Liebeskummer

Sie saß in eine Wolldecke gekuschelt auf ihrem Sofa und fühlte sich einfach nur elend. Und daran war nicht nur ihre Erkältung und das Fieber Schuld, dass sie quälte sondern viel mehr ihre Gedanken, die seit einiger Zeit nur noch in eine Richtung gingen: Marcel. Was hatte diese andere Frau, dass sie nicht hatte? Vielleicht war sie sich einfach zu sicher mit Marcel gewesen, so dass sie die drohende Gefahr nicht erkannt hatte. Vielleicht wäre noch etwas zu retten gewesen, wenn sie die Zeichen nicht einfach ignoriert hätte.
„Hier Mausi, ich hab’ Dir einen Tee gemacht.“ Ihre Mutter betrat das Zimmer und stellte ihr die Tasse hin. „Danke“, flüsterte sie tonlos und griff mechanisch nach der Tasse. Sie wärmte ihre kalten Finger daran und trank vorsichtig einen Schluck. Mit sorgenvollem Blick betrachtete Anette Rietz ihre Tochter. Alex sah schlecht aus – blass, mit geröteten Augen, kraftlos und zerbrechlich. Sie setzte sich neben Alex und zog sie in ihre Arme. „Komm her meine Kleine.“ Es tat Alex gut die menschliche Nähe zu spüren. Wie sie es als kleines Mädchen getan hatte kuschelte sie sich in die Arme ihrer Mutter. Sie sagte nichts, sie weinte nicht, sie fühlte einfach nur die Nähe. Und Anette streichelte ihr über die heißen Wangen, küsste ihre Haare. „Ach Mausi, wenn ich Dir doch nur irgendwie helfen könnte“, flüsterte sie leise. „Das machst Du schon dadurch, dass Du da bist.“ Ein Hustenanfall beendete den Satz. Ohne sich aus der Umarmung ihrer Mutter zu lösen zog Alex die Decke fester um sich. „Ist Dir kalt?“, erkundigte sich Anette. Alex nickte nur und bekam wie zur Bestätigung auch gleich noch Schüttelfrost. Es war so typisch für sie. Immer, wenn sie etwas aus der Bahn warf machte auch sofort ihr Körper schlapp, sie wurde krank und bekam auch sofort hohes Fieber – daran hatte sich wirklich seit ihrer Kindheit nichts geändert. Und genauso lief es diesmal auch ab. Einen Tag, nachdem Marcel sich von ihr getrennt hatte lag sie schon flach. Am Telefon hatte Anette sofort gemerkt, was mit Alex los war. Also hatte sie ihre Koffer gepackt und war in den nächsten Zug nach München gestiegen. Als sie Alex dann gegenüber stand, wusste sie, dass die Entscheidung ihre jüngere Tochter zu besuchen richtig gewesen war. Und so versuchte sie Alex nun seit zwei Tagen, etwas aufzubauen. Und es tat Alex gut, dass da jemand war, der sich um sie kümmerte, der ihr Tee kochte, sie zwang wenigstens etwas zu essen und ihr Trost spendete. Den brauchte sie so dringend! Vier Jahre war sie mit Marcel zusammen gewesen. Kennen gelernt hatten sich die beiden kurz nach Alex’ Umzug in die bayerische Hauptstadt. Sie hatte auf dem Einwohnermeldeamt gesessen um sich in München anzumelden und ungeduldig gewartet, dass ihre Nummer aufgerufen wurde, und Marcel saß aus dem gleichen Grund neben ihr. Irgendwie waren sie ins Gespräch gekommen und tauschten nach einer Weile ihre Telefonnummern aus. Zwei Tage später rief er an, und lud sie auf einen Kaffee ein. Aus dem einen gemeinsam verbrachten Nachmittag und wurden mehrere. Zusammen erkundeten sie ihre neue Heimat, und nach kurzer Zeit hatten sie sich unsterblich ineinander verliebt.

Ein Jahr später saßen die beiden wieder auf dem Einwohnermeldeamt – sie waren zusammen gezogen. Es war einfach alles perfekt- vielleicht zu perfekt? Marcel verwöhnte sie: Wenn sie nach der Arbeit gestresst und fertig nach Hause kam, dann duftete es meistens nach Essen. Er vergaß nie ihren Jahrestag, er verstand sich super mit ihrer Familie und er akzeptierte ihre zum Teil sozialfeindlichen Arbeitszeiten. Dafür konnte sie ihn mit ihrer Begeisterung und Spontaneität mitreißen. Sie ließen sich gegenseitig ihre Freiräume und genossen die gemeinsame Zeit. Doch dann muss sich irgendwann der Alltag eingeschlichen haben, die gefährliche Routine. Der Herd blieb abends öfter kalt, da Alex oft keinen Hunger mehr hatte, wenn sie abends nach Hause kam, und dann eh auch noch der Meinung was, auf ihre Figur achten zu müssen. Marcel machte sich richtige Sorgen um sie, konnte es ihr aber nicht ausreden – und irgendwann hörte er einfach auf, ständig mit Alex über ihr Gewicht zu diskutieren. Alex hingegen ließ sich von ihrer Arbeit so vereinnahmen, dass sie kaum mehr Zeit für gemeinsame Ausflüge hatte. Sie liebten sich immer noch, aber sie zeigten es sich nicht mehr. Eigentlich lebte sie zwei separate Leben, und nicht mehr ein gemeinsames. So war es Alex auch nicht aufgefallen, dass Marcel irgendwann häufiger Termine am Abend hatte. Und sie bemerkte auch nicht, wie er sich immer weiter von ihr zurückzog. Dann, vor drei Tagen hatte er sich ein Herz gefasst. Alex kam, mal wieder ziemlich fertig vom Kommissariat nach Hause. Marcel hatte ausnahmsweise mal wieder gekocht, doch sie aß nichts. „Alex, ich muss mit Dir reden“, setzte Marcel nach einer Weile an, während er sie mit traurigen Augen ansah. „Marcel, bitte nicht heute, ich bin kaputt, ich habe Kopfschmerzen, ich will nur ins Bett“, wollte Alex das Gespräch beenden, ehe es überhaupt begonnen hatte. Doch diesmal ließ sich Marcel nicht abhalten. Was Alex dann erfuhr, riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Seit Wochen traf sich Marcel mit einer anderen Frau. Marcel versuchte zu erklären, wie es dazu gekommen war, doch bei Alex kam das alles nicht an. Wie durch Watte vernahm sie nur Wortfetzen. Doch die eigentliche Erkenntnis hatte sie eh ganz schnell gewonnen: Sie hatte Marcel verloren, hatte ihre große Liebe verspielt.
Es wurde nicht geschrieen, nicht geweint. Marcel hatte seine bereits gepackten Koffer genommen und war zu der anderen Frau gegangen. Und Alex – die hatte wie versteinert dagesessen. Irgendwann war sie wie in Trance ins Bett gegangen. Ihre Kollegen hatten zwar am nächsten Tag mitbekommen, das irgendwas nicht stimmte, aber sie wollte nicht darüber reden. Auch ihrer Mutter hatte sie erst nichts erzählt, doch eine Mutter spürt halt, wenn etwas nicht stimmt. Ja – und am nächsten Tag wachte Alex dann auch schon mit Fieber und einer dicken Erkältung auf.

„Na, konntest Du etwas schlafen?“ Verwirrt blinzelte Alex. Sie war tatsächlich auf dem Sofa in den Armen ihrer Mutter eingeschlafen. „Schlaf ist die beste Medizin: In jedem Fall!“ Den Spruch hatte Alex von ihrer Mama schon in der Kindheit gehört. „Ach Mama – ich hab’ einfach alles falsch gemacht! Ich habe es verdient, dass ich ihn verloren habe.“ „Nein, das hast Du nicht! Niemand hat es verdient! Es hat halt einfach nicht geklappt bei Euch Beiden: Und Du weißt doch – wer weiß wofür es gut ist. Kopf hoch Mausi, wir stehen das gemeinsam durch, okay?“ Schluchzend fiel Alex ihrer Mutter um den Hals. „Ach meine Kleine..“, drückte Anette ihre Tochter fest an sich.
Den ganzen Abend versuchte Anette ihre Tochter etwas zu beruhigen, was ihr allerdings nur bedingt gelang. Gegen 22:00 Uhr beendeten sie dann Tag. „Komm Alex, Du solltest ins Bett gehen und versuchen zu schlafen. Du bist auch immer noch ganz heiß – miss am besten noch mal Fieber.“ Ohne Protest erhob sich Alex und schlurfte ins Schlafzimmer. Anette sah ihr nach. Liebeskummer war doch wirklich in jedem Alter gleich schlimm – das erwischt einen als Teenager genauso wie als erwachsene Frau.Zehn Minuten später folgte Anette Alex ins Schlafzimmer. Sie setzte sich auf die Bettkante. „Und?“ „39,4°C“, gab Alex Auskunft. „Das habe ich mir schon gedacht. Jetzt schlaf erst mal – und morgen schaut die Welt schon wieder etwas anders aus.“ In den Augen von Alex zeigte sich keine Reaktion. Anette strich ihrer Tochter über die Wange und deckte sie anschließend zu. „Gute Nacht, Mausi!“ Sie wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als Alex leise nach ihr rief: „Mama, kannst Du heute Nacht bitte hier schlafen?“ Verwundert schaute Anette sie an: „Na klar, ich hole nur mein Bettzeug.“ Alex hatte einfach Angst, alleine zu bleiben. Alleine war das Bett so groß und leer.Als Anette ein paar Minuten später wieder kam schlief ihre Tochter schon. Leise legte sie sich auf die Seite des Betts, die bis jetzt eigentlich immer Marcel vorbehalten gewesen war. Doch es fiel ihr schwer einzuschlafen. Sie setzte sich auf und betrachtete ihr schlafendes Mädchen. Sie konnte es nicht wirklich verstehen, warum Alex’ Herz immer wieder gebrochen wurde. Irgendwann fielen ihr über die ganzen Gedanken dann aber doch die Augen zu.Anette blieb noch drei Wochen in München und päppelte ihre Tochter wieder etwas auf. Alex weinte viel in dieser Zeit und trauerte um ihre zerbrochene Liebe. Doch genauso wie ihre Erkältung sich langsam besserte, so vernarbte auch langsam ihr Herz. Nach zwei Wochen arbeitete sie wieder, und nach drei Wochen hatte sie sich in soweit gefangen, dass ihre Mutter sie ohne schlechtes Gewissen und Angst alleine lassen konnte.Es war der letzte Abend, den Anette mit ihrer Tochter verbrachte. Sie hatte lecker gekocht und nun saßen die beiden Frauen bei einem Glas Rotwein auf dem Sofa. „Danke, dass Du mir so geholfen hast Mama. Du hast genau gewusst, was ich in den letzten Wochen gebraucht habe. Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gut machen kann.“ Doch Anette winkte ab: „Alex, Du weißt, Dein Vater und ich sind immer für uns da. Du bist doch unser Mädchen, und wir würden alles für Dich tun.“ Dem war nichts mehr hinzuzufügen.Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Alex nicht mehr täglich an Marcel denken musste. Doch nach und nach richtete sie sich ganz gut in ihrem Single-Dasein ein. Ungefähr 1,5 Jahre nach ihrer Trennung lag sie im Englischen Garten auf dem Rasen und genoss die Sonnenstrahlen ihres dienstfreien Nachmittages. Auf einmal merkte sie, wie irgendetwas sie traf. Erschrocken blickte sie auf. Sie sah einen Volleyball neben sich liegen – offensichtlich hatte da jemand nicht so ganz gezielt. Und da kam dieser jemand auch schon an: Sportlich und durchtrainiert mit braunen Haaren und strahlend blauen Augen. „Entschuldige bitte, ich hoffe ich habe Dich nicht zu hart getroffen.“ Alex setzte sich auf und winkte ab: „Nein, nein, nichts passiert.“ Trotzdem bestand ihr Gegenüber darauf, sie als Entschuldigung am nächsten Tag zum Essen auszuführen.Am nächsten Abend stand Alex zu Hause vor ihrem Spiegel und schminkte sich für den Abend. Sie freute sich sehr – den ganzen Tag hatte sie an den gut aussehenden Mann denken müssen. „Vielleicht hatte Mama ja Recht – wer weiß wozu die letzten beiden Jahren gut waren“, dachte sie, bevor sie sich auf den Weg machte.

 
ENDE
 
 

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