Endlich geschafft! Alex hatte gerade noch den Abwesenheitsassistenten in ihrem E-Mail-Account aktiviert und fuhr den PC runter. Eine gute Woche Urlaub stand nun bevor. Und den hatte sie auch dringend nötig! Die letzten Tage und Wochen waren al wieder extrem stressig gewesen. Und sie merkte dass ihre Kräfte langsam schwanden. In den letzten Tagen fiel es ihr immer schwerer sich zu konzentrieren. Heute hatten sie den ganzen Tag auch noch Kopfschmerzen und ein leichtes Schwindelgefühl geplagt. Doch darüber machte sie sich nicht allzu viele Gedanken. Morgen Nachmittag würde sie im Flieger in die Türkei sitzen: Eine Woche lang Strand, Sonne, Faulenzen, einfach die Seele baumeln lassen. Darauf freute sie sich schon seit Wochen.
„Hey Kollegin, in Gedanken schon am Strand?“, holte Michael sie zurück in die Realität. Sie lächelte ertappt. „Ehrlich gesagt ja. Ich freue mich einfach mal auf eine Woche Nichtstun.“ Natürlich war ihr damit der Neid ihrer Kollegen sicher. „Du hast es echt gut“, seufzte Robert. „Jetzt tu mal nicht so, Du hattest ja auch gerade erst Urlaub“, konterte Alex. „Mir kommt es schon wieder so vor, als ob es ewig her ist!“ Doch das Mitleid, das Robert damit zu erhaschen hoffte hielt sich in überschaubaren Grenzen. „Im Ernst Alex – Du hast Dir Deinen Urlaub wirklich verdient – erhol Dich gut!“, ergriff Michael das Wort. „Danke, das werde ich. Und stellt Ihr in der Zeit nicht alles auf den Kopf! Dann bis in 1½ Wochen“, verabschiedete Alex sich von Michael und Robert. Gerrit hatte schon seit einer Stunde Feierabend, aber sie würde ihn morgen noch einmal sehen – er hatte sich bereit erklärt sie am nächsten Tag zum Flughafen zu fahren.
Zu Hause angekommen kämpfte Alex gegen das Bedürfnis, sich einfach aufs Sofa fallen zu lassen. Doch sie wollte ihren Koffer noch packen um am nächsten Morgen halbwegs ausschlafen zu können. Und wenn sie jetzt dem Dran nach dem Sofa nachgeben würde, dann würde sie heute da nicht mehr von hoch kommen. Also seufzte sie einmal und öffnete dann ihren Schrank und ihren Koffer. Nur 1½ Stunden war sie im Großen und Ganzen fertig. Da sie sich ja schon den ganzen Tag etwas schlapp gefühlt hatte beschloss sie dann auch, gleich ins Bett zu gehen.Zwar war sie relativ schnell eingeschlafen, doch sie wachte völlig entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten immer wieder auf, drehte sich von einer Seite auf die andere.
Am Morgen wachte sie völlig zerschlagen auf. Und sie merkte sofort, dass das nicht nur das Ergebnis einer schlaflosen Nacht war. Ihre Kopfschmerzen waren schlimmer als am Vortag. Sie hatte starke Halsschmerzen, musste ständig husten, ihre Nase war komplett zu, ihre Glieder taten ihr weh, ihr war schwindlig. Sie war krank, daran war nicht zu rütteln. Unendliche Enttäuschung machte sich in ihr breit. Denn dass ihr Urlaub damit gerade ins Wasser gefallen war, das war ihr klar. Tränen traten ihr in die Augen und wie ein kleines Kind fing sie an zu weinen. Die letzten Wochen hatte sie teilweise nur auf diese Urlaubswoche hingefiebert – und nun konnte sie nicht reisen.
Es dauerte eine Weile bis sie sich gefangen hatte und ihr Verstand wieder Oberhand gewann. Sie fasste sich ein Herz und rief bei ihren Reisebüro an, um die Reise zu stornieren. Immerhin hatte sie sich bei Buchung zum Abschluss einer Reiserücktrittskostenversicherung überreden lassen, damit war wenigstens nicht das ganze Geld futsch, obwohl ihr das im Moment eigentlich fast egal war.
Nachdem das erledigt war quälte sie sich aus dem Bett. Sie kam ja doch nicht drum rum, zum Arzt zu fahren. Also wollte sie das hinter sich bringen.
Nur eine gute Stunde später war sie zum Glück wieder daheim. Der Arzt hatte ihr bestätigt, dass sie sich einen fetten grippalen Infekt zugezogen hatte. Inzwischen hatte sie auch noch Fieber bekommen, deshalb legte sie sich zu Hause auch sofort wieder ins Bett.
Ihre Gedanken glitten wieder zu ihrem verpassten Urlaub. Das war doch wirklich nicht fair, dass sie ausgerechnet jetzt krank wurde. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie Gerrit noch Bescheid geben musste. Hustend griff sie zum Telefon.
„Hallo Alex, ich bin ja schon fast auf dem weg zu Dir“, meldete sich Gerrit, der Alex’ Nummer im Display erkannt hatte und dachte, sie würde ihn zu Eile treiben wollen. Traurig bot sie ihm Einhalt: „Du brauchst Dich nicht beeilen, Du brauchst überhaupt nicht herkommen. Ich kann nicht fliegen.“ Erstaunt erkundigte sich Gerrit was denn los sei. „Ich bin krank. Mir geht’s richtig mies, bin komplett erkältet, hab’ Fieber.“ Zur Bestätigung bekam sie gleich einen Hustenanfall. „Oh nein, das glaube ich jetzt alles nicht. Wie kann man denn so ein Pech haben wie Du? Das tut mir ehrlich leid für Dich. Du hattest Dich doch so darauf gefreut.“ Ihren traurigen Blick konnte er in diesem Moment ja nicht sehen. „Ja stimmt, aber ich kann’s leider nicht ändern.“ Gerrit versuchte noch ein paar Minuten Alex zu trösten, was ihm aber nur bedingt gelang.
Die nächsten beiden Tage verbrachte Alex mit Fieber im Bett. Die Jalousien ließ sie unten, sie mochte kein Sonnenlicht im Schlafzimmer haben, es hätte ihre Kopfschmerzen nur verschlimmert. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Schlafen. Und so bemerkte sie auch nicht, als sich jemand an ihrer Wohnungstür zu schaffen machte.
„Und Du bist Dir sicher, dass hier wirklich niemand zu Hause ist?“ Skeptisch schaute sich der junge Mann um. „Na klar – ich schwör’s Dir! Die Alte die hier wohnt ist verreist – und ’n Macker der hier aufkreuzen könnte gibt’s nicht. Also jetzt scheiß Dir nicht ins Hemd und sieh zu, dass wir alles wertvolle zusammenraffen und dann hier abhauen können!“ Ihr erster Blick fiel auf den Laptop und den Festplattenrekorder. Beides wurde sofort griffbereit auf den Tisch gelegt. Anschließend durchwühlten sie Schubladen und Schränke. Doch außer etwas Bargeld fanden sie nichts lohnendes. „Komm, da geht’s noch nach oben – vielleicht ist da das Schlafzimmer, da gibt’s bestimmt noch irgendwas zu holen“, flüsterte einer der beiden. „Jetzt sprich normal – ich habe dir doch gesagt hier ist niemand! Aber lass uns mal wirklich nach oben gehen.“
Noch etwas müde blinzelte Alex. Sie war gerade von irgendeinem Geräusch aufgewacht. Doch je mehr sie wieder zu sich kam, umso sicherer wurde sie sich, dass sie sich getäuscht haben musste. Schließlich war sie allein in der Wohnung. Wahrscheinlich war ihre Wahrnehmung von den Medikamenten die sie nahm etwas beeinträchtigt, oder sie hatte einfach schlecht geträumt.
Doch Moment, da war doch schon wieder etwas! Na klar – das waren Schritte auf der Treppe zu ihrem Schlafzimmer! Sie brauchte einen Augenblick um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Angreifen oder verstecken, was sollte sie tun?
Die Entscheidung wurde ihr schnell abgenommen. Denn in diesem Moment standen die beiden Männer schon bei ihr im Zimmer. Dann ging alles blitzschnell. Alex versuchte zwar noch aufzuspringen und zu ihrer Waffe zu gelangen, doch die beiden Einbrecher waren schneller. Mit einem gezielten Schlag setzten sie Alex außer Gefecht, die daraufhin hart auf dem Boden aufschlug.
„Fuck, fuck fuck, was ist das denn jetzt!?!?! Du hast mir doch geschworen, dass niemand in der Wohnung ist. Und – sieht das so aus wie niemand? Was machen wir denn jetzt?“ Panisch lief der junge Mann im Zimmer auf und ab, wahrend er seinem Komplizen Vorhaltungen machte. „Man ich weiß doch auch nicht wie das sein kann!“ Nervös strich er sich über das Gesicht. „Die hat uns auch gesehen, wir können sie auf gar keinen Fall hier lassen! Die kann uns doch beschreiben. Wir müssen sie erledigen, und dann nichts wie weg hier.“ Zweifelnd schauten beide auf die ohnmächtige Alex. „Ja toll – und wie willst Du das anstellen? Ich meine wenn wir die abknallen, das ist doch viel zu laut hier!“ Beide waren so in Panik, dass ihnen nicht in den Sinn kam, dass es auch noch andere Arten der Ermordung gab. „Dann müssen wir sie mitnehmen und irgendwo anders entsorgen.“ Gesagt, getan. Einer der beiden Männer ging mit der Beute vor durchs Treppenhaus um sich zu vergewissern, dass nicht gerade irgendwelche Nachbarn auf dem Flur unterwegs waren, der andere kam hinterher, die immer noch bewusstlose Kommissarin im Arm.
„Und wo jetzt hin mit ihr?“ Die beiden Männer fuhren mit ihrem Auto durch die Stadt und überlegten was nun zu tun sei. „Man, jetzt pass doch auf und fahr vorsichtiger! Das fehlte gerade noch, dass wir jetzt ’n Unfall bauen oder von den Bullen angehalten werden!“ Die Stimmung im Wagen war alles andere als entspannt. „Wenn Du mich nicht blöd von der Seite zulaberst dann fahre ich auch ordentlich! Aber Du hast Recht, zu uns nach Hause können wir mit der Alten nicht. Man, so ein Scheiß aber auch!“ Unter Flüchen und gegenseitigen Vorhaltungen entschieden sie sich, zu einer stillgelegten Fabrikhalle, etwas außerhalb der Stadt zu fahren. „Pass auf, wir legen die Alte da einfach in einen der Keller, fesseln die und sehen zu, dass die nicht weg kann, und dann lassen wir sie einfach da liegen, dann erledigt die Zeit das Problem für uns, und wir müssen uns nicht die Finger an ihr dreckig machen.“
Währenddessen kam Alex im Kofferraum des Wagens langsam wieder zu sich. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen was passiert war, und wo sie sich offensichtlich befand. Ihr Kopf schmerzte höllisch und sie fror erbärmlich. Immerhin war sie nicht gefesselt. Ob es eine Möglichkeit gab, die Kofferraumklappe von innen zu öffnen? Dann könnte sie entweder versuchen an der nächsten Ampel zu entkommen, oder wenn es sein musste auch aus dem fahrenden Wagen springen. Die Verletzungen dabei wären bestimmt um ein vielfaches angenehmer, als das was diese Typen mit ihr vorhätten, was auch immer das sein mochte.
Doch noch bevor sich Alex intensiver mit dem Schloss des Kofferraums beschäftigen konnte hielt der Wagen an und die Klappe öffnete sich von alleine. Sie schaute direkt in die beiden Gesichter ihrer Entführer. „Schau mal an, Missy ist wieder zu sich gekommen.“ Bevor weitere Freundlichkeiten ausgetauscht werden konnten hatte Alex all ihre Kraft zusammengenommen, versuchte den Überraschungsmoment zu nutzen und kletterte aus dem Wagen. Doch so schnell ließen sich ihre Gegner nicht überrumpeln. Sie packten Alex, die sich verzweifelt wehrte. Sie schlug um sich, kratzte, trat mit den Füßen um sich, versuchte sogar ihre Gegner zu beißen, doch letztendlich musste sie sich geschlagen geben. Die beiden Männer waren einfach stärker als sie. Vielleicht hätte sie unter normalen Umständen, bewaffnet und in einem besseren gesundheitlichen Zustand eine Chance gehabt, aber so erlahmte ihre Gegenwehr nach einer Weile. „Na bitte, geht doch! Dass Ihr Frauen immer erst einmal kräftig zicken müsst!“ Die beiden Männer brachen in schallendes Gelächter aus. Jetzt, nachdem sie einen Plan hatten war ihre Unsicherheit verschwunden und sie fühlten sich wieder als Herr der Lage. Alex wurde an Händen und Füßen gefesselt und wie zuvor besprochen in einen Keller auf dem Fabrikgelände gesperrt. „So, hier kannst Du schreien so viel Du willst, das nutzt Dir gar nichts. Irgendwann wird man Deine Überreste hier finden, aber das kann dauern.“ Süffisant lächelnd schickten die beiden sich an, den Raum zu verlassen. Langsam dämmerte Alex, was die beiden vorhatten. „Verwickle sie in ein Gespräch!“, waren ihre Gedanken. In Krisensituationen hatte diese Taktik schon oft weitergeholfen. Doch diesmal hatte sie auch damit Pech. Die beiden Männer ließen sie reden, reagierten nicht. Sie sah, wie sie die Tür von außen zufallen ließen und hörte, dass ein Schlüssel sich drehte. Wenige Augenblicke später hörte sie ein Auto wegfahren, dann war es still.
In Alex stieg Panik auf. Sie versuchte dagegen anzukämpfen. „Komm, das ist nicht das erste Mal, dass Du irgendwo gefangen bist. Jetzt reiß Dich zusammen und schau Dich erst mal um“, versuchte sie sich selbst Mut zu machen. Es war ein relativ großer Raum in dem sie sich befand. An einer Mauer war oben ein kleines Fenster, durch dessen zerbrochene Scheibe der Wind pfiff. Die Wände und der Boden waren kahl. In einer Ecke stand ein alter verrosteter Eimer. Vielleicht hatte dieser ja eine scharfe Kante, an der sie ihre Fesseln durchreiben konnte. Alex versuchte irgendwie zum Eimer zu kriechen, doch auf halber Strecke gab sie auf. Sie war zu schwach. Zitternd lag sie auf dem Steinboden.
Nachdem sie eine zeitlang gewartet hatte, raffte sie sich wieder auf und startete einen neuen Versuch. Endlich gelangte sie zu ihrem Ziel. Erschöpft setzte sie sich auf und lehnte sich gegen die Wand. Schweißtropfen liefen ihr über das Gesicht. Sie betrachtete den Eimer genauer, doch so sehr sie es auch versuchte, ihre Fesseln ließen sich damit nicht lösen. Als sie diese Erkenntnis traf, brachen Panik und Erschöpfung über ihr zusammen. Sie schluchzte auf, ließ sich auf den Boden fallen und weinte sich in einen unruhigen Schlaf.
„Irgendwas stimmt da nicht“, murmelte Gerrit, als er den Telefonhörer wieder auflegte. „Was stimmt nicht, Gerrit! Hat Dich Dein neuester Aufriss mal wieder versetzt?“, scherzte Robert, der gerade das Büro betrat und Gerrits Worte noch gehört hatte. Doch anders als erwartet steig sein Kollege auf die Frotzelei nicht ein. „Ich versuche seit zwei Tagen Alex zu erreichen, aber sie geht weder ans Festnetz noch ans Handy.“ Verwundert schaute Robert ihn an: „Alex ist doch im Urlaub? Hast Du das vergessen, Du hast sie doch selbst zum Flughafen gebracht?“ Doch Gerrit schüttelte den Kopf: „Stimmt, das habe ich ganz vergessen Dir zu erzählen – Alex ist gar nicht geflogen, die ist krank. Sie hat mich am Freitag, also an dem Tag an dem sie fliegen wollte angerufen, dass sie mit Fieber flach liegt. Und sie klang auch echt krank am Telefon. Ich wollte sie am Montag, also gestern, anrufen und sie mal fragen wie es ihr geht – aber ich hab’ sie den ganzen Tag nicht erreicht. Und heute das gleiche!“ Robert überlegte: „Vielleicht geht’s ihr ja inzwischen wieder besser und sie ist doch noch geflogen. Oder sie trifft sich mit ’ner Freundin.“ Doch Gerrit widersprach: „Aber dann würde sie doch wenigstens irgendwann ans Handy gehen, oder auf meine SMS reagieren. Nein, irgendwas passt da nicht.“ Wirklich überzeugt hatte er Robert damit nicht. „Na wenn Du meinst, dann fahr doch nach Feierabend bei ihr vorbei und schau nach, ob alles in Ordnung ist“, schlug er deshalb vor. Gerrit stimmte zu.
Einige Stunden später drückte Gerrit nun schon zum fünften Mal auf das Klingelschild mit dem Namen „Rietz“. Doch es kam keine Reaktion. Er überlegte: Zu Hause hatte er einen Ersatzschlüssel von Alex Wohnung, den sie ihm für Notfälle mal gegeben hatte. Sollte er ihn holen und nachsehen? Alex würde ihn so zusammenfalten, wenn er grundlos mit dem Schlüssel in ihre Wohnung ging – aber andererseits kam ihm die ganze Situation irgendwie nicht so ganz koscher vor. Also beschloss er Alex’ Zorn zu riskieren und den Schlüssel zu holen.
Eine halbe Stunde später war Gerrit zwar froh, diese Entscheidung getroffen zu haben, er war allerdings schockiert was er sah. Alex’ Wohnung war komplett durchwühlt! Schubkästen waren aus den Schränken gerissen und der Inhalt gleichmäßig über dem Boden verteilt. An der Stelle, an der normalerweise ihr Festplattenrekorder stand war ein leerer Fleck, nur einige Kabel endeten im Nichts. Vorsichtig, um keine Spuren zu zerstören ging er nach oben. Hier sah es nicht so schlimm aus. Das Bett war leer, aber nicht gemacht. Auf der nicht benutzten Betthälfte lag ein größeres Arsenal benutzter Papiertaschentücher und auf dem Nachtschränkchen befanden sich diverse Medikamente, ein Fieberthermometer, einige Zeitschriften, ein Buch und eine halb ausgetrunkene Tasse Tee. Dann fiel sein Blick auf den Boden. „Scheiße, das ist doch Blut!“ Zwar handelte es sich nur um einen kleineren Fleck, doch das reichte Gerrit aus um die Gewissheit zu haben: Alex war etwas zugestoßen!
„Habt Ihr schon irgendwas?“ Wie ein aufgescheuchtes Huhn tigerte Gerrit von einem Ende der Wohnung zum anderen und nervte die Kollegen der Spurensicherung. „Gerrit, wenn Du uns noch zehnmal fragst geht’s auch nicht schneller! Wenn wir was haben geben wir Dir sofort Bescheid!“ Ein durchaus genervter Unterton war in der Stimme des Beamten der Spurensicherung zu hören. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass Michael und Gerrit die Wohnung gerade wieder betraten. Vielleicht würden die Gerrit etwas ablenken. „Die Nachbarn haben nichts mitbekommen“, beantwortete Michael Gerrits unausgesprochene Frage. „Das kann doch echt nicht wahr sein! Hier ist eingebrochen worden, Alex ist verschwunden, keiner weiß vor wie viel Tagen das ganze passiert ist, und keiner hat was mitbekommen!“, machte Gerrit seinem Frust und damit seiner Angst Luft. „Pass auf, ich fahre jetzt erst mal zurück ins Büro und checke Alex’ Telefonverbindungen. Mit dem Handy hat sie die letzten Tage ja laut Anrufliste nicht telefoniert, es sei denn sie hat da was gelöscht, das werde ich auch prüfen lassen, aber vielleicht gab es ja Gespräche auf dem Festnetz. Wenn wir Glück haben, dann bekommen wir dadurch einen Anhaltspunkt, wann das Ganze hier passiert ist“, schlug Michael vor. Sofort machte er sich auf den Weg.
„Gerrit, kommst Du mal bitte hoch“, erklang auf einmal eine Stimme aus dem Schlafzimmer. Sofort stürmte Gerrit in den Raum: „Was gibt’s? Habt Ihr endlich was?“ Er beobachtete, wie der Kollege der Spurensicherung etwas in ein Tütchen tat. „Ich weiß es nicht genau, aber zumindest haben wir hier ein schwarzes Haar gefunden.“ Vielleicht war das ja wirklich ein Hinweis. „Schickt das sofort ins Labor, dass die DNA bestimmt wird. Und dann prüft auch ob das Blut hier von Alex ist! Ich hole zum Vergleich gerade ihre Zahnbürste.“ Froh endlich wenigstens einen ersten kleinen Anhaltspunkt zu haben ging Gerrit Richtung Badezimmer. Auf dem Weg dahin kam er an einem Foto vorbei, dass Alex mit ihrer Schwester zeigte. Er nahm es in die Hand: „Alex, wo immer Du bist, wir finden Dich, bitte halt durch!“
„Gerrit, ich habe gute Nachrichten“, gab Michael telefonisch bekannt. „Alex kann zumindest noch nicht die ganze Zeit verschwunden sein. Am Sonntagabend hat sie noch mit ihrer Mutter telefoniert. Das habe ich ihren Telefondaten entnommen. Das heißt der Einbruch bei ihr muss irgendwann zwischen Sonntag 22:16 Uhr und Dienstag 18:48 Uhr stattgefunden haben.“ Gerrit wusste nicht so richtig, ob ihn das beruhigen konnte. Immerhin war seit Sonntag auch schon einige Zeit vergangen, und wer wusste schon, wie es Alex jetzt im Augenblick ging.
Der zweite Tag, den sie nun schon in Gefangenschaft verbrachte neigte sich dem Ende entgegen. Draußen wurde es bereits dunkel. Und langsam gab sie sie Hoffnung auf, dass das hier noch ein gutes Ende nehmen würde. Schließlich würde momentan niemand nach ihr suchen. Sie hatte Urlaub, also würden ihre Kollegen sie erst in einer Woche vermissen, und so lange würde sie hier nicht durchhalten, das wusste sie. Und alle ihre Freunde wähnten sie im Urlaub am Meer. Alex spürte, dass sie hohes Fieber hatte. Immer wieder hatte sie heftige Schüttelfrostanfälle. Sie musste ständig husten, bekam zwischendurch manchmal kaum noch Luft. Ihre Lippen waren gesprungen und sie hatte fürchterlichen Durst. Kraftlos lag sie in einer Ecke und weinte leise.
„Treffer“, rief Robert, als er am nächsten Tag das Büro betrat. In der Hand hielt er den Laborbericht. „Was? Erzähl – was steht im Bericht!“, wurde er von Gerrit aufgefordert. „Also zuerst mal: Das Blut stammt wirklich von Alex. Aber wie Du ja selbst gesehen hast war der Fleck nicht gar zu groß, als wir gehen nicht davon aus, dass sie schwer verletzt ist.“ Ungeduldig unterbrach Gerrit die Ausführungen: „Ja, meine Güte, vielleicht ist sie wirklich nicht schwer verletzt, aber vergiss nicht dass sie krank ist! Und ich denke kaum, dass wer immer sie verschleppt hat, sie erst mal gesund pflegen wird.“ Der Einwand war wirklich berechtigt, und Robert konnte dem nichts entgegensetzen. Also fuhr er fort: „Die gute Nachricht ist, das Haar konnte zugeordnet werden. Es gehört einem gewissen Enrico Heimsters. Der Typ hat ’ne längere Kriminalakte bei uns – Einbruch, Raub, Diebstahl, Körperverletzung. Er ist immer mal wieder ’ne Weile im Knast – und kaum ist er draußen dreht er gleich das nächste Ding. Seine letzte Entlassung ist gerade mal zwei Wochen her.“ Gerrit war bereits aufgesprungen. „Adresse?“, fragte er noch im Hinausgehen. „Carl-Orff-Ring 15“, rief im Robert zu. „Den Typ werde ich mir kaufen!“, ließ Gerrit noch verlauten. „Warte, ich komme mit!“
„Ja bitte?“, krächzte es durch die Gegensprechanlage des Hauses. „Kripo, bitte lassen sie uns rein“, antwortete Robert. Einen Moment später ertönte auch schon der Summer. „Na der Typ hat Nerven, lässt uns tatsächlich locker rein, als ob nicht wäre!“ Gerrit konnte es gar nicht fassen. Der Mann der sie in der Tür erwartete war tatsächlich Enrico Heimsters, sie erkannten ihn vom Bild der Kriminalakte wieder. „Kripo, mein Name ist Grass, das ist mein Kollege Herr Ritter. Wir dürfen doch mal reinkommen, oder?“ Ohne ein Antwort abzuwarten betrat Gerrit die Wohnung. Er wusste, dass er aufpassen musste in den nächsten Minuten nicht die Kontrolle zu verlieren. Dieser Typ wusste wo Alex war, da war sich Gerrit sicher, aber wenn das Ganze jetzt schief ging, dann würde er ihnen mit keiner Silbe weiterhelfen. Sein Blick wanderte durch den Raum – und blieb auf einem Laptop heften. Das war der von Alex! Da war er sich ganz sicher, denn oben rechts klebte ein Sticker. Da er sich erst vor kurzem Alex’ Laptop ausgeliehen hatte war ihm dieses Detail noch sehr bewusst. „Schönen Laptop haben Sie da Herr Heimsters.“ War das ein kurzer Anflug von Angst, der da in den Augen seines Gegenübers aufblitzte? „Sie sind doch nicht hier um mit mir über meinen Laptop zu reden“, gab sich der Mann selbstbewusst. „In gewisser Weise schon“, konterte Gerrit. „Dieser Laptop stammt aus einem Einbruch, der vor einigen Tagen verübt worden ist. Beim Einbruch ist eine Frau, genaugenommen eine Kollegin uns verschleppt worden. Und in dieser Wohnung ist ein Haar von Ihnen gefunden worden. Und nun dürfen Sie mal raten, warum wir hier sind!“ Erwartungsvoll schauten Robert und Gerrit auf den Mann vor ihnen. Der blieb erst mal eine Antwort schuldig. Alles abzustreiten war sinnlos, das war ihm klar. Dieses Scheiß-Haar hatte ihn verraten. Aber wenn er Glück hatte, dann konnten sie ihm nur den Einbruch nachweisen. Mit einem Gesicht, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte gab er also zu: „Ja, okay, der Laptop stammt von ’nem Bruch. Aber ich schwöre, da war niemand in der Wohnung!“ In Gerrits Augen glitzerte bereits Wut. Robert registrierte das und versuchte die Situation erst mal zu entschärfen. „Herr Heimsters, das klären wir dann alles auf dem Kommissariat, Sie kommen erst mal mit.“ In Handschellen wurde der beschuldigte zum Auto geführt.
Die drei kamen gerade aus dem Haus, als ihnen ein junger Mann in die Arme lief. Erschrocken schaute er auf die Gruppe Männer, erblickte die Handfesseln, drehte sich um und rannte weg. Geistesgegenwärtig legte auch Gerrit einen Sprint ein. Nach wenigen Metern erreichte er den Mann. „So, stehen geblieben! Und jetzt erzählen Sie uns erst mal, warum sie so schnell abgehauen sind.“ Panik blitzte im Gesicht des Geflüchteten auf. „Ich…, ich…, mir ist gerade eingefallen, dass ich den Herd angelassen habe, ich wollte schnell heim und nachschauen.“ Eine so blöde Ausrede hatte Gerrit schon lange nicht mehr gehört. „Sie kommen jetzt auch erst mal mit.
Alex war wieder aufgewacht. Sie zitterte am ganzen Körper. In der Nacht hatte es angefangen zu regnen. Durch das zerbrochene Fenster hatte das Wasser auch seinen Weg in de Keller gefunden. Alex, die inzwischen kaum noch in der Lage war sich aufzurichten, starrte wie gebannt auf die Pfütze, die sich unter dem Fenster gebildet hatte. „Wasser“, war ihr einziger Gedanke. Sie versuchte noch einmal all ihre Kräfte zu mobilisieren. Mit einem gezielten Tritt beförderte sie den Eimer in Richtung Fenster. Anschließend robbte sie selbst dorthin. Es dauerte eine Ewigkeit, denn ihre Hustenanfälle und die damit verbundene Atemnot machten es ihr fast unmöglich, sich fortzubewegen. Endlich hatte sie es aber doch geschafft. Am Ende ihrer Kräfte ließ sie sich neben die Pfütze fallen und schaffte es, einige Schlucke daraus zu trinken. Nach einer weiteren Ewigkeit hatte sie es geschafft den Eimer so zu stellen, dass das weitere Regenwasser dort hineinlief.
Im Kommissariat stellte sich heraus, dass der zweite Mann, den Gerrit und Robert festgenommen hatten, Kevin Fuchs hieß. Er war Anfang 20 und auch bereits wegen einiger Einbrüche polizeilich in Erscheinung getreten. Im Laufe der nächsten Stunden wurden beide verhört, so dass man schnell herausfand, dass beide Komplizen waren und zusammen bei Alex eingebrochen hatten. Es war Kevin Fuchs, der zuerst die Nerven verlor, als ihm Michael und der Staatsanwalt auf den Zahn fühlten. „Ich schwöre, wir wussten nicht dass da jemand in der Wohnung war!“ Der Staatsanwalt und Michael horchten auf. „Sie geben also zu, unsere Kollegin Frau Rietz verschleppt zu haben?“, hakte Michael sofort nach. Unruhig rutschte Kevin Fuchs auf seinem Stuhl hin und her. „Ja…, nein… Das war doch alles ganz anders geplant! Mein Kumpel hat geschworen dass die Alte, ähm, also ihre Kollegin, dass die nicht da ist, dass die im Urlaub ist.“ Verdutzt schaute Michael den Beschuldigten an: Und woher wollte Ihr Kumpel das angeblich wissen?“ Die Nervosität stand Kevin Fuchs ins Gesicht geschrieben. Er druckste noch etwas herum, rückte aber letztendlich dann doch mit der Sprache raus: „Na die Perle vom Enrico, die arbeitet doch im Reisebüro. Und daher wussten wir halt, dass die Wohnung jetzt ’ne Woche leer ist.“ Entgeistert schauten sich Michael und der Staatsanwalt an. Sie konnten es beide nicht fassen, beschlossen aber die genaue Klärung erst mal hinten anzustellen. Viel wichtiger war zu klären: Wo war Alex? „Okay, es war also keine Absicht, aber jetzt verraten Sie uns endlich wo Frau Rietz steckt, was haben Sie mit ihr gemacht?“ Langsam verlor Michael seine Nerven. „Verstehen Sie doch! Wenn Sie uns jetzt nicht sagen, wo sie ist, und sie stirbt, dann haben Sie ein Menschenleben auf dem Gewissen! Und die Strafe dafür fällt für Sie natürlich auch erheblich empfindlicher aus, als wenn Sie jetzt mit uns zusammenarbeiten!“ Endlich gab Kevin Fuchs nach. „Sie ist in einem Keller in einer stillgelegten Fabrikhalle.“ Er wies noch auf der Karte die genaue Stelle auf der Karte, bevor Michael aus dem Büro stürmte um in die Vernehmung von Enrico Heimsters zu platzen. „Gerrit, Robert, kommt mal bitte schnell raus!“ Sofort folgten die beiden ihrem Kollegen. „Der andere Typ hat gequatscht, wir wissen wo Alex ist. Robert, Du bleibst hier und schaust, was der Vogel hier dazu noch zu sagen hat. Und Gerrit, wir beide machen uns auf den Weg!“
War das ein Polizeiauto, das sie da in der Ferne hörte? Alex wusste es nicht, sie konnte sich auf ihre Sinne nicht mehr verlassen. Mehrmals war sie schon kurz ohne Bewusstsein gewesen. Ihr Körper zitterte unkontrolliert. Sie war zu schwach um sich aufzusetzen, sogar eigentlich zu schwach um die Augen zu öffnen. Hoffnung, dass man sie noch finden würde hatte sie keine mehr. Das war’s also. Mit diesem Gedanken dämmerte sie wieder weg.
„Verdammt, in welchem Keller hier ist sie denn?“ Fieberhaft suchten Gerrit und Michael nach dem Versteck ihrer Kollegin. Immer wieder riefen sie laut nach ihr, doch sie bekamen keine Reaktion. „Und wenn der Typ uns Müll erzählt hat?“, fragte Gerrit zweifelnd. „Das glaube ich eigentlich nicht. Der machte den Eindruck, dass er echt Schiss hatte, dass wir ihn wegen Mordes rankriegen würden.“ Verzweifelt suchten sie weiter. „Schau mal Gerrit, da vorne – eine verschlossene Tür! Die meisten Türen hier sind offen, da muss sie sein.“ Sofort stürmten beide auf die Tür zu. „Alex, bist Du da drin! Antworte doch!“ Während Michael versuchte das Schloss zu knacken lauschte Gerrit angespannt nach einem Lebenszeichen aus dem Rauminneren. Endlich öffnete sich die Tür. Gerrit stürmte zuerst hinein. Er sah Alex liegen und war mit wenigen Schritten bei ihr. Mit zittrigen Händen suchte er ihren Puls. Er betete dass sie nicht zu spät waren! Fragend ruhte Michaels Blick auf Gerrits Gesicht. „Sie lebt! Puls ist da – aber sie glüht förmlich!“ Erleichtert über diese Nachricht griff Michael nach seinem Handy! „Ich rufe Notarzt und Krankenwagen. Und ich geh’ nach oben, dass ich die gleich einweisen kann.“ Schon war er verschwunden.
Gerrit widmete sich wieder Alex. „Hey, Alex, aufwachen! Es ist vorbei, alles wird wieder gut!“ Nach ein paar Versuchen öffneten sich ihre Augen tatsächlich etwas. „Gerrit?!?“, flüsterte sie verwundert. „Ja, ich bin da Alex! Du weißt doch, wir lassen Dich nicht im Stich!“ Vorsichtig befreite er Alex von ihren Fesseln und half ihr sich aufzusetzen. Er lehnte sie an sich, zog seine Jacke aus und legte sie ihr über. Dann nahm er sie in den Arm. Sie saß da, den Kopf an Gerrits Oberkörper gelehnt und kämpfte darum wach zu bleiben. „Der Notarzt ist gleich da Alex, dann hast Du’s geschafft. Dann kommst Du ins Krankenhaus und wirst erst mal wieder richtig gesund.“ Langsam wurde es aber auch Zeit dass der Notarzt kam. Wie lange dauerte das denn heute? Endlich hörte er ihn herannahen.
Zwei Tage später lag Alex zwar noch immer im Krankenhaus, befand sich aber auf dem Weg der Besserung. Ihre Kollegen hatten ihr sogar Blumen mitgebracht, als sie sie besuchen kamen. „Jetzt müsste Ihr mir aber doch noch mal erzählen, woher die Typen wussten, dass ich eigentlich in den Urlaub fahren wollte“, fragte Alex ihre Kollegen mit noch immer etwas schwacher Stimme. „Die Freundin von dem einen Einbrecher arbeitet in dem Reisebüro in dem Du gebucht hast. Und sie hat ihrem Freund eben ab und an Tipps gegeben, wo man einbrechen kann, weil die Wohnungen leer stehen. Als Du die Reise dann storniert hast war sie aber nicht im Büro, deshalb hatte sie das nicht mitbekommen und die Typen waren ganz schön geschockt, als sie Dich in der Wohnung vorgefunden haben“, gab Gerrit Auskunft. „Die beiden Männer werden sich jetzt für diverse Einbrüche und für Deine Gefangennahme verantworten müssen, und die Freundin wegen Verstoß gegen das Datenschutzgesetz“, ergänzte Michael. Alex schüttelte leicht den Kopf: „Ich kann’s noch immer kaum glauben, dass die ich da wirklich einfach sterben lassen wollten. Ach Jungs, wenn Ihr nicht gewesen wärt…“ Vervollständigen konnte sie den Satz nicht. Alle mussten schlucken, bis Gerrit die Situation wieder etwas entspannte: „Tja, Du weißt doch, im Zweifelsfall sind wir immer füreinander da!“
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