael anspielt: „Na weil Du heute einen wichtigen Schritt gemacht hast – Du hast Deine Therapie begonnen. Und wir können Dir gar nicht oft genug sagen, wie stolz wir auf Dich sind.“ Alex schlägt die Augen nieder und wird sogar ein bißchen rot im Gesicht: „Wenn jemand eine Therapie anfängt ist das ja nun wirklich kein Grund auf denjenigen stolz zu sein“, wiegelt sie ab. „Aber natürlich – wir wissen doch, wie viel Überwindung Dich das gekostet hat! Und Du gibst nicht auf – Du kämpfst, und Du kümmerst Dich sogar noch um Branco, obwohl jeder verstehen würde, wenn Du momentan nur mit Dir selbst beschäftigt wärst“, widerspricht Michael. Und diesmal akzeptiert Alex das Lob einfach. „Also, ich geh’ dann mal in die Küche. Branco, wie sieht’s mit Dir aus? Hast Du Hunger? Magst Du was bestimmtes essen?“ Doch Branco schüttelt den Kopf: „Nein danke, ich hab’ auf gar nichts Appetit.“ Auch das ist ein Zeichen daß Branco noch nicht wieder wirklich besser geht. Denn schließlich ist Branco ja sonst eigentlich fast immer hungrig. „Ich mache Dir eine Kleinigkeit mit. Du mußt ja nicht viel essen, aber ein bißchen was tut Dir gut.“
Während Michael in der Küche werkelt, versucht Alex das Schlafzimmer in ein gemütliches provisorisches Esszimmer zu verwandeln. Zwar sieht es wirklich provisorisch aus, als sie damit fertig ist, aber immerhin. Neben das Bett hat sie einen kleinen Tisch geschoben. Dort deckt sie für alle drei. Der Tisch steht so, daß Branco gut vom Bett aus rankommt, und für Michael und sich holt Alex Stühle aus dem Wohnzimmer. Normalerweise würde sie jetzt noch ein paar Kerzen raussuchen. Aber allein der Gedanke daran macht ihr solche Angst, daß sie es lieber bleiben läßt. Sie ist gerade noch dabei Servierten zu falten, als Michael mit einer Flasche Rotwein das Zimmer betritt. Einen Moment später ist auch das Essen fertig. Die drei sitzen zusammen, und stoßen auf Alex an (Michael und Alex mit Rotwein, und Branco stilecht mit Tee). Sie essen und reden über Gott und die Welt, so daß Branco sogar für einige Zeit vergißt zu jammern.
Erst als Branco fast die Augen zufallen registrieren sie, wie spät es inzwischen ist. Schnell bringt Michael das dreckige Geschirr wieder in die Küche. Alex setzt sich währenddessen zu Branco: „Laß mal fühlen“, sie legt ihre Hand auf seine Stirn „Na ja, etwas Fieber hast Du schon noch.“ Erschöpft schaut Branco sie an: „Mir tut auch immer noch alles weh. Und meine Nase ist total zu.“ Diesen Satz bereut er bereits eine Minute später: „Das hätte ich doch fast vergessen, Du solltest doch heute Abend noch mal inhalieren. Das hat doch heute Mittag so gut geholfen“, fällt Alex wieder ein. Diesmal versucht Branco gar nicht erst, sich dagegen zu wehren. Er hat gelernt, daß das eh nichts bringt. Also läßt er die Prozedur über sich ergehen, und kurz danach schläft er schon ein.
Alex und Michael setzen sich im Wohnzimmer noch kurz zusammen, und leeren die letzten Tropfen aus der Weinflasche. „Wenn nächste Woche das Schlafsofa geliefert wird, und Branco wieder gesund ist und nach Hause kann, dann hast Du Dein Schlafzimmer endlich wieder für Dich allein“ stellt Alex fest. Michael würde sich eher die Zunge abbeißen, als es in diesem Moment zuzugeben, aber langsam sehnt er sich doch mal nach ein bißchen Ruhe und mehr Zeit für sich. Ständig mit Leuten zusammen zu sein ist er gar nicht mehr gewohnt. Und langsam muß er doch mal wieder in seinen „normalen“ Rhythmus zurückfinden. Klar wird sich an der ganzen Situation im Vergleich zu vorher einiges verändern, wenn er jetzt mit Alex eine Art WG gründet, wenn auch nur auf Zeit. Aber so ein bißchen Alltag würde ihm jetzt langsam auch mal wieder ganz gut tun.
Als auch Alex zu gähnen anfängt, verwandeln sie das Wohnzimmersofa wieder in Alex’ Schlafstätte, und Michael verzieht sich zum kranken Branco ins Schlafzimmer.
Am nächsten Morgen ist es Alex, die als erstes wach wird. Zum ersten Mal seit langem verspürt sie wieder so etwas wie Unternehmungslust und Tatendrang. Je nachdem wie es Branco heute geht, könnte sie ja nachher noch mit Michael losfahren und nach einem Kleiderschrank schauen. Überhaupt müßte sie langsam auch mal selbst ein paar Sachen für sich einkaufen gehen. Sie braucht beispielsweise dringend etwas Make-up. Sie schminkt sich ja nun nicht stark, aber so ganz ohne Kajal, Wimperntusche und Lipgloss gefällt sie sich selbst nicht so richtig.
Alex hat bereits geduscht, ihr Bettzeug wieder weggeräumt und Frühstück gemacht, während aus dem Schlafzimmer immer noch nichts zu hören ist, mal abgesehen von vereinzelten Schnarch-Geräuschen von Branco. Leise öffnet Alex die Tür und wirft einen Blick auf „ihre“ beiden schlafenden Männer. Sie muß grinsen bei dem unschuldigen Bild, das die beiden abgeben. Sollen sie sich mal richtig ausschlafen. Branco ist momentan sowieso am erträglichsten wenn er schläft, und Michael hat es wirklich verdient, ein bißchen Ruhe zu haben. Also setzt Alex sich ins Wohnzimmer und beginnt erst einmal alleine zu frühstücken. Dabei macht sie sich eine Liste mit den Dingen, die sie in den nächsten Tagen am dringendsten besorgen muß. Ganz oben auf dieser Liste steht ein Handy. Wie hat man eigentlich früher ohne diese kleinen Teile überlebt? Außerdem würde sie mit Michael dringend das Thema Miete und Lebenskosten durchsprechen müssen. Schließlich füttert er sie jetzt schon fast zwei Wochen durch. Und da es ja nun so aussieht, als ob sie beide noch eine ganze Weile miteinander aushalten wollen würden, sollten die finanziellen Themen schnellstmöglich geklärt werden.
Es ist schon kurz nach 11:00 Uhr, als Michael mit immer noch leicht verschlafenem Blick aus dem Schlafzimmer getappt kommt. „Ausgeschlafen?“, fragt ihn Alex augenzwinkernd. „Du hast gut lachen, Branco hat mich mit seinem Geschnarche die halbe Nacht wach gehalten“, schimpft Michael etwas. Alex setzt einen bemitleidenden Blick auf: „Ach Du Armer!“ „Na ja, als ich endlich eingeschlafen war ging’s dann ja. Oh, Du hast schon Frühstück gemacht, das ist ja mal ein Service!“ In Windeseile verschwindet Michael im Bad, und kurze Zeit später sitzt er schon bei Alex am Frühstückstisch. Beide sagen nichts und genießen einfach nur die Ruhe. Doch nach kurzer Zeit wird die von Branco unterbrochen der inzwischen auch aufgewacht ist. Mit verstrubbelten Haaren, und auch noch etwas verschlafen, kommt er ins Wohnzimmer. „Hey, guten Morgen! Geht’s Dir wieder etwas besser?“, erkundigt sich Alex. „Ja, etwas. Ich muß zugeben, ich glaube Deine furchtbaren Hausmittel gestern haben tatsächlich geholfen.“ Alex lächelt selbstbewußt: „Das habe ich Dir doch gesagt! Du siehst aber immer noch ganz schön fertig aus – ich glaube heute solltest Du mal noch im Bett bleiben.“ Sie steht auf und fühlt seine Stirn. „Etwas Fieber hast Du auch noch. Morgen kannst Du dann denke ich wieder aufstehen. Magst Du was frühstücken?“ Branco schüttelt den Kopf: „Nein danke, ich hab’ keinen Appetit.“ „Na komm, einen Toast ißt Du schon, damit Du was im Magen hast. Ich mach Dir noch einen Tee, und dann bringe ich’s Dir gleich, okay?“ Wenn Branco etwas in den letzten Tagen gelernt hat, dann daß man Alex in ihrer Eigenschaft als Krankenpflegerin nicht widersprechen sollte. Erstens hat es sowieso keinen Sinn, und zweitens hat sie, das muß er ja zähneknirschend zugeben, meistens auch Recht.
Nur ein paar Minuten später kommt Alex mit Tee und Toast ins Schlafzimmer. „Na Branco, wann hat Dir das letzte Mal eine Frau Frühstück ans Bett gebracht?“ Da muß auch Branco grinsen.
Nachdem nun auch Branco erst einmal versorgt ist, geht Alex wieder zu Michael. Sie druckst erst einen Moment rum, aber dann faßt sie sich ein Herz: „Du, Michael, kann ich mal mit Dir reden?“ Erstaunt schaut Michael auf: „Na klar doch, was gibt’s denn?“ Alex setzt sich hin: „Ich möchte mit Dir gerne über die Zukunft sprechen, wie das alles in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen soll. Das wird ja doch für uns beide eine ziemliche Umstellung, wenn ich vorübergehend bei Dir wohne – irgendwie sind wir’s ja beide doch nicht mehr gewohnt, unsere vier Wände mit jemandem zu teilen. Deshalb würde ich gerne so ein paar grundsätzliche Sachen klären, z.B. wie viel Miete ich Dir zahle, wie wir die Abrechnung der Lebensmittel handhaben, und lauter solche Dinge.“ Michael will abwinken: „Alex, jetzt mach’ Dir doch darüber keine Gedanken. Du mußt mir keine Miete zahlen. Schließlich hast Du mir doch auch selber neulich erst erzählt, daß Du gar nicht weißt, wie Du das mit dem Geld in nächster Zeit alles hinbekommen willst.“ Doch den Einwand läßt Alex nicht gelten: „Ja, das stimmt. Aber ich habe alles noch mal überschlagen, im Großen und Ganzen müßte ich das schon alles irgendwie hinbekommen. Ich habe doch schließlich auch mein Gehalt – und wenn ich Dir etwas Miete zahle, komme ich ja immer noch günstiger bei weg, als wenn ich mir eine eigene Wohnung mieten würde. Und außerdem möchte ich keine Almosen. Ich möchte auch nicht das Gefühl haben, Dir auf der Tasche zu liegen, und Dir deshalb immer etwas zu schulden. Da würde ich mich immer bei unwohl fühlen. Deshalb laß uns da bitte eine feste Regelung finden!“ So läßt sich Michael von Alex überreden. Ab dem kommenden Monat wird Alex Michael ein Drittel der Gesamtmiete überweisen. Und beim Einkauf der Lebensmittel werden sie sich abwechseln, so daß die finanziellen Aufwendungen auch da ausgeglichen sein sollten. Alex ist froh, das Thema geklärt zu haben. Obwohl es ja eigentlich gar kein großes Problem war, fällt ihr doch irgendwie ein Stein vom Herzen.
„Was denkst Du, wie lange wir Branco heute alleine lassen können? Ich finde, wir sollten mal losfahren und uns nach einem Kleiderschrank umschauen“, fragt Alex Michael nach seiner Meinung. „Ach, der wird schon ein paar Stunden alleine zurecht kommen, schließlich ist er ja kein kleines Kind“, meint er. „Na ja, aber irgendwie benimmt er sich phasenweise ja gerade doch ein bißchen so“, kontert Alex. Da müssen beide lachen. Zusammen gehen sie ins Schlafzimmer zu Branco, der im Bett sitzt und gedankenverloren seinen Tee trinkt. Beide setzen sich auf das Bett. „Du Branco, wäre es okay für Dich, wenn Michael und ich Dich mal für ein paar Stunden alleine lassen? Wir würden gerne nach einem Kleiderschrank für mein Zimmer schauen. Das soll ja schließlich doch demnächst mal fertig werden.“ Branco zieht eine Schnute: „Na mit mir könnt Ihr’s ja machen. Und was soll ich hier alleine anstellen?“ Dabei setzt er einen leidenden Blick auf und klimpert mit den Augen. „Ach Branco, wenn Du schon wieder versucht mich mit irgendwelchen Blicken umzustimmen, dann geht’s Dir auch schon wieder besser. Du hast ja sonst auch kein 24-Stunden-Animationsprogramm um Dich“ lacht Alex. „Wenn Du willst kannst Du Dich ja im Wohnzimmer auf die Couch legen, da kannst Du dann fernsehen oder DVD schauen“, schlägt Michael vor. Branco gibt sich geschlagen: „Okay, dann ziehe ich mal nach nebenan.“ Also schnappt sich Michael Brancos Bettzeug und trägt es ins Wohnzimmer. Alex brüht noch einmal einen frischen Tee auf, so daß Branco gut versorgt, als die beiden sich auf den Weg machen wollen.
Sie haben die Wohnungstür schon fast hinter sich geschlossen, als das Telefon klingelt. Erst überlegen sie einen Moment es einfach klingeln zu lassen, aber dann gehen sie doch noch einmal rein, und Michael nimmt das Gespräch entgegen. „René Schulze hier“, meldet es sich am anderen Ende der Leitung. „Ach hallo! Na von Euch haben wir ja auch schon lange nichts mehr gehört! Du willst bestimmt die Alex sprechen, oder?“ Ohne die Antwort wirklich abzuwarten gibt Michael das Telefon schon an Alex weiter. „Hallo! Habt Ihr was neues?“, fragt Alex sofort. „Hallo Alexandra! Ja, in gewisser Weise schon, deshalb rufe ich auch an. Ich hatte ja versprochen Euch auf dem Laufenden zu halten. Allerdings muß ich Dir gleich vorneweg sagen, daß wir noch keinen Täter gefaßt haben.“ Alex verzieht etwas das Gesicht. Sie hatte ja schon fast die Hoffnung, daß endlich ein Schuldiger gefaßt worden ist. „Aber Ihr seit mit Euren Ermittlungen schon weiter?“, will Alex wissen. „Ja, das schon“, erhält sie als Antwort, „wir haben das Auto Deines Cousins gefunden, und zwar in der Nähe von Würzburg. Offensichtlich gab es mit dem Wagen einen Unfall. Das Auto stand völlig zerbeult auf einer Landstraße an einem Baum.“ Alex unterbricht die Ausführungen: „So wie Du gerade ausholst habt Ihr aber die Fahrerin nicht gefaßt, oder?“ Die Stimme von René klingt etwas niedergeschlagen, als er zugibt: „Ja, da hast Du Recht. Von der Fahrerin, die mit diesem Wagen vor ein paar Tagen geblitzt wurde fehlt jede Spur. Allerdings wissen wir dafür jetzt genau, daß wir uns wirklich auf die Fahndung nach ihr konzentrieren können.“ Alex ist etwas verwirrt: „Aber woher habt Ihr denn jetzt diese Erkenntnis gewonnen?“ René ist hörbar froh, Alex jetzt endlich auch einmal Infos geben zu können, die eine gewisse Entwicklung im Fall beschreiben: „Im Wagen wurden Benzinkanister gefunden, die ganz offensichtlich als Brandbeschleuniger dienten. Es sind noch einige Rußreste daran sicherzustellen gewesen. Und diese Rußreste gehören ganz eindeutig zu Deinem Haus.“ Alex muß sich erst einmal setzen. Sie hat es zwar geahnt, aber so ganz wollte sie es bis jetzt einfach nicht glauben, daß wirklich ganz offensichtlich irgendwie sie die Schlüsselfigur zur Lösung des Falls ist. Denn daß das geklaute Auto ihres Cousins in Kiel irgendetwas mit der ganzen Sache zu tun hat, das kann kein Zufall sein – das muß ganz eindeutig geplant gewesen sein! „Und jetzt?“ René druckst etwas rum. „Na ja, jetzt läuft halt die Fahndung nach der Frau auf Hochtouren. Außerdem werden wir jetzt noch einmal genauer Dein Umfeld unter die Lupe nehmen, und natürlich auch noch einmal ganz genau die Liste der von Dir gefaßten weiblichen Verbrecher durchgehen. Jetzt wissen wir ja wenigstens, wonach wir suchen, und es ist nicht mehr ganz so wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Also wenn Dir vielleicht doch noch eine Idee kommt, ob Du diese Frau schon einmal irgendwo gesehen hast, dann melde Dich bei uns. Und sonst rufe ich wieder an, sobald wir was neues raus gefunden haben.“ Mit diesen Worten verabschiedet sich René Schulze.
Wie in Zeitlupe beendet auch Alex das Telefonat und legt das Telefon wieder auf die Station. „Was ist denn los, Alex? Was gibt es denn neues?“, erkundigt sich Michael besorgt. In wenigen Worten erzählt Alex Michael und Branco, was sie eben erfahren hat. „Aber das sieht doch dann so aus, als ob der Fall wirklich bald gelöst ist“, versucht Branco den positiven Aspekt dieser Informationen hervorzuheben. „Ja, da magst Du ja Recht haben. Aber der Gedanke, daß der Brand nur wegen mir gelegt wurde ist mir unheimlich und macht mir Angst. Und irgendwie fühle ich mich auch schuldig.“ Den letzten Satz flüstert Alex fast. Michael geht zu ihr hin, und legt seine Hand auf ihre Schulter. „Alex, das Thema hatten wir doch kürzlich schon mal. Schuldgefühle sind das letzte, was Du Dir machen solltest! Jetzt warte erst einmal ab, was die weiteren Ermittlungen ergeben. Mehr können wir jetzt eh nicht machen.“ Alex atmet tief durch: „Ja, Du hast ja Recht. Aber so ganz kann ich das eben nicht einfach aus meinen Gedanken verbannen.“ „Das wird schon“, versucht Branco ihr Mut zuzusprechen. Vom Verstand her gibt Alex den beiden Recht. Also versucht sie sich zusammenzureißen und wechselt das Thema: „Also dann los, Michael. Wir wollten doch noch auf Kleiderschranksuche gehen!“ Etwas zweifelnd schaut Michael Alex an. Eigentlich hatte er erwartet, daß Alex das Einkaufen jetzt absagt, denn man sieht ihr an, wie die neuesten Nachrichten an ihr zehren. „Bist Du sicher? Wollen wir das nicht lieber verschieben? Ich sehe doch, daß Du Dir Gedanken wegen der Ermittlungen machst.“ Alex reagiert fast leicht aggressiv: „Das ist doch auch verständlich, oder? Aber das ändert nichts daran, daß wir uns vorgenommen haben heute einen Schrank auszusuchen, und dann machen wir das auch.“ Mit diesen Worten geht Alex voran zu Michaels Auto. Der wechselt noch einen hilflosen Blick mit Branco. Doch Branco zuckt auch nur mit den Schultern. Es ist wirklich schwierig für die beiden, Alex zu verstehen und ihre Reaktionen nachzuvollziehen. Und in dem Moment gelingt es ihnen wieder einmal gar nicht.
Michael folgt also Alex, die schon ungeduldig am Auto auf ihn wartet. „Wo bleibst Du denn?“ Irgendwie ist Alex gerade mit sich selbst im Unreinen, und das läßt sie aggressiv werden. Ihre gute Laune vom Morgen und die Unternehmungslust sind verflogen. Michael hat ja Recht, jetzt nach dem Telefonat mit René Schulze würde sie sich am liebsten im Bett verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen. Aber das will sie nicht zugeben. Deshalb sitzt sie nun neben Michael und fährt von einem Möbelhaus zum anderen. Wer schon einmal versucht hat mit schlechter Laune ein Möbelstück auszusuchen, der weiß, daß das eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. An jedem in Frage kommenden Schrank hat Alex etwas auszusetzen: Die Farbe ist zu hell oder zu dunkel, die Türen haben häßliche Griffe, der nächste Schrank ist zu hoch, der darauf folgende zu niedrig. Inzwischen ist auch Michael genervt. Zaghaft unternimmt er einen Versuch, das ganze Unternehmen um einen Tag zu verschieben: „Wollen wir nicht nach Hause fahren und dann morgen noch einmal schauen?“ Doch Alex schmettert den Vorschlag ab. Sie hat sich für heute vorgenommen einen Schrank zu finden, also wird sie heute auch einen Schrank kaufen!
Als letztes fahren Michael und Alex zum unvermeidlichen IKEA, da ihre Suche in allen anderen Möbelhäusern nicht von Erfolg gekrönt war. Und tatsächlich – Michael kann sein Glück kaum fassen – Alex entdeckt einen Schrank, der Gnade vor ihren Augen findet. Auch von den Maßen her paßt er wunderbar in ihr neues Zimmer.
Doch wie das mit IKEA-Möbeln so ist, das erste Mal steht man am Parkplatz vor einem klassischen IKEA-Problem: Wie bekommt man das „Bastelset“ für das neue Möbelstück ins Auto. Michael und Alex gehören normalerweise zu den Leuten, die amüsiert beobachten, wie ganze Wohnungseinrichtungen in Kleinwagen verstaut werden müssen, und die Menschen etwas hilflos vor dieser Herausforderung stehen. Doch heute geht es ihnen selber so. Der Schrank weigert sich hartnäckig, sich an die Maße von Michaels Skoda anzupassen. Doch endlich, nach einer halben Stunde, ist das Werk vollbracht, und das Teil im Auto verstaut.
Seit die beiden losgefahren sind, ist nun doch schon eine ganze Zeit vergangen. Langsam bekommt Michael ein schlechtes Gewissen, weil sie Branco so lange allein gelassen haben. Doch als sie wieder zu Hause ankommen, stellt sich diese Sorge als unbegründet heraus: Branco ist vor dem Fernseher eingeschlafen und schnarcht friedlich vor sich hin.
Während Michael die Einzelteile des Schranks aus dem Auto in die Wohnung trägt, verzieht Alex sich ins Schlafzimmer. Sie macht die Tür hinter sich zu, und hofft das Michael versteht, daß sie jetzt gerne alleine sein möchte. Endlich gibt sie ihren Gefühlen nach, wirft sich aufs Bett, und zieht die Decke über den Kopf. Sie will niemanden sehen, mit niemandem sprechen.
„Wo ist Alex?“ Michael hat gerade das letzte Teil des Schranks ins Arbeitszimmer gebracht und fragt nun Branco, der inzwischen wieder aufgewacht ist. „Sie ist ins Schlafzimmer gegangen“, gibt Branco Auskunft. Michael will Alex folgen, doch Branco hält ihn zurück. „Ich würde da jetzt nicht reingehen. Sie hat die Tür doch bestimmt mit Absicht zugemacht. Vielleicht braucht sie auch einfach mal Zeit für sich. Schließlich weiß sie, daß wir hier nebenan sind, und wenn sie uns braucht wird sie sich schon irgendwie bemerkbar machen.“ Widerwillig gibt Michael Branco Recht. Es tut ihm nur so in der Seele weh, wenn er daran denkt, daß Alex jetzt wahrscheinlich auf dem Bett liegt und wieder in Grübeleien versinkt. Aber es stimmt ja auch, genauso wie Branco und er braucht Alex auch mal einen Moment nur für sich. Na ja, wenn am Montag das Sofa geliefert wird, und sie den Kleiderschrank aufgebaut haben (an diese Aktion möchte Michael noch gar nicht denken) da wird sich die ganze Situation vielleicht doch langsam wieder normalisieren.
„Du, Branco, wie soll das denn nächste Woche weitergehen. Wir können doch jetzt unseren Urlaub nicht noch mal verlängern. Und ich würde Alex auch zutrauen, daß sie tagsüber alleine bleiben kann, aber was mir Sorgen macht sind die Termine, die sie dann alleine bewältigen müßte – beim Arzt, beim Therapeuten...“ Branco überlegt einen Augenblick, dann macht er einen Vorschlag: „Du hast Recht, alleine Auto fahren lassen sollten wir sie vielleicht noch nicht, schon gar nicht von der Therapie wieder nach Hause. Aber ich denke es ließe sich einreichten, daß einer von uns sie jeweils hinfährt und wieder abholt.“ Michael findet die Idee gut: „Ja, Du hast Recht, laß uns das so machen. Meinst Du denn überhaupt, daß Du bis Montag wieder so fit bist, daß Du arbeiten kannst?“ Da nickt Branco ganz optimistisch. „Ich fühle mich zwar noch etwas schlapp, aber schon viel besser als gestern. Bis Montag bin ich wieder auf den Beinen.“
Um den Genesungsprozeß noch etwas zu beschleunigen macht Michael für Branco noch einen Erkältungstee. Branco murrt zwar ganz schön, aber Michael läßt keinen Einspruch gelten. Dann verzieht er sich ins Arbeitszimmer, schließlich muß er noch ein paar von den Akten bearbeiten, die er am gestrigen Morgen aus dem Kommissariat geholt hat. Branco läßt sich währenddessen wieder vom Fernsehprogramm berieseln.
Beide merken gar nicht wie die Zeit vergeht. Nach gut drei Stunden fällt Michael erst auf, daß Alex sich immer noch verkrochen hat. „Vielleicht ist sie ja eingeschlafen“, denkt er sich. Doch er will auf jeden Fall einmal nach ihr schauen gehen – geschlossene Tür hin oder her. Auch Branco legt inzwischen kein Veto mehr ein – er macht sich ja selber Gedanken um Alex. Erst vorsichtig, und dann ein klein wenig lauter klopft Michael an die Schlafzimmertür. Nachdem er aber nichts hören kann drückt er vorsichtig die Klinke herunter, öffnet die Tür einen Spalt breit und schaut hinein. Alex schläft nicht. Sie liegt im Bett und starrt die Wand an. Leise spricht er sie an: „Hey Alex, alles klar? Wir haben uns Sorgen gemacht, weil Du Dich so wortlos verzogen hast.“ Genervt verdreht Alex die Augen: „Meine Güte, ich wollte halt mal alleine sein, das ist doch nicht verboten! Ihr seid ja richtige Glucken. Von Privatsphäre habt Ihr auch noch nie was gehört, oder? Bitte geh wieder!“ Ganz hilflos steht Michael im Raum. Soll er der Aufforderung von Alex Folge leisten, oder meint sie das was sie sagt gar nicht so, und er sollte lieber bei ihr bleiben. „Bist Du taub? Ich möchte alleine sein! Mach’ die Tür zu, und zwar von außen!“, faucht Alex ihn an. In diesem Moment beschließt Michael, daß Alex es wohl doch so zu meinen scheint, wie sie es sagt. „Wenn was ist, wir sind nebenan“, meint er noch zaghaft, bevor der den Raum verläßt.
„Und, was ist mit ihr?“, fragt Branco. „Sie liegt wach im Bett, hat furchtbar schlechte Laune und möchte niemanden sehen“, informiert ihn Michael. Mit hängenden Schultern läßt er sich in den Sesseln fallen: „Sie tut mir so leid, ich möchte ihr so gerne helfen.“ Branco schaut ihn an: „Ich weiß, ich doch auch. Aber wir müssen halt akzeptieren, daß es Situationen gibt, in denen wir überfordert sind. Alex fängt sich schon wieder!“
Währenddessen liegt Alex im Bett und ärgert sich über sich selbst. Was sollte diese Aktion eben? Michael hatte ihr doch nichts getan? Aber irgendwie hat sie halt das Telefonat von heute Vormittag total aus der Bahn geworfen. Sie kann es gar nicht verarbeiten, weiß nicht was sie denken soll. Wollte sie jemand mit dem Feuer umbringen? Wenn ja, dann wäre sie weiter in Gefahr, denn sie hatte ja überlebt. Stattdessen waren Tanja und Theresa in den Flammen umgekommen. Und wieder machen sich die Gedanken in ihr breit, die sie bereits ganz kurz nach dem Unglück hatte: Wäre doch nur sie anstelle der beiden gestorben! Doch der Verstand sagt ihr auch, daß diese Gedanken Schwachsinn sind. Und so kämpft es in ihr bereits seit Stunden: In einem Moment gewinnt der Verstand kurz Oberhand, und im nächsten schon wieder die Schuldgefühle und die Verzweiflung. Daraus resultiert auch ihre Gereiztheit! Sie hat das Gefühl, sich selber im Weg zu stehen, weiß nicht was richtig und falsch ist, was sie fühlen und denken soll. Sie möchte weinen und schreien. Sie möchte einerseits in den Arm genommen und getröstet werden, doch andererseits will sie einfach nur alleine sein. Es wird ihr einfach alles zu viel. Schlafen – schlafen und nicht mehr aufwachen – wie schön wäre das? Einfach das ganze Drama hinter sich lassen...
Michael sitzt bereits wieder am PC und kämpft sich durch die Aktenberge. Dabei merkt er gar nicht, wie es draußen dunkel wird, und der Tag sich dem Ende neigt. Wenn nicht auf einmal sein Magen angefangen hätte zu knurren, dann hätte er wahrscheinlich sogar das Abendessen vergessen. Auch Branco hat wieder richtig Appetit – ein untrügliches Zeichen dafür, daß es ihm wirklich langsam wieder gut geht. „Was machen wir mit Alex? Die muß doch auch was essen?“, fragt Michael. Dabei kennt er die Antwort schon. Eigentlich hat er ja keine Lust, sich noch einmal von ihr runterputzen zu lassen, aber es hilft ja nichts. Zaghaft klopft er an die Tür, dann öffnet er sie etwas. „Alex, magst Du mit uns zusammen essen?“ Doch die Laune von Alex hat sich in den vergangenen Stunden nicht unbedingt gebessert. „Ich will niemanden sehen, und ich will auch nichts essen, ich dachte das hätte ich vorhin klar gemacht!“ nach dieser erneuten Abfuhr verläßt Michael wie ein begossener Pudel das Schlafzimmer. Was hat denn Alex nur?
Also deckt Michael den Tisch nur für Branco und sich. Für Alex macht er ein paar belegte Brote, und legt sie auf ein Tablett. Er nimmt noch eine Wasserflasche, und dann betritt er noch einmal das Schlafzimmer. Bevor Alex wieder losschimpfen kann erklärt er schnell: „Ich habe Dir nur was zu essen und zu trinken hingestellt, ich bin schon wieder weg.“ Und schon ist er auch wie versprochen wieder verschwunden.
Alex tut es so leid, wie sie Michael angefahren hat. Aber sie konnte irgendwie einfach nicht anders. In ihr brodelt es. Sich einfach nur verkriechen, niemanden um sich haben, das ist es, wonach sie sich sehnt: Unendliche Ruhe! Es sollen sie doch einfach alle in Ruhe lassen! Alex rollt sich zusammen, als ob sie sich ganz klein machen möchte. Nach einer ganzen Weile fallen ihr über die Grübeleien die Augen zu und sie schläft ein.
Michael und Branco trauen sich den ganzen Abend nicht mehr zu Alex ins Schlafzimmer, sie wollen sie nicht noch mehr reizen. Doch irgendwann werden die beiden müde. „Also irgendwie müssen wir Alex jetzt doch stören, um zu klären, wer denn wo schläft, und schließlich wird sie das Zimmer dann auch mit jemandem teilen müssen“, bemerkt Michael. Wieder klopft er erst leise an, aber als Alex sich nicht rührt, öffnet er die Tür. Er sieht die schlafende Alex, die allerdings offensichtlich auch im Schlaf nicht zur Ruhe kommt. Ihre Bettdecke liegt neben dem Bett, so unruhig schläft sie. Michael geht zu ihr, hebt die Decke auf, und deckt Alex liebevoll zu. Dann nimmt er das Tablett mit dem Abendessen, von dem Alex nicht einen Bissen angerührt hat, und trägt es wieder in die Küche. „Sie ist eingeschlafen“, flüstert er Branco zu. „Das ist gut. Dann schlafe ich heute auf dem Sofa, und Du gehst wieder in Dein Bett. Und morgen Abend bin ich dann auch wieder weg. Mir geht’s ja soweit wieder ganz gut. Und ich bin Dir total dankbar, daß ich die letzten Tage hier bleiben konnte, aber ich denke mal, wir sollten langsam versuchen wieder etwas Alltag einkehren zu lassen. Ich glaube, das würde auch Alex ganz gut tun“, reagiert Branco. Da nickt Michael nur, denn er stimmt seinem Kollegen hier voll und ganz zu.
Als Michael wieder ins Schlafzimmer kommt, um sich hinzulegen sieht er, daß Alex schon wieder die Bettdecke auf den Boden gestrampelt hat. Erneut deckt er sie zu. „Schlaf ruhig, Alex, wir sind doch bei Dir“, flüstert er ihr leise zu. Dann dreht er sich um und ist kurz darauf selber eingeschlafen.
Am nächsten Morgen ist es wieder Alex, die als erstes aufwacht. Sie fühlt sich zwar etwas gerädert, da sie die ganz Nacht sehr unruhig geschlafen hat, aber ihre Laune hat sich im Vergleich vom Vortag wieder etwas gebessert. Da sie Angst hat Michael oder Branco zu wecken, wenn sie jetzt aufsteht, bleibt sie noch ein bißchen liegen. Sie döst, und denkt über den gestrigen Tag nach. „Ich muß mich wirklich besonders bei Michal entschuldigen. Ich glaube ich bin ihn ein paar Mal ganz heftig angefahren“, überlegt sie sich.
Ihren Plan kann sie gleich in die Tat umsetzen, denn gerade ist Michael dabei aufzuwachen. Er blinzelt der Sonne entgegen, die durch die Vorhänge scheint, und dreht sich langsam zu Alex um. „Hey, guten Morgen Alex, Du bist ja schon wach“, murmelt er noch etwas verschlafen. „’N Morgen Michael. Gut geschlafen?“ Michael nickt nur kurz. „Du, ich wollte mich bei Dir entschuldigen, mein Verhalten gestern Abend Dir gegenüber tut mir leid.“ Doch Michael winkt sofort ab: „Mach Dir da mal keine Gedanken drüber – vergeben und vergessen.“ Da fällt Alex ein Stein vom Herzen – Michael ist also nicht sauer.
Während Alex im Bad verschwindet, tappt Michael in die Küche und setzt Kaffee auf. Von dem Duft wird auch Branco wach. Fast noch mit geschlossenen Augen kommt er in die Küche. „So möchte ich bitte ab sofort immer geweckt werden, mit dem Duft von frisch gebrühtem Kaffee“, stellt er unmißverständlich fest. Michael muß grinsen: „Da gewöhn Dich mal gar nicht erst dran, das hast Du schließlich zu Hause auch nicht. Ich glaube Kaffeemaschinen, die man morgens auf eine Uhrzeit programmieren kann, gibt es noch nicht“, kontert Michael. Beide müssen lachen. Noch mit vom Duschen feuchten Haaren betritt Alex die Küche: „Ich rieche frischen Kaffee“, bemerkt sie, was bei den beiden Männern einen erneuten Heiterkeitsausbruch hervorhebt. „Da sind ja die richtigen drei Kaffee-Junkies unter sich“, stellt Michael fest, während er drei Becher aus dem Schrank nimmt, und jedem das braune Lebens-Elixier einschenkt. „Um noch mal auf die programmierbaren Kaffeemaschinen zurückzukommen, das wäre doch mal ’ne sinnvolle Erfindung“, greift Branco das Thema noch einmal auf. „So was gibt’s doch schon längst“, bemerkt Alex. Erstaunt schauen die beiden Männer Alex an. „Echt? Da habe ich noch nie was von gehört! Ich will so eine haben!“, stellt Branco gleich mal klar. Jetzt muß Alex lachen: „Ich werd’s mir merken – das wäre doch mal ein schönes Geburtstagsgeschenk für Dich.“ Branco zieht eine Schnute: „Och nö, das dauert doch noch so lange!“ „Tja, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Abwarten, oder selber kaufen“, gibt Alex ihm den Tip. Doch beides kann Branco nicht so wirklich begeistern. Aber der Gedanke, morgens wirklich immer von Kaffeeduft geweckt zu werden hat schon was verlockendes. Na ja, man kann ja in den nächsten Tagen mal ganz unverbindlich im Internet ein bißchen schauen, was solche tollen Geräte denn kosten.
Nach der morgendlichen Koffein-Grundversorgung sind alle drei bereit für den Tag. Branco ist nur noch etwas heiser, aber ansonsten geht es ihm wieder ganz gut. Auch Alex hat sich von den Ermittlungs-Informationen vom Vortag wieder erholt, und findet sogar langsam ihre Unternehmungslust wieder, und Michael ist einfach nur froh, daß man bei allen merkt, daß es langsam wieder bergauf geht. „Also ich fahre dann mal nach Hause. Ich denke ich habe Deine Wohnung jetzt lange genug bevölkert. Aber wenn Du willst, dann komme ich heute Nachmittag noch mal wieder, um beim Aufbau des Bastelsets zu helfen, was Ihr hier gestern angeschleppt habt“, bietet Branco an. Michael bricht seelisch und moralisch zusammen, den Aufbau des Schrankes hatte er bis jetzt erfolgreich verdrängt. Er haßt solche Aktionen – das wäre der erste IKEA-Schrank, der sich problemlos von ihm aufbauen ließe. Deshalb nimmt er Brancos Vorschlag gerne an: „Da komme ich auf jeden Fall drauf zurück. Ich ruf’ Dich dann an, wenn ich damit anfange, und dann darfst Du mir da gerne behilflich sein.“ Jetzt mischt sich Alex ein: „Aber erst mal würde ich heute gerne noch losfahren, und einige Sachen besorgen. Ich brauche ganz dringend Schminksachen! Außerdem möchte ich gerne wieder ein eigenes Handy haben, nach ein paar Klamotten zu schauen wäre auch nicht schlecht – und Schuhe brauche ich, und dann würde ich auch gerne eigenes Bettzeug kaufen. Über kurz oder lang brauche ich’s ja eh – und wenn am Montag das Schlafsofa kommt, dann wär’s doch schön, wenn ich auch min eigenes Kissen hätte.“ Michael will schon einen Spruch zum Thema Frauen und Shoppen loslassen, doch im letzten Moment schluckt er ihn runter. Schließlich ist er ja froh, daß Alex wieder richtig munter ist und Pläne macht, und das will er nicht für einen dummen Witz riskieren.
Branco sammelt also seine Siebensachen zusammen, und als er sich auf den Heimweg macht starten auch Michael und Alex zu ihrer Einkaufsrunde. „Darf ich fahren?“, fragt Alex. „Du bist doch dabei, also wenn irgendwas sein sollte, dann kannst Du ja weiterfahren.“ Mit dieser Argumentation stimmt Michael zu. Und schließlich muß Alex ja auch sehen, daß sie ihren Alltag wieder komplett alleine bestreiten kann. Aber nach dem Vorfall neulich, als er sie dann vom Möbelhaus abholen mußte, ist er halt doch noch ein wenig skeptisch.
Zuerst besorgen Alex und Michael ein Handy für Alex. Denn auch in Michaels Augen ist das etwas, das sie dringend braucht. Er ist halt einfach beruhigt, wenn er weiß, daß Alex ihn von überall aus anrufen und um Hilfe bitten kann, wenn sie die nächsten Wochen tagsüber allein ist.
Der zweite Weg führt die beiden in ein Bettenlager. Das geht sogar relativ schnell, denn Alex sucht sich spontan eine Decke und ein Kissen aus. Und auch schöne Bettwäsche ist schnell gefunden: Ab sofort wird Alex unter Palmen träumen. „Wo wollen wir als nächstes hin?“, fragt Michael Alex. Doch die winkt ab: „Also ehrlich gesagt bin ich gerade ziemlich erschöpft und würde gerne nach Hause fahren. Laß uns die anderen Sachen nach und nach in den nächsten Tagen besorgen.“ Dem stimmt Michael natürlich zu. Denn so froh er auch ist, daß Alex wieder Interesse an Alltagsdingen und an der Zukunft entwickelt, so genau weiß er auch, daß sie sich auf keinen Fall überanstrengen darf und immer nur das machen soll, was sie sich auch zutraut. „Magst Du fahren?“ Allein diese Frage aus Alex’ Mund zeigt Michael, daß Alex wirklich geschafft ist. Und er spürt, es ist weniger die körperliche Anstrengung, als die seelische Belastung, die Alex halt doch zu schaffen macht. Immer wieder gibt es kleine Situationen, die Alex nachdenklich werden lassen. Zwar hat sie jetzt nichts so aus der Bahn geworfen, wie neulich vor dem Möbelhaus, aber ein paar mal muß sie doch etwas mit sich kämpfen, besonders wenn sie wieder kleine Mädchen sieht, die fröhlich an den Händen ihrer Mütter die Straße entlang hüpfen.
Als sie wieder bei Michaels Wohnung ankommen, legt sich Alex etwas hin, und schläft auch schnell ein. Michael atmet tief durch, und genießt einen Moment die Ruhe in seiner Wohnung. Als er ins Arbeitszimmer geht um am PC seine E-Mails abzurufen, fällt sein Blick sofort auf die Einzelteile des Schrankes. Seufzend greift er zum Telefon und wählt Brancos Nummer: „Hallo Branco! Wie sieht’s aus – steht Dein Angebot noch? Ich würde dann in ’ner Stunde oder so anfangen, den Schrank aufzubauen, und da bin ich wirklich über jede Hilfe dankbar.“ Branco muß grinsen: „Na klar, ich komme dann gleich vorbei – zu zweit packen wir das schon.“ „Na Dein Wort in Gottes Gehörgang“, kontert Michael.
Nur 45 Minuten später steht Branco schwer bepackt bei Michael vor der Tür. „Ich habe den Fernseher mitgebracht, den ich Alex für ihr Zimmer versprochen habe“, erklärt er. „Ja das sehe ich. Na dann mal rein damit, und stell ihn erst mal hier an die Seite, widmen wir uns zuerst mal dem Schrank.“ Branco nickt zustimmend.
Als Alex etwas später wieder aufwacht und schaut, was Michael so treibt, bietet sich ihr ein herrliches Bild: Michael und Branco sitzen umgeben von Hunderten Schrauben, Brettern und Einzelteilen und versuchen verzweifelt anhand der Bauanleitung die Teile so zusammenzusetzen, daß daraus irgendwie ein Kleiderschrank entsteht. Erschrocken schauen die beiden auf, als sie Alex bemerken. „Wie lange sitzt Ihr hier denn schon dran?“, hakt Alex wissend nach. Branco und Michael wechseln einen Blick, und dann beginnen sie beide etwas herumzudrucksen. „Also..., hmm..., wir haben jetzt gar nicht auf die Uhr geschaut....., aber,.... äh..., wir haben gerade erst die Teile ausgepackt“, beantwortet Branco die Frage, allerdings nicht wirklich glaubwürdig. „Gebt’s doch zu Jung, Ihr scheitert gerade kläglich“, streut Alex noch etwas Salz in die Wunden. „Das kannst Du so nicht sagen“, widerspricht diesmal Michael. „Du unterstellst uns hier Sachen! Sei froh, daß wir Dir Deinen Schrank überhaupt aufbauen. Das ist gar nicht so einfach wie Du Dir das vorstellst“, meint er mit schelmischem Unterton. Na damit hat er ja nun Alex’ Ehrgeiz angestachelt. Denn jetzt nimmt sie das Zepter in die Hand. Und so sieht das Ganze aus: Alex studiert die Anleitung und zeigt ihren beiden Männern, wo welches Teil wie zusammengesetzt wird – und siehe da – nach einer knappen Stunde steht ein schöner stabiler Kleiderschrank im Zimmer! Ihren Erfolg kostet Alex durchaus aus. „Da sieht man mal wieder, wie hilflos Ihr Männer ohne uns Frauen seid!“ Da die beiden Herren der Schöpfung doch ein bißchen daran knabbern, daß sie es ohne Alex’ Unterstützung nicht so schnell geschafft hätten, bekommt Alex nicht einmal einen Konterspruch entgegengeschmettert. Auch wenn sie sich über die beiden amüsiert, baut sie sie aber auch gleich wieder etwas auf: „Ach Leute, das zeigt doch nur einmal mehr, was für ein unschlagbares Team wir sind!“ Mit diesen Worten stellt sie sich zwischen Branco und Michael und legt beiden ihre Hände auf die Schultern. „Da hast Du natürlich Recht“, stimmt Branco ihr zu.
Damit beschließen die drei, ihr Tagwerk zu beenden. Inzwischen ist es schließlich schon Abend geworden und Michael knurrt auch schon der Magen. „Wer meldet sich freiwillig zum Kochen?“, fragt er. Doch so die ganz große Resonanz erhält er nicht auf seine Frage. Zwar haben alle drei Hunger, aber sich jetzt erst ewig an den Herd zu stellen... „Ich bin ja dafür, wir bestellen uns was! Ich hätte eh gerade richtig Appetit auf eine ordentliche Pizza“, schlägt Branco vor, und Alex und Michael stimmen begeistert zu.
Und so machen die drei sich einen gemütlichen Samstagabend: Sie sitzen beim leckeren Essen, trinken etwas Rotwein (wobei Branco sich aus zwei Gründen noch etwas zurück hält: Erstens muß er ja noch mit dem Auto wieder heim fahren, und dann hält er es auch nicht für allzu angebracht, wenn er gestern noch Fieber hatte, heute schon wieder dem Alkohol zu frönen. Aber ein kleines Glas in Ehren schadet ja nicht), reden über Gott und die Welt, und anschließend, nachdem sie festgestellt haben, daß im Fernsehen mal wieder nichts gescheites läuft, spielen sie eine Runde Monopoly. Und auch hier ist Alex diejenige, die die Nase vorn hat. Eiskalt zockt sie ihre Kollegen ab. Selbst als sich die beiden gegen sie verbünden und sich auf keinen Handel mehr mit ihr einlassen haben sie keine Chance. Als Michael dann auch noch auf die Schloßallee kommt, auf der Alex gerade ein Hotel errichtet hat, ist das Spiel beendet, und Alex die strahlende Siegerin.
Langsam verabschiedet Branco sich. „Morgen machst Du Dir einen schönen Tag daheim, und wir sehen uns dann übermorgen im Büro“, macht Michael klar. „Aber soll ich morgen nicht wieder herkommen?“, will Branco protestieren. „Nein“, schaltet sich nun Alex ein „entpann’ dich einfach noch einen Tag! Du brauchst doch auch mal Zeit für Dich. Und wenn wirklich irgendwas sein sollt, daß wir Dich plötzlich brauchen, dann klingeln wir einfach kurz durch.“ Da gibt Branco sich geschlagen. Er umarmt Alex kurz, klopft Michael auf die Schulter, und macht sich auf den Nachhauseweg.
Michael und Alex räumen das Spiel weg, trinken noch einen Schluck, und gehen dann auch ins Bett. „Du, Michael“, beginnt Alex ein Gespräch, als beide schon im Bett liegen, „das war wirklich ein schöner Abend heute.“ Michael dreht sich um, so daß er Alex in die Augen schauen kann. „Ja, das fand ich auch. So einen Abend sollten wir auch ganz schnell wiederholen! Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt Monopoly gespielt habe – aber es war wirklich lustig.“ Alex muß grinsen: „Na nach der Staubschicht auf dem Spieldeckel zu schließen muß es wirklich schon eine ganze Weile her gewesen sein.“ Beide lachen. Doch nach einer Weile wird Alex wieder ernster: „Ich glaube, das war der erste Abend, an dem ich nicht ständig an den Brand und alles was damit zu tun hat gedacht habe.“ Alex weiß nicht, was sie davon halten soll. Darf sie sich denn überhaupt amüsieren, wo das Ganze doch noch gar nicht so lange her ist? Als ob Michael Gedanken lesen kann, richtet er sich auf und nimmt Alex in den Arm. „Das habe ich gemerkt – und das war eigentlich das schönste für mich heute: Zu sehen, daß es Dir gut ging, und daß Du Spaß hattest. Du hast es einfach verdient, zwischendurch mal abschalten zu können!“ Beide haben zum ersten Mal seit langem ein Lächeln auf den Lippen, als sie kurze Zeit später einschlafen.
Der Sonntag steht ganz im Zeichen des Umräumens. Das Zimmer von Alex soll wirklich soweit fertig werden, daß sie sozusagen einziehen kann, wenn am nächsten Tag das Schlafsofa geliefert wird. Zuerst einmal räumt Alex ihre wenigen Sachen in den neuen Kleiderschrank. Als nächstes stellen Michael und Alex den Fernseher auf, den Branco am Vortag mitgebracht hat. „So, jetzt muß eigentlich nur noch die Couch hier raus, damit das neue Sofa dann morgen gleich an den richtigen Platz gestellt werden kann, und dann wär’s das“, stellt Michael fest. „Oh man, die Idee hätten wir gestern auch schon haben können, dann hätte Branco mit anfassen können. Aber ihn deshalb jetzt anzurufen mag ich eigentlich auch nicht“, überlegt er weiter. „Ach Quatsch, das schaffen wir auch alleine. Wo soll das gute Stück denn hin?“ „Na in den Keller“, antwortet Michael. „Dann laß uns zuerst nachschauen gehen, ob da genug Platz ist, bevor wir uns mit dem Teil abmühen.“ Gesagt – getan: Beide gehen also erst einmal in den Keller. Sie stapeln einige Sachen noch etwas um, und dann haben sie auch genug Platz, um das Sofa dort zwischen zulagern. „Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht richtig dafür bedankt, daß Du für mich sogar Deine Möbel in den Keller verbannst“, meint Alex, als sie wieder die Treppe hinauf in die Wohnung gehen. „Na da mach’ Dir mal nun echt keine Gedanken drüber – das ist ja nun kein Ding“, winkt Michael ab.
Im Arbeitszimmer stehen die beiden nun etwas hilflos vor dem Problem, wie die Couch am besten zu tragen ist. Unter Fluchen und Stöhnen gelingt es ihnen, das Teil anzuheben, und auch irgendwie aus der Wohnung zu tragen. Michael hat ein ganz schlechtes Gewissen, weil Alex sich auch so quälen muß – aber schließlich hatte sie drauf bestanden, beim Tragen zu helfen. Und von dem Entschluß wäre sie eh nicht mehr abzubringen gewesen. Dazu kennt Michael sie lange genug, um das einschätzen zu können.
Bis ins Treppenhaus geht auch alles gut, doch auf halbem Wege passiert, was einfach passieren mußte: Die Couch, die von Treppenstufe zu Treppenstufe schwerer zu werden scheint, rutscht Michael aus den Händen. Beim Versuch, sie doch noch irgendwie wieder zu halten rutscht er mit dem Fuß von der Treppe ab und stürzt. In dem Moment kann auch Alex das Sofa natürlich nicht mehr halten, es donnert auf die Treppe.
„Michael, was ist los, hast Du Dir was getan“, fragt sie besorgt. „Es geht schon“, antwortet er, aber sein schmerzverzerrter Gesichtsausdruck sagt etwas anderes. „Und was ist mir Dir, Alex. Alles klar?“ Die nickt, und geht zu Michael, der immer noch auf einer Treppenstufe sitzend an der Wand lehnt und noch nicht wieder aufgestanden ist. „Aber Du lügst mich doch gerade an. Los sag Michael, wo hast Du Schmerzen!“ Doch noch immer beschwichtigt Michael: „Nein, nein, halb so schlimm. Ich hab’ mir nur irgendwie den rechten Fuß umgeknickt.“ „Kannst Du aufstehen?“, fragt Alex besorgt. „Ja, klar“. Das stimmt zwar, aber fest auftreten kann Michael mit dem rechten Fuß nicht.
Von dem Lärm im Treppenhaus angelockt kommt ein Nachbar von Michael aus seiner Wohnung: „Was ist denn hier los?“ Sein Blick fällt auf das Sofa, daß die komplette Treppe versperrt, seinen Nachbarn Herrn Naseband und eine Frau, die er nicht kennt. Und so ganz kann er sich keinen Reim auf dieses Bild machen. Alex setzt zu einer Erklärung an: „Wir wollten das Sofa hier runter in den Keller bringen, aber dabei ist mein Kollege irgendwie abgerutscht. Der Lärm tut uns leid.“ „Kein Thema ich konnte die Geräusche nur nicht zuordnen und wollte deshalb schauen, was hier los ist. Brauchen Sie Hilfe?“ Etwas zweifelnd wandert der Blick von Alex von Michael zum Sofa. „Ehrlich gesagt, ich glaube ja. Das Sofa muß ja irgendwie in den Keller, und mein Kollege hat sich den Fuß umgeknickt.“ Alex hat Glück, und der Nachbar erklärt sich bereit, mit ihr das Teil runter zu tragen. Zuerst einmal bringt Alex aber Michael in die Wohnung. Da er starke Schmerzen hat, muß er sich auf Alex stützen. „Ich kümmere mich gleich um Dich! Leg’ den Fuß auf jeden Fall hoch – ich bringe Dir dann gleich was zum Kühlen.“ Mit diesen Worten entschwindet Alex erst noch einmal, sie will ja den freundlichen Nachbarn auch nicht ewig warten lassen. Zu zweit können sie dann das Vorhaben endlich beenden. Die Couch steht im Keller! Alex deckt sie noch mit Folie ab, damit sie nicht einstaubt, und anschließend geht sie wieder in die Wohnung, um sich um Michael zu kümmern.
Mit Verbandszeug und Kühlkissen sitzt sie neben ihm und schaut sich den Fuß an. „Das sieht aber gar nicht gut aus, das wird schon dick. Meinst Du nicht, wir sollten zum Arzt fahren?“ Doch Michael will davon nichts hören: „Ach Quatsch, der wird ein bißchen gekühlt, und dann geht das schon wieder.“ Zwar ist Alex da nicht so ganz von überzeugt, aber sie kann Michael ja schließlich nicht dazu zwingen, zum Arzt zu gehen. Also verbindet sie ihm nur den Knöchel, und kühlt ihn dann. „Oh man, ich könnte mich so ärgern – ich weiß gar nicht wie das eben passieren konnte! Und dann auch noch der umgeknickte Fuß – das kann ich gar nicht gebrauchen!“, schimpft Michael vor sich hin.
Trotz des Verbands und des Kühlens schwillt der Fuß immer weiter an. Da ergreift Alex dann doch ein Machtwort: „Ich fahr’ Dich jetzt ins Krankenhaus. Wenn wirklich nichts ist, dann ist’s ja gut, und Du mußt nichts befürchten.“ Michael zickt zwar ein bißchen rum, aber letztendlich sieht er dann doch ein, daß Alex eventuell Recht haben könnte. Also machen sich die beiden auf den Weg ins Krankenhaus.
Alex wartet in der Wartezone, während Michael geröntgt und untersucht wird. Nach einer knappen Stunde kommt er an Krücken wieder zu Alex. Die will natürlich sofort wissen, was der Arzt denn gesagt hat. „Der Knöchel ist verstaucht. Ich soll ihn halt immer hochlegen, dann viel kühlen, und dann habe ich noch Medikamente gegen die Schmerzen und die Schwellung verschrieben bekommen. Na ja, und die nächsten Wochen steht halt für mich ausschließlich Innendienst auf dem Plan.“ V.a. letzteres trifft ihn wirklich hart. Das weiß Alex, schließlich geht es ihr genauso, der tägliche Schreibkram ist der Teil ihres Jobs, dem beide nicht wirklich etwas abgewinnen können. Doch er gehört halt dazu.
Wieder zu Hause angekommen rufen sie erst einmal bei Branco an: „Hallo Branco, ich bin’s, Michael.“ Branco ist ganz erstaunt, irgendwie hatte er nicht damit gerechnet, heute einen Anruf von den beiden zu bekommen, so wie sie darauf bestanden hatten, daß er sich noch mal einen Tag richtig ausspannt und abschaltet. „Du, ich hab’ mal eine Bitte: Kannst Du mich morgen früh auf dem Weg zur Arbeit abholen?“, fragt Michael. „Ja klar, aber warum denn? Ist Dein Auto kaputt?“, erfolgt die Gegenfrage. Alex, die das Gespräch verfolgt, da das Telefon auf laut gestellt ist, kichert „Das Auto ist nicht kaputt, aber Michael.“ „Wie jetzt?“ Branco versteht nicht so ganz, was eigentlich los ist. In wenigen Worten erklären ihm Michael und Alex, was passiert ist. Branco muß lachen, als er von dem Couch-Unfall hört. Die Vorstellung ist einfach zu komisch. „Hey, jetzt lach mich nicht aus!“, fordert Michael ihn auf, aber irgendwie muß er dabei auch grinsen. Das Bild, daß er bei seinem Sturz abgegeben hat muß wirklich komisch ausgesehen haben. „Du, ich habe absolutes Mitleid mit Dir, ich kann’s nur gerade nicht so zeigen“, bemerkt Branco. „Weißt Du überhaupt, was das für die nächsten Wochen für Dich heißt?“, will Michael wissen. „Daß ich mich schon mal als Dein persönlicher Chauffeur betrachten kann?“ Michael muß lachen: „Okay, das auch. Aber Du darfst jetzt erst mal eine ganze Weile alleine den Außendienst machen, d.h. vielleicht hast Du ja auch Glück und bekommst Unterstützung aus ’ner anderen Abteilung, aber ich falle für den Außendienst leider ’ne ganze Weile aus.“ Zum Glück sieht ja keiner, wie Branco gerade das Gesicht verzieht. Alleine raus zufahren, oder auch zusammen mit irgendwelchen Kollegen, die er nur flüchtig kennt – da hat er ja gar keinen Bock drauf. Aber es ist ja nun mal nicht zu ändern, und es kann ja auch niemand etwas für den Unfall. „Na, dann wirst Du ja bald einen aufgeräumten und leeren Schreibtisch haben, um den Dich alle beneiden werden, wenn Du den ganzen Tag für den Papierkram Zeit hast, und die ganzen Sachen mal abarbeiten kannst, die sich schon seit Ewigkeiten neben Deinem PC stapeln.“ Diesmal ist es Michael, der eine Schnute zieht. „Ja, immer rein in die Wunde – wo ich die Büroarbeit doch so liebe!“ das Geplänkel geht noch eine Weile zwischen den dreien hin und her, bevor sie das Gespräch beenden.
„Jetzt laß uns mal kurz darüber sprechen, wie Du das morgen mit der Fahrerei machen willst“, kommt Michael etwas später auf den organisatorischen Teil des nächsten Tages zu sprechen. „Wann mußt Du denn wo sein?“ Alex überlegt kurz: „Also um 10:00 Uhr habe ich den Termin beim Arzt. Das Möbelhaus hat gesagt, daß das Sofa zwischen 12:00 Uhr und 16:00 Uhr geliefert wird. Hoffen wir mal, daß sie sich daran halten. In der Zeit muß ich also hier sein. Und um 17:00 Uhr habe ich den Termin bei Dr. Sandner.“ Michael denkt nach: „Also nach Deiner Therapiesitzung können Branco und ich Dich auf jeden Fall abholen, das ist kein Problem...“ „...und hin kann ich gut mit der S-Bahn fahren, genauso wie morgens zum Arzt und wieder zurück“, fällt Alex ihm ins Wort. Zwar gefällt die Möglichkeit Michael nicht so ganz, aber schließlich kann Branco auch nicht den ganzen Tag nur Alex hin und her fahren, jetzt wo Michael ja auch nicht fahren kann. Denn sonst hätten sie sich abwechseln können, und alles wäre gar kein Problem gewesen. Widerwillig stimmt er also zu.
Inzwischen ist es Abend geworden. Alex und Michael sitzen bei einem Glas Rotwein zusammen, und schauen sich einen Film an. Zwischendurch läuft Alex immer wieder in die Küche, um neue Kühlkissen für Michaels Knöchel zu holen. Er würde es ja nie zugeben, aber es ist ihm anzusehen, daß er ziemliche Schmerzen hat.
Schon um kurz nach 22:00 Uhr beschließen die beiden ins Bett zu gehen. Sie wollen schließlich am nächsten Tag fit sein, und der wird ziemlich anstrengend. Als sie beide im Bett liegen, dreht sich Alex noch einmal zu Michael um: „Das ist die letzte Nacht, in der ich hier in Deinem Schlafzimmer Asyl suche, ab morgen habe ich ja dann hoffentlich mein eigenes Bett. Und dann kannst Du Dich hier wieder richtig breit machen.“ Michael winkt ab: „Och, mir hat das nichts ausgemacht, aber ich denke schon, daß es schön ist, wenn jeder von uns sozusagen sein eigenes Rückzugsgebiet hat.“ So ähnlich empfindet Alex das auch. Die Nähe in den letzten Tagen hat ihr wirklich gut getan, aber sie sehnt sich auch nach etwas Normalität, die ja dann hoffentlich auch langsam einzieht.
Am nächsten Morgen muß Michael als erstes aufstehen. Natürlich wacht Alex auch auf, als der Wecker klingelt, aber sie blinzelt nur kurz, und Michael meint auch sofort: „Schlaf noch ein bißchen weiter, Du mußt noch nicht aufstehen.“ Schlaftrunken schaut Alex auf, nickt, und kuschelt sich noch einmal richtig unter ihre Decke ein. „Ich wünsche Dir einen erfolgreichen Tag – und wenn irgendetwas ist, dann ruf’ mich sofort an, okay?“, ermahnt Michael sie. Doch das bekommt sie schon fast nicht mehr mit.
Auf die Minute pünktlich steht Branco vor der Tür, um Michael abzuholen. „Mensch Michael, was machst Du denn für Sachen! Ich glaube, bald können wir hier ein eigenes Lazarett einrichten, für Krankheiten und Verletzungen jeder Art“ neckt Branco seinen Kollegen. Michael grinst zwar etwas schief, aber er kommt sich halt komisch vor, nicht ganz so selbständig zu sein, wie normalerweise. Allein schon die Tatsache, daß er nicht selber Auto fahren kann knabbert an seinem Ego. „Kannst Du bitte noch die Akten aus dem Arbeitszimmer holen? Dann können wir sofort los“, bittet er Branco.
Die ersten Minuten der Fahrt sind beide still und hängen ihren Gedanken nach. Zum einen sind sie beide noch nicht so richtig wach und lechzen nach ihren morgendlichen Kaffee im Büro, zum anderen müssen beide auch daran denken, wie der Tag für Alex wohl sein wird. „Ich hoffe, das klappt alles so, und das S-Bahn-Fahren wird Alex nicht zu viel. Ich habe da so meine Bedenken“, unterbricht Michael das Schweigen. „Hmmm, ja, das hoffe ich auch – aber es blieb uns halt nicht wirklich eine andere Wahl. Komm, laß uns optimistisch denken, Alex macht das schon. Schau doch mal, wie positiv sie sich in den letzten Tagen schon entwickelt hat. Und ich habe das Gefühl sie erkennt und akzeptiert ihre Grenzen. Ich meine, als Ihr am Samstag einkaufen wart, da hat sie ja auch irgendwann zugegeben, daß sie lieber heim möchte, als auf Teufel komm raus die Starke zu geben, und dann irgendwann völlig zusammenzubrechen. Deshalb habe ich da eigentlich ein ganz gutes Gefühl.“
Als der Wecker eine Stunde später bei Alex klingelt, empfindet sie es schon als ungewohnt, alleine in der Wohnung zu sein. Schließlich waren die letzten zwei Wochen immer Michael oder Branco um sie herum gewesen, und irgendwie hatte sie sich da schon dran gewöhnt. Noch etwas verschlafen quält sie sich aus den Federn, doch unter der Dusche wird sie langsam wieder munter. Und als sie dann auch ihren morgendlichen Kaffee getrunken hat, fühlt sie sich bereit für die Herausforderungen des Tages. Und davon gibt es genug. Als erstes steht der Arzttermin an. Auch wenn sie vor Michael gesagt hat, daß das alles gar kein Problem ist, wird ihr jetzt doch etwas mulmig, als sie sich in Richtung S-Bahn auf den Weg macht. Doch sie versucht rational an die Situation heranzugehen und fragt sich, wovor sie denn eigentlich Angst hat. Nach kurzer Zeit gesteht sie sich selbst zu, die Frage ehrlich zu beantworten. Sie hat Angst, daß wie neulich auf dem Parkplatz eine simple Beobachtung wieder alle Ängste und Gefühle der Brandnacht in ihr hochkommen läßt, und sie das nicht aushält. „Reiß Dich zusammen, Alexandra!“, spricht sie sich selber Mut zu, „Du bist doch sonst auch keine Mimose!“
In der S-Bahn vertieft Alex sich so in ein Buch, daß sie zur Ablenkung mitgenommen hat, so daß sie fast den richtigen Halt verpaßt. Als sie die paar Meter vom S-Bahnhof zum Arzt geht ist sie fast ein bißchen stolz auf sich. Das ging doch schon mal super – sie sollte sich nicht zu viele Gedanken machen. Aber das ist schließlich leichter gesagt als getan. Trotzdem ist Alex erst einmal optimistisch eingestellt.
Die Untersuchung beim Arzt dauert nicht lange. „Physisch sind Sie wieder gesund! Aber Sie haben mir ja selber das Schreiben des Therapeuten gegeben, der empfiehlt, Sie noch zwei weitere Wochen krank zu schreiben, und dieser Empfehlung werde ich natürlich nachkommen.“ Anschließend wünscht er ihr weiterhin alles Gute, und Alex kann sich schon wieder auf den Heimweg machen. Das paßt ihr auch ganz gut, daß sie so schnell wieder aus der Praxis draußen ist, schließlich muß sie ja rechtzeitig daheim sein, um ihr Schlafsofa in Empfang zu nehmen. Doch die Rückfahrt mit der S-Bahn verläuft nicht ganz so entspannt, wie die Hinfahrt. Schräg gegenüber von Alex nimmt eine junge Frau mit einem ca. dreijährigen Mädchen Platz. Überhaupt scheint es nur so von Kindern zu wimmeln. Natürlich ist Alex in Gedanken sofort wieder bei Tanja und Theresa. Sie versucht sich mit ihrem Buch abzulenken, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu bringen, aber so ganz gelingt ihr das nicht. Immer wieder schaut sie auf und betrachtet die Kleine mit traurigen Augen. Die Erinnerung übermannt sie so heftig, daß sie am liebsten losweinen möchte, doch sie kämpft mit sich und gewinnt den Kampf auch halbwegs. Nur wer ihr in diesem Moment tief in die Augen schauen würde, der würde entdecken, daß sie ganz feucht sind. Aber sie schluckt die Tränen runter, so schwer ihr das auch fällt. An der nächsten S-Bahn-Station beschließt Alex trotzdem auszusteigen, und auf die nächste S-Bahn zu warten. Die ganze Zeit das kleine Mädchen vor Augen zu haben wird ihr einfach zu viel. Das kurze Warten an der frischen Luft auf die nächste Bahn tut ihr gut. Sie atmet ein paar Mal tief durch, und beruhigt sich dadurch wieder etwas. In der nächsten S-Bahn sind wirklich keine Kinder, so daß die Wunden von Alex nicht erneut aufgerissen werden, aber nichtsdestotrotz ist sie froh, als sie endlich aussteigen kann. Sie läuft die paar Meter von der S-Bahn-Station nach Hause, wo sie sich erschöpft aufs Sofa fallen läßt. „Ich kann doch nicht jedes mal fast zusammenbrechen, wenn ich irgendwo ein Kind sehe! So geht das doch nicht weiter!“ Sie vergräbt ihr Gesicht in den Händen, die Verzweiflung macht sich wieder einmal breit. Doch Alex kämpft gegen das Gefühl an. Sie will sich nicht gehen lassen, und sie will zurück in die Normalität.
Sie rafft sich auf, und geht erst einmal in die Küche, sich eine Kleinigkeit zu essen zu machen. Dann setzt sie sich vor den Fernseher, und läßt ihren Gedanken freien Lauf, so daß sie vom Programm gar nichts mehr mitbekommt: Genau zwei Wochen ist es jetzt her, daß sie nach dem Feuer nachts völlig verzweifelt vor dieser Wohnungstür gestanden hatte. Zwei Wochen – einerseits kommt es ihr wie eine Ewigkeit vor, andererseits hat sie die Bilder immer noch vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Und jede Nacht plagen sie Albträume. Sie ist froh, daß Michael nicht mehr sofort aufwacht, wenn sie aufschreckt. (Wahrscheinlich hat er sich inzwischen einfach daran gewöhnt, daß jemand neben ihm schläft. Und in den ersten Nächten war er aus lauter Sorge um Alex eventuell auch etwas hypersensibilisiert, was inzwischen wieder auf ein normales Maß gesunken ist.) Denn noch immer wacht sie jede Nacht mindestens einmal wieder auf, weil sie den Brand wieder und wieder erlebt. Alex setzt große Hoffnungen in die Therapie: Sie will ihr altes Leben zurück.
Über all diesen Gedanken spürt Alex, wie erschöpft sie ist. Gerne würde sie die Augen zumachen, aber sie traut sich nicht, so lange die Couch nicht geliefert worden ist. Nicht, daß sie im entscheidenden Moment die Klingel nicht hört, und die Möbelpacker unverrichteter Dinge wieder entschwinden. Also macht sie sich noch einen Kaffee, um gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Doch das nützt nicht viel, noch immer ist sie ziemlich müde.
Die Zeit vergeht, Alex liest etwas, schaut fern, und langsam wird sie etwas unruhig, wenn sie im Viertelstundentakt den Blick auf die Uhr wirft. Inzwischen ist es schon 15:30 Uhr – bis 16:00 Uhr sollte das Sofa ja geliefert sein, und zu ihrer Therapie um 17:00 Uhr darf sie eigentlich auch auf keinen Fall zu spät kommen! Das war ja so klar, auf die Zeiten bei solchen Möbellieferungen darf man sich nicht verlassen, dann ist man verlassen. Sie wird immer unruhiger. Was macht sie denn jetzt, wenn die mit dem Sofa nicht rechtzeitig kommen?
Gegen 16:15 Uhr, Alex will gerade im Kommissariat anrufen, um zu fragen ob Michael nach Hause kommen kann, oder was sie sonst machen soll, klingelt es dann doch noch an der Wohnungstür, und das Sofa wird geliefert. Alex fällt ein Stein vom Herzen, daß das mit der Zeit doch noch so gepaßt hat. Zwei Möbelpacker tragen das gute Stück in das neue Reich von Alex, machen die Folie ab, Alex unterschreibt die Empfangsbestätigung, und schon sind die beiden Herren auch wieder weg. Am liebsten würde Alex es sich ja auf dem Sofa gleich mal bequem machen, aber sie muß schnell los, damit sie rechtzeitig bei Dr. Sandner ist. Nach dem Erlebnis am Vormittag kann Alex sich nur schwer dazu aufraffen, schon wieder in die S-Bahn zu steigen. Aber schließlich gibt es nicht wirklich eine Alternative. Und sie macht sich auch immer wieder bewußt, daß sie ihre Ängste und Bedenken schließlich überwinden will.
Die Therapiesitzung ist sehr anstrengend für Alex. Immer und immer wieder muß sie über die Brandnacht sprechen, also genau über das, was sie eigentlich versucht zu verdrängen. Doch schließlich hilft es nichts, die Erinnerungen zu verdrängen, sie muß sie verarbeiten, und das ist schließlich auch der Zweck der Therapie.
Als sie nach einer guten Stunde von Michael und Branco abgeholt wird, ist sie ziemlich erschöpft. Erstens war sie ja schon am Nachmittag müde, und zweitens hat halt auch die Therapiesitzung an ihren Kräften gezehrt. Auf der Heimfahrt ist sie deshalb ganz ruhig, und schon auf der kurzen Strecke fallen ihr fast die Augen zu.
Natürlich kommt Branco noch mit hoch in Michaels Wohnung, als sie zu Hause sind. Schließlich will er ja auch sehen, wie sich das neue Sofa nun im Zimmer macht. Endlich ist aus dem Arbeitszimmer nun das Zimmer von Alex geworden. „Ich muß noch mal kurz runter zum Auto, ich hab’ doch was vergessen“, stellt Branco auf einmal fest. Und schon ist er auch schon aus der Tür entschwunden. „Was ist denn nun los?“, wundert sich Alex, doch Michael grinst nur. Nach nur zwei Minuten ist Branco auch schon wieder da – mit einem riesigen Blumenstrauß! „Der ist von Michael und mir für Dich – sozusagen zum ,Einzug’ in Dein neues Reich. Alles Gute!“ Alex ist total gerührt. „Das ist so lieb von Euch! Und Ihr macht doch die ganze Zeit schon so viel für mich, ich weiß gar nicht wie ich mich je dafür bedanken kann!“ Dann umarmt sie erst Branco, und dann Michael. „Ihr seid echt die besten Freunde, die man sich wünschen kann!“ Und bevor die beiden wieder protestieren können verläßt Alex schnell das Zimmer, um die Blumen ins Wasser zu stellen.
„Wollen wir uns etwas zu essen bestellen, oder wollen wir kochen?“ fragt Michael, dem langsam der Magen knurrt. „Also Jungs, bitte seid mir nicht böse, aber ich habe gar keinen Hunger, und ich bin auch so müde, ich würde gerne schon ins Bett gehen“, antwortet Alex. Michael und Branco schauen sie ganz irritiert an. „Alex, es ist noch nicht mal ganz 20:00 Uhr. Ist alles in Ordnung mit Dir?“, will Branco wissen. „Ja klar, Ihr braucht Euch keine Sorgen um mich machen, aber der Tag war ziemlich anstrengend, und ich bin einfach total fix und fertig, mir fallen die Augen fast im Stehen zu.“ Wie zur Bestätigung muß Alex in diesem Moment herzhaft gähnen. „Okay, dann ruh’ Dich aus! Gute Nacht – und träum’ was schönes – in Deiner ersten Nacht im neuen Bett“, wünscht Branco ihr.
„Was war das denn jetzt?“, will Michael wissen, „so früh geht Alex doch nie ins Bett!“ Auch Branco ist immer noch ein wenig verunsichert, aber man hat ja auch gesehen, daß Alex ziemlich müde war, deshalb will er dem ganzen keine größere Bedeutung beimessen. „Schau mal, es war der erste Tag, wo sie alleine unterwegs war, und dann gleich zweimal weg mußte. Und dann hast Du doch auch gemerkt, wie still sie war, als wir sie von diesem Dr. Sandner abgeholt haben, die Sitzung scheint ihr auch Kraft gekostet zu haben, da ist es doch nicht verwunderlich, daß sie jetzt müde ist“, redet er auf Michael ein. Trotzdem läßt er sich von Michael nach 20 Minuten überreden, leise an der Zimmertür zu lauschen, ob Alex wirklich schläft, oder ob sie sich etwa nur zurückgezogen hat um eventuell ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Als Branco nichts hört, öffnet er vorsichtig die Tür – und sieht, daß Alex wirklich tief und fest schläft. „Sie muß wirklich total erschöpft gewesen sein“, denkt er sich, während er die Tür lautlos wieder schließt. Nun kann er also auch Michael etwas beruhigen. Doch so ganz können beide ihre Sorgen um Alex nicht loslassen. Denn allein die Tatsache, dass ein doch relativ normaler Tag sie noch so mitnimmt zeigt, daß sie noch einen langen und schweren Weg vor sich hat.
Branco verabschiedet sich relativ bald von Michael und fährt heim. Und Michael macht sich einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher – und in gewisser Weise genießt er es sogar, mal wieder allein da zu sitzen, und einfach die Gedanken schweifen zu lassen. Langsam scheint doch alles wieder in geregelten Bahnen zu laufen.
Am nächsten Morgen schläft Alex immer noch, als Branco Michael zur Arbeit abholt. Deshalb schreibt Michael ihr einen Zettel, den er auf die Kaffeemaschine legt. Denn da ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie ihn übersieht doch relativ gering. Und so ist es dann auch. Gegen 09:00 Uhr öffnet Alex die Augen und blinzelt dem neuen Tag entgegen. Als ihr Blick auf die Uhr fällt ist sie selber erstaunt, wie lange sie geschlafen hat: „Das ist doch fast nicht normal, 13 Stunden am Stück durchzuschlafen!“ Sie schüttelt den Kopf darüber, und tappt erst mal in die Küche, um sich ihren morgendlichen Koffeinschub fertig zu machen. Und da springt ihr auch gleich der Zettel von Michael ins Gesicht: „Guten Morgen Alex! Na, Du kleine Schlafmütze!? Ich hoffe Dir geht’s gut – wir haben ja gestern kaum ein Wort miteinander geredet, weil Du so schnell verschwunden warst. Ruf uns doch einfach mal im K11 an – wir vermissen Dich doch so im Büro! *g* LG, Deine ,Jungs’“ Alex muß grinsen, als sie sich das durchliest. Die Nachricht ist ja auch zu lieb geschrieben. Sie nimmt sich ihren fertigen Kaffee und geht ins Wohnzimmer, um der Aufforderung Folge zu leisten und die beiden anzurufen, als das Telefon klingelt. Dabei hat sie auf einmal ein ganz eigenartiges Gefühl – es ist fast ein bißchen Aufregung, als ob gleich irgendetwas wichtiges passiert. „Alexandra, langsam wirst Du wirklich etwas paranoid“, schilt sie sich selber. Doch so ganz abschütteln kann sie die undefinierbaren Empfindungen nicht. Und so wirklich überrascht ist sie auch nicht, als sich am anderen Ende der Leitung René Schulze meldet. „Ich habe gute Nachrichten für Dich, Alexandra.“ Das Kribbeln in der Magengegend von Alex wird immer stärker. „Wir haben den Täter“, fährt René Schulze fort, „oder besser gesagt die Täterin.“ Zum Glück sitzt Alex schon, denn diese Information haut sie nun wirklich um. „Täterin?“, fragt sie noch einmal zweifelnd nach. „Auch wenn ich ja wußte, daß Ihr nach dieser mysteriösen Fahrerin des gestohlenen Wagens fahndet hätte ich trotzdem gedacht, daß ein Mann dahinter steht. Ich meine, was ist das denn für eine Frau, die es in Kauf nimmt u.a. ein kleines Kind zu töten?“ Alex ist ganz blaß geworden und es läuft ihr kalt den Rücken runter. So sitzt sie fast versteinert in ihrem Schlafanzug auf dem Sofa und ist immer noch fassungslos. Mechanisch greift sie nach der Decke, die neben ihr liegt, und legt sie sich um die Schultern. Doch das Frösteln kommt nicht wirklich von der Raumtemperatur, sondern von innen. „Wer ist es denn? Und v.a. warum? Warum hat sie so etwas getan?“ Die letzte Frage flüstert sie fast. Gerne hätte sie jetzt Branco oder Michael neben sich sitzen, denn sie hat Angst, daß sie gleich einen Namen hören wird, den sie kennt. „Also ehrlich gesagt, das Motiv ist uns auch noch völlig unklar. Den einzigen Satz, den die Frau seit ihrer Festnahme gesagt hat war, daß sie nichts sagen wird. Deshalb hoffen wir jetzt ehrlich gesagt auch etwas, daß Du uns weiterhelfen kannst. Vielleicht kennst Du sie ja, und kannst uns sagen, ob sie irgendeinen Grund hat, Dir etwas antun zu wollen.“ Alex weiß gar nicht, was sie darauf erwidern soll. „Wer ist es denn nun?“, wiederholt sie ihre Frage. Diesmal kommt die Antwort prompt: „Christina Seiffert!“
Alex denkt krampfhaft darüber nach, ob sie diesen Namen irgendwo schon einmal gehört hat, und wenn ja in welchem Zusammenhang. Doch spontan fällt ihr da nichts ein. „Tut mir leid, aber der Name sagt mir gar nichts.“ So richtig weiß Alex gar nicht, ob sie darüber froh oder betrübt sein soll. Zum einen hatte sie halt gehofft, daß sie mit der ganzen Sache eher abschließen kann, wenn der Täter endlich gefaßt ist. Doch so lange das Motiv und die Verbindung zwischen ihr und dem Täter, die ja doch irgendwie da sein muß, was die Tatsache beweißt, daß die Brandstifterin ja ausgerechnet das Auto ihres Cousins gestohlen hatte, noch nicht aufgedeckt ist, wird das noch nicht der Fall sein. „Na ja, wir werden die Hintergründe der Tat schon entschlüsseln“, meint René Schulze, und versucht dabei optimistisch zu klingen. Doch so ganz kann er die Enttäuschung auch in seiner Stimme nicht verbergen. Zu groß war die Zuversicht, daß Alex die Täterin bestimmt kennen und damit etwas Licht ins Dunkel bringen würde. „Wir werden dann mal versuchen, was wir über die Dame so noch herausfinden können. Bestimmt kommen wir dann auch so ganz schnell auf das Motiv.“ Das hofft Alex auch sehr: „Ihr meldet Euch dann wieder bei mir, wenn Ihr was wißt, okay?“ Das verspricht René Schulze ihr natürlich sofort.
Nach dem Telefonat ist Alex etwas durch den Wind. Ihre Gedanken kreisen immer wieder um diesen einen Namen: Christina Seiffert. Er kommt ihr überhaupt nicht bekannt vor, aber trotzdem grübelt sie immer weiter. Es muß doch eine Verbindung zwischen ihr und dieser Frau geben, diese Tatsache hat Alex ja nun auch inzwischen eingesehen. Während sie so dasitzt und nachdenkt merkt sie gar nicht, wie spät es geworden ist.
Michael sitzt im Kommissariat und fängt langsam an, sich Sorgen zu machen, weil Alex sich nicht meldet. Hat sie den Zettel nicht gefunden? Nein, das ist eigentlich unmöglich. An die Kaffeemaschine geht sie immer als erstes am Morgen. Und da es inzwischen fast 12:00 Uhr ist kann sie eigentlich auch gar nicht mehr schlafen. Deshalb beschließt Michael, sie mal anzurufen und nachzufragen, wie es ihr geht. (Na ja, und außerdem ist ihm auch gerade ein wenig langweilig im Büro, da Branco wirklich mit einem anderen Team zu einem Tatort unterwegs ist.) Es ist ganz ungewohnt für Michael, seine eigene Telefonnummer zu wählen, und auch zu erwarten, daß sich am anderen Ende der Leitung jemand meldet.
Das Klingeln des Telefons reißt Alex aus ihren Gedanken. Nach dem dritten Klingeln ist sie soweit wieder in der Gegenwart angekommen, daß sie das Gespräch entgegen nehmen kann. „Rietz bei Naseband“, meldet sie sich. „Hallo Du treulose Tomate! Hast Du unseren Zettel nicht gefunden? Ich dachte Du meldest Dich mal“, neckt Michael sie. „Ach so..., ja..., der Zettel..., nein..., ich meine doch..., ja, ich habe ihn gefunden. Sorry, daß ich noch nicht angerufen habe.“ Michael merkt, daß Alex irgendwie etwas durch den Wind ist. „Alles in Ordnung mit Dir? Ist was passiert? Du klingst so komisch“, hakt er sofort nach. „Nein, es ist schon alles in Ordnung.“ Und dann berichtet Alex ihm, was sie von René Schulze erfahren hat. „Und jetzt grübele ich die ganze Zeit darüber nach, ob mir der Name nicht vielleicht doch schon mal irgendwo untergekommen ist“, beendet sie die Zusammenfassung des Telefonats von vorhin.
Michael weiß gar nicht, was er jetzt sagen soll. „Ich kann Dich ja verstehen, ich glaube an Deiner Stelle würde ich mir auch den Kopf zerbrechen. Aber es bringt nichts. Du hast doch eigentlich ein ganz gutes Namensgedächtnis, und wenn Dir der Name wirklich gar nicht bekannt vorkommt, dann vermute ich eigentlich auch, dass Du ihn wirklich noch nie gehört hast.“ Alex gibt Michael zwar Recht, aber so ganz kann sie das Nachdenken darüber natürlich nicht abbrechen. „Warum? Michael, ich will einfach nur wissen, warum sie das alles gemacht hat!?“, meint Alex, und ihre Stimme klingt etwas kläglich. „Gib den Kollegen noch ein kleines bißchen Zeit, dann bekommen wir auch eine Antwort auf die Frage. Du weißt doch selber – wenn der Täter erst mal gefaßt ist, dann kommt man auch ganz schnell hinter das Motiv, auch wenn das bis dahin noch unklar ist. Und die Beweislast gegen diese Seiffert ist doch so erdrückend, daß es gar niemand anderes gewesen sein kann, oder?“ Dem stimmt Alex zu. Michael spürt, daß diese ganze Ungewißheit Alex mürbe macht, doch im Augenblick kann er nicht viel für sie tun, was ihm in der Seele weh tut. „Paß auf Alex, Du machst Dir heute einen richtig gemütlichen Tag, und versucht Dich ein bißchen abzulenken und zu entspannen. Und ich versuche hier heute Abend wirklich pünktlich Schluß zu machen, damit Du nicht so lange alleine bist, okay?“ „Jetzt mach’ Dir mal keinen Streß, ist doch alles kein Thema, ich komm’ schon klar“, versucht jetzt Alex Michael zu beruhigen, doch so ganz gelingt ihr das nicht, Und irgendwie findet sie es ja auch total lieb, welche Sorgen er sich um sie macht, und es fällt ihr, wenn sie ganz ehrlich zu sich ist, auch noch ein wenig schwer, den ganzen Tag über alleine zu sein – auch wenn sie es ja eigentlich gewohnt ist.
Nach dem Telefongespräch mit Michael verfällt Alex aber doch wieder in Grübeleien. Ihre Gedanken kreisen nur um eine Frage: Wer ist Christina Seiffert? Diese Ungwißheit belastet sie mehr, als sie gedacht hat. Sollte sie nicht eigentlich ruhiger werden, jetzt wo der Täter gefaßt ist? Aber so lange die Hintergründe nicht klar sind, ist eher das Gegenteil der Fall.
Die ganze Sache schlägt Alex auf den Magen. Sie hat keinen Appetit, obwohl sie außer der halben Tasse Kaffee am Morgen noch nichts zu sich genommen hat, und sie bekommt richtige Magenkrämpfe. „Das ist echt nicht mein Tag heute“, denkt sie sich und beschließt, Michaels Rat anzunehmen, und den Tag über eigentlich nichts zu tun. Sie macht sich Kamillentee, sucht die Wärmflasche, und kuschelt sich dann in einer Decke auf dem Sofa ein. Dabei läßt sie sich vom Fernsehprogramm berieseln, und es gibt tatsächlich Momente, in denen sie Christina Seiffert vergißt.
Michael hat Wort gehalten – auf die Minute genau macht er Feierabend, und auch Branco ist inzwischen wieder im Büro, so daß er Michael nach Hause kutschieren kann. „Soll ich noch mit rauf kommen?“, fragt er Michael. Doch dieser winkt ab: „Ach Quatsch, Du kannst schließlich nicht jeden Abend hier rumhängen, Du hast schließlich auch noch eine eigenes Leben, daß Du schon viel zu lange hinten angestellt hast. Wenn was ist, dann melde ich mich bei Dir.“ Branco läßt sich überzeugen und fährt gleich wieder.
Als Michael in die Wohnung kommt, fällt sein Blick sofort auf Alex, die mal wieder vor dem Fernseher eingeschlafen ist. Die Decke liegt halb auf dem Boden, und auch die Wärmflasche ist inzwischen runter gefallen. Dann entdeckt er auch den Tee. „Na nu, Kamillentee und Wärmflasche, was ist denn mit Alex los?“ Doch bevor er den Gedanken richtig weiterverfolgen kann, wacht Alex auf. „Oh, hallo! Du bist schon hier?“, murmelt Alex noch etwas schlaftrunken, als sie Michael sieht. „Ja, ich hab’ Dir doch versprochen, daß ich pünktlich Feierabend mache. Aber was ist denn mit Dir los? Geht’s Dir nicht gut?“ Dabei zeigt er auf den Tee und die Wärmflasche. „Alles halb so schlimm, ich hatte nur etwas Magenschmerzen, geht aber schon wieder.“ Bevor sie das Thema vertiefen muß, werden sie vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Als sich René Schulze meldet, stellt Michael das Telefon gleich auf laut. „Wir haben gute Neuigkeiten, ich glaube wir haben die Verbindung von Christina Seiffert zu Dir gefunden, Alexandra“, teilt er mit. Bei diesen Worten ist Alex mit einem Schlag wieder richtig wach. „Es gibt also definitiv eine Verbindung“, denkt sie sich. Eigentlich hat sie es ja eh schon eine ganze Weile gewußt, daß es so sein muß. Aber irgendwie war da halt doch noch ein Funken Hoffnung, daß dem nicht so ist. Alex ist völlig angespannt. Michael bemerkt das natürlich, setzt sich neben sie, und legt seine Hand auf ihre Schulter. Doch Alex bekommt das gar nicht richtig mit, in ihr krampft sich alles zusammen, und auch die Magenschmerzen sind natürlich wieder da. „Also Seiffert ist nur ihr heutiger Name, sie hat geheiratet, früher hieß sie Ordczinsky“, vernimmt sie die Stimme am Telefon. Sie wird ganz blaß im Gesicht, und fängt an zu zittern: „Oh mein Gott, das glaube ich jetzt nicht“, flüstert sie. In diesem Moment legt Michael seinen Arm um sie: „Was ist denn los, wer ist das, kennst Du sie?“, fragt er leise. Doch Alex hört die Fragen gar nicht. Deshalb beantwortet René Schulze stellvertretend: „Christina Seiffert, beziehungsweise damals halt noch Ordczinsky, hat von 1995 bis 1999 an der Fachhochschule in Oldenburg studiert, also teilweise auch in der Zeit, in der Alexandra dort studiert hat. Und beide haben auch teilweise an den gleichen Vorlesungen teilgenommen, kennen sich also von daher. Uns fehlt jetzt nur noch das genaue Motiv – was ist damals vorgefallen, wofür sich diese Frau heute rächen will. Da Christina Seiffert weiter schweigt hoffen wir jetzt, daß Du uns da weiter helfen kannst, Alexandra.“ Doch Alex sitzt immer noch wie versteinert da, und reagiert auf die Frage gar nicht. „Du René, kann Alex nachher zurückrufen? Sie ist gerade etwas durch den Wind durch die Nachricht, ich glaube sie muß erst mal durchatmen“, ergreift Michael die Initiative. „Ja klar, kein Problem. Denkst Du, Ihr könnt Euch innerhalb der nächsten Stunde wieder melden?“, fragt René nach. „Ja klar, machen wir, danke!“ Michael beendet das Telefonat. Vorsichtig nimmt er Alex in den Arm, die sich auch langsam von dem ersten Schock zu erholen scheint und wieder zu sich kommt. „Ich glaub’ das einfach nicht! Das kann gar nicht sein!“, flüstert sie vor sich hin. Mit ruhiger Stimme spricht Michael auf sie ein, während er ihr mit seiner rechten Hand über den Rücken streicht: „Erzähl mir, was ist mit dieser Frau. Was ist damals vorgefallen, daß sie so einen Haß auf Dich hat.“ Langsam löst sich Alex aus Michaels Umarmung. „Okay, ich erzähl’ Dir alles, was ich weiß. Aber wenn es nicht so dramatisch wäre, dann könnte man echt meinen, das ist eine Geschichte auf Kindergarten-Niveau. Also ich habe doch von ’94 bis ’97 an der FH in Oldenburg studiert. Gleich im ersten Semester habe ich mich mit einem Kommilitonen super angefreundet: Markus Druge. Aber nicht das, was Du jetzt denkst, und was fast alle anderen damals auch erst gedacht haben – wir waren nie zusammen, also wir waren nie ein Paar, sondern richtig gute Freunde. Ich würde sagen mit dem Verhältnis vergleichbar, was wir beide zueinander haben. Irgendwann tauchte dann also diese Christina Ordczinsky auf, und verknallte sich total in Markus. Der wollte aber nichts von ihr, und hat ihr das auch immer wieder deutlich gemacht. Doch sie hat das einfach nicht akzeptiert, sondern hat ihn regelrecht verfolgt. Und irgendwann kam sie dann auf den Trichter, daß ich ja Schuld daran bin, daß Markus nichts von ihr will. Damit hatte sich dann ihr gesamter Zorn gegen mich gerichtet, und glaub’ mir, sie konnte einem das Leben zur Hölle machen. Von zerstochenen Autoreifen bis zu verschwundenen Unterlagen habe ich das ganze Repertoire mitgemacht. Irgendwann hat sie sich dann zum Glück in jemand anderes verguckt, und ist mit dem dann auch zusammen gekommen. Doch was ich gehört habe, muß diese Beziehung der absolute Horror gewesen sein. Der Typ hat sie geschlagen und mißhandelt. Als sie sich dann endlich von ihm getrennt hat, da hat sie mir die Schuld für diese katastrophale Beziehung gegeben. Ich hätte Markus daran gehindert, mit ihr zusammen zu sein. Wenn ich ihn freigegeben hätte, dann wären sie zusammen glücklich geworden, und sie wäre nie an diesen Schläger geraten. Das war ihre Theorie. Na ja, ich war ja dann fertig mit dem Studium, und seit ich von der FH runter bin, habe ich nie wieder etwas von ihr gehört – das ist jetzt fast zehn Jahre her. Die ganze Geschichte sollte also eigentlich längst verjährt und abgehakt sein!“ Fassungslos hört Michael zu, was Alex ihm erzählt. „Und was ist aus diesem Markus geworden? Hast Du heute noch Kontakt zu ihm? Oder hat er vielleicht auch noch Kontakt zu dieser Christina Seiffert?“, fragt er nach. Traurig schaut Alex Michael an: „Markus ist im Dezember `96 bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen. Er ist in seinem Auto.... verbrannt!“ Alex stockt: „Oh mein Gott – deshalb hat sie das Feuer bei mir im Haus gelegt! Ich sollte verbrennen – sie wollte, daß ich genauso sterbe wie Markus damals!“ Ihre Augen sind schreckgeweitet. „Sie wollte mich wirklich eiskalt umbringen, und sie hat in Kauf genommen, daß zwei völlig unschuldige Menschen dabei getötet werden!“ Alex ist verständlicherweise völlig fertig. Langsam begreift sie die Zusammenhänge. Obwohl – begreifen ist eigentlich das falsche Wort, denn begreifen kann man so eine Tat nicht. „Von wie viel Haß muß eine Frau zerfressen sein, daß sie nach fast zehn Jahren immer noch zu so einem Racheakt fähig ist“, denkt Michael sich, während er Alex wieder in den Arm nimmt. Der tut die Nähe in diesem Moment sehr gut. Sie lehnt ihren Kopf an Michaels Schulter, und versucht irgendwie die Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen, was ihr allerdings nicht wirklich gelingt. „Du Alex, wir müssen René anrufen, und ihm die Geschichte erzählen“, unterbricht Michael leise das Schweigen. Seufzend richtet sich Alex auf: „Du hast Recht, gib’ mir mal bitte das Telefon her.“ Sie wählt die Nummer von René, und man hört die Erleichterung in seiner Stimme, daß Alex sich so schnell gemeldet hat. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit erzählt Alex nun also die Geschichte von Christina, Markus und sich. Doch auch beim zweiten Mal klingt sie immer noch genauso unglaublich und unfaßbar wie beim ersten Mal. „Tja, ich würde sagen, dann haben wir das letzte Puzzleteil in dem Fall: Das Motiv. Ich danke Dir, Alexandra, daß Du uns da so weiterhelfen konntest. Und jetzt lassen wir Dich auch in Ruhe. Ich weiß, daß wir manchmal ganz schön viel von Dir verlangt haben, aber es ging halt leider nicht anders“, entschuldigt sich René. „Ist schon in Ordnung, letztendlich hattet Ihr ja wirklich mit allem Recht, und Ihr mußtet so mit mir umgehen. Aber ich bin froh, daß das Ganze nun eine Ende hat“, nimmt Alex die Entschuldigung an.
Sie beenden das Gespräch, Alex legt das Telefon zur Seite, und lehnt sich wieder an Michael an. „Es ist vorbei“, flüstert sie. „Irgendwie bin ja doch froh, daß ich endlich Gewißheit darüber habe, was warum passiert ist. Obwohl es das eigentlich nicht wirklich besser macht.“ „Aber ich glaube, Du kannst das alles jetzt vielleicht doch eher verarbeiten, als wenn da immer noch diese Ungewißheit wäre, wer hinter allem steckt, und ob Du vielleicht auch weiterhin Angst haben müßtest, weil derjenige es auf Dich abgesehen hat. Aber diese Christina ist ja jetzt erst mal aus dem Verkehr gezogen, und Du kannst aufatmen“, meint Michael dazu. Zwar widerspricht Alex nicht, aber ganz so will sie das auch nicht stehen lassen: „Ja, das schon. Aber Tanja und Theresa macht das auch nicht wieder lebendig, und ihr Tod wird bei diesem Hintergrund doch eigentlich noch sinnloser, als er ohnehin schon ist.“ Dem kann Michael nichts entgegen setzen. Und so sitzen sie beide noch eine ganze Weile schweigend da. Nach einiger Zeit merkt Michael, daß Alex eingeschlafen ist. Erschrocken stellt er fest, daß es auch wirklich schon spät geworden ist. Er schaut auf Alex. Am liebsten würde er sie jetzt nehmen und in ihr Bett tragen. Doch mit seinem blöden verstauchten Knöchel geht das ja nicht. Also begnügt er sich damit, Alex ein Kissen zu holen, sie richtig hinzulegen und zuzudecken. „Schlaf schön, Alex. Das tut Dir gut – und Du wirst sehen, jetzt geht es auch langsam wieder bergauf“, flüstert er ihr zu, bevor er ins Bett geht.
Gegen 03:30 Uhr wird Michael von Geräuschen wach, die er erst nicht zuordnen kann. Er quält sich aus dem Bett, schnappt sich seine Krücken, und geht ins Wohnzimmer. Als er leise ohne Licht zu machen den Raum betritt hört er einen markerschütternden Schrei. Das Licht der kleinen Stehlampe neben dem Sofa geht an, und mit völlig schockiertem Blick schaut Alex ihn an: „Michael! Mach das bitte nicht noch mal, so umher zu schleichen. Ich habe fast einen Herzinfarkt bekommen!“ Auch Michael schaut noch etwas verwirrt drein: „Ich habe irgendwas gehört und wollte schauen, was das ist.“ „Ja, das war ich“, gibt Alex zu, „ich bin aufgewacht, und habe gemerkt, daß ich ja offensichtlich hier im Wohnzimmer eingeschlafen bin. Weil die Tür zum Schlafzimmer ja offen stand wollte ich das Licht nicht anmachen, um Dich nicht zu wecken. Und dabei bin ich dann gegen den Tisch gestoßen. Das war wahrscheinlich das, was Du gehört hast.“ Beide müssen grinsen. „Na das hat ja dann super geklappt, daß wir beide auf den anderen Rücksicht nehmen und ihn nicht wecken wollten“, witzelt Michael. Und auch Alex muß grinsen, dabei ist ihr da eigentlich gar nicht nach zu Mute. Sie hat Michael nämlich verschwiegen, warum sie überhaupt aufgewacht ist: Sie hatte wieder einmal Albträume, die sie haben hochschrecken lassen.
„Ich würde sagen, wir gehen dann mal beide wieder ins Bett, okay? Laß uns weiterschlafen, Du mußt ja auch bald schon wieder aufstehen“, meint Alex und greift sich ihr Kissen. „Du hast Recht, dann noch gute Nacht, Alex! Schlaf gut weiter!“ Michael dreht sich um und geht wieder ins Schlafzimmer. Mit traurigem Blick schaut Alex ihm hinterher: „Wenn doch bloß diese Träume endlich aufhören würden, dann würde ich auch wieder wirklich gut schlafen“, denkt sie sich. Und so dauert es auch eine Weile, bis Alex in ihrem Bett erneut eingeschlafen ist.
Am nächsten Morgen sieht sie der Welt aber schon wieder ein wenig optimistischer entgegen. Vielleicht hat Michael ja Recht, und sie kann mit der ganzen Situation jetzt eher abschließen, wo die Hintergründe geklärt sind. „Jetzt kann ich mich voll und ganz auf meine Therapie konzentrieren“, spricht sie sich selbst Hoffnung zu. Schließlich möchte sie auch so schnell wie möglich wieder arbeiten – doch noch ist sie einfach nicht so weit, das muß sie selber zugeben.
8 Monate später:
„Guten Morgen Ihr beiden! Schaut mal, was ich hier habe! Die entwickelten Fotos von unserem Mallorca-Wochenende!“ Branco wedelt mit den Bildern vor den Nasen seiner Kollegen. „Ja jetzt zeig doch mal her, sind sie gut geworden?“, will Alex wissen. „Na klar, schließlich habe ich sie ja fotografiert“, entrüstet sich Branco. Alle müssen lachen. Aber dann stellen sie fest, daß es wirklich schöne Fotos sind: Alex im Bikini am Strand, und beim Herumtollen mit Michael am Strand, Michael schlafend am Pool der kleinen Finca, die sie sich gemietet hatten, und alle drei am Strand wie sie den Sonnenuntergang beobachten. „Das waren wirklich schöne Tage“, meint Alex, und ihren Augen funkelt die Sehnsucht, nach dieser Zeit. „Na wir hatten Dir doch versprochen, daß wir uns ein paar schöne Tage auf Mallorca machen, und das Ende Deiner Therapie war doch ein netter Anlaß, Dir die Reise mit uns zu schenken. Und Du hast Recht, es war wirklich super“, pflichtet Michael seiner Kollegin bei.
Als Michael die Therapie anspricht, lassen alle drei automatisch die letzten Monate noch einmal Revue passieren. Nachdem die Täterin gefaßt worden war, die das Feuer gelegt hatte, konnte Alex die Geschehnisse in der Therapie endlich langsam aufarbeiten. Als sie dann nach insgesamt fünf Wochen Abwesenheit wieder soweit war, endlich wieder im K11 zu arbeiten, hatten ihr alle Kollegen einen herzlichen Empfang bereitet. Und auch Alex freute sich, endlich wieder ihrem geliebten Job nachgehen zu können, auch wenn für eine ganze Weile erst mal nur Innendienst angesagt war. Um so mehr genoß sie es, als sie dann endlich wirklich wieder alles machen konnte.
Ihre Therapie konnte Alex nach einem guten halben Jahr beenden. Doch sie ist ehrlich genug zu sich selbst, daß sie es ohne Therapie nie geschafft hatte. Zwar ist sie bis heute bei allem was mit Feuer zu tun hat noch etwas vorsichtig, und auch die Albträume suchen sie ab und zu noch heim, aber die Zeiträume zwischen diesen Träumen werden immer größer, und sie hat gelernt, damit umzugehen.
Auch das Zusammenleben mit Michael hatte die ganze Zeit über sehr gut geklappt – besser als beide Seiten es sich zu Beginn vorstellen konnten. Doch in einer Woche wird auch diese Phase Geschichte sein. Alex hat wieder eine eigene Wohnung gefunden, und am nächsten Wochenende steht der Umzug an. Selbstverständlich sind „ihre“ beiden Männer da wieder absolut mit eingespannt. Aber das machen sie ja auch gerne für Alex. Von dem Geld, das die Versicherung letztendlich gezahlt hatte, konnte Alex sich neue Möbel kaufen, und nun ist sie schon sehr gespannt, wie ihr neues Reich dann eingerichtet aussehen wird. Einerseits freut sie sich darauf, wieder ihre eigene Wohnung zu haben, aber sie muß auch zugeben, daß es auch schön ist, immer jemanden um sich zu haben, der sich um einen kümmert. Aber Michael und Branco sind ja nicht aus der Welt, und daß beide 100%ig für sie da sind haben beide in der Vergangenheit mehr als genug bewiesen.
„Hallo! Jemand zu Hause?“ Branco holte Alex aus ihren Gedanken zurück. „Ja, sorry, ich mußte irgendwie nur gerade an meinen Umzug, und an die letzten Monate denken – ich weiß nicht, was ich ohne Euch gemacht hätte! Ihr seid einfach die liebsten und besten Freunde, die man sich wünschen kann! Und wißt Ihr was? Wenn wir den Umzug überstanden haben, dann lade ich Euch beide nächste Woche mal richtig chic zum Essen ein!“ Branco und Michael strahlen sie an: „Abgemacht“, ertönt es wie aus einem Mund. Und wieder müssen alle zusammen lachen.
THE END
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