Die blinde Zeugin

Langsam ging Jenna die Straße entlang. Sie kannte den Weg wie ihre Westentasche. Heute war ein warmer und sonnenreicher Tag, daher war es nicht so auffallend, dass sie ihre Sonnenbrille aufhatte. Leider “zeichnete” sie der weiße Gehstock, den sie aber immer bei sich tragen musste, damit sie erkennen konnte, ob vor oder neben ihr jemand lief und wenn sie einen neuen Weg kennen lernen musste. Sonst hätte man kaum erkannt, dass sie blind war. Jenna hasste diese Dinge wie alle anderen Blindenzeichen auch, denn diese Dinge führten nur dazu, dass die Leute sie anstarrten - Jenna konnte die Blicke fühlen - und das hasste sie. Diesen Weg von ihrer speziellen Schule für Sehbehinderte nach Hause kannte sie in und auswendig, und wäre garantiert auch ohne diese “Hilfe” ausgekommen.. Doch es war müßig, darüber nachzudenken. Das erste, was man lernte war, dass es immer die Gefahr eines unvorhergesehenen Zwischenfalls geben konnte - auch auf Strecken, die man kannte. Entweder, man bekam einen Hund zugewiesen, das Glück hatte Jenna leider nicht gehabt, oder eben eine Gehhilfe… Aber Jenna musste sich eben daran gewöhnen, dass es einige Leute gab, die immer gucken würden, als wäre man nicht von dieser Welt… Auch jetzt hatte sie wieder Blicke bemerkt, die mehr als nur “normal” waren. Eben länger als bei anderen. Und jedes Mal empfand sie Zorn. War sie etwa etwas “Unnormales”? Es gab keinen Grund, weswegen sie bedauert werden musste, auch, wenn sie erst 15 Jahre alt war. Sie kannte es nicht anders. Klar konnte sie sich denken, dass jemand, der noch nie blind gewesen war, es sich vermutlich nicht vorstellen konnte, aber trotzdem… Sie musste nicht bemitleidet werden. Sie war blind, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, seit ihrem Unfall… Jenna schüttelte den Gedanken ab und lief weiter. Eigentlich müsste sie ja gleich zu Hause sein, sie war schon im Park und es waren nur noch ein paar Meter…

Plötzlich hörte sie zwei Männer streiten. An sich war das nichts Besonderes; sie war in einem Park und da unterhielten sich die Leute und stritten sicherlich auch, aber irgend etwas an diesem Streit kam ihr komisch vor. Sie lief langsamer. Dann begann einer der Männer zu flüstern - und was er sagte, ließ ihren Atem gefrieren. Er bedrohte den anderen Mann! Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Jenna ließ sich noch weiter zurück fallen und duckte sich in einen Strauch, den sie hinter sich spürte. Sie hoffte, dass sie nicht zu erkennen war… Der Mann flüsterte immer noch, und Jenna konnte auch nicht alles verstehen, aber er hörte sich nicht gerade sehr freundlich an.. Insgeheim hoffte sie, dass er endlich verschwinden würde, sie wollte nach Hause… Dann hörte sie den anderen Mann röcheln. Und bevor sie noch verstand, was passiert war, hörte sie den ersten Mann sagen: “Das hast du nun davon; niemand betrügt mich ungestraft!” Dann rannte jemand weg.. Sie wollte sich nicht vorstellen, was das zu bedeuten hatte. Doch gerade, als sie der Meinung war, dass sie wieder aus ihrem Versteck hochkommen und weiter gehen könnte, hörte sie noch etwas. Das Röcheln, dass sie gehört hatte, wurde lauter, pfeifender. Es kam direkt aus der rechten Ecke neben ihr.. Langsam begann sie, mit vor Angst pochendem Herzen, dorthin zu kriechen. Vielleicht brauchte der Mann Hilfe? “Hall.. Hallo?? Sagen Sie was, bitte.. Brauchen Sie Hilfe?” Außer des immer schwächer werdenden pfeifenden Geräusches hörte sie nichts. Dann war Jenna bei dem Mann angekommen. Sie fühlte ihn, als sie beinahe über ihn stolperte. Er lag auf dem Boden.. Jenna überlief es eiskalt. Sie rüttelte ihn leicht. “Hallo? Bitte, wachen Sie auf!”.. Jenna bemerkte, dass auch das pfeifende Geräusch aufgehört hatte; dann spürte sie etwas in ihrer Hand. Sie hatte seine Bauchgegend berührt, und es fühlte sich warm und nass an.. Jenna zog die Hand zurück.
Sie wusste, was sie da in den Händen hatte - Blut! Und sein Brustkorb hatte sich nicht mehr bewegt! Er war tot!
Jenna unterdrückte ein Kreischen und zog sich wieder von dem Mann zurück. Sie war völlig panisch. Sie bildete sich ein, wieder in ihrer Ausgangsecke, wo sie sich versteckt gehalten hatte, angekommen zu sein und wollte einfach nur bleiben, wo sie war! Einfach nur versteckt halten und sich einbilden, dass sie dort niemand sehen konnte. Keiner, sie war unsichtbar; und all das war gar nicht geschehen…


Im K11 war es relativ ruhig gewesen. Alle Fälle, die sie bearbeitet hatten, waren erledigt und es warteten nur noch ein paar Berichte darauf, geschrieben zu werden - was natürlich mit Begeisterung verschoben wurde. Eigentlich langweilten sich Alex, Gerrit, Michael und Robert gerade und unterhielten sich über private Dinge, als der Staatsanwalt ins Büro kam. Er runzelte die Stirn, als Michael seine Füße schnell vom Schreibtisch zog - leider nicht schnell genug. Michael zuckte nur die Achseln und fragte: “Haben Sie einen neuen Fall für uns, Herr Staatsanwalt?” Kirkitadse nickte. “Ja, das habe ich. Einen Leichenfund im Stadtpark. Ist wohl noch nicht lange tot, ein Jogger hat ihn gefunden und die Polizei gerufen.. Doktor Alsleben ist unterwegs.” Gerrit und Alex nickten und machten sich auf den Weg. Michael und Robert unterhielten sich derweil noch mit dem Staatsanwalt, doch dieser hatte nicht mehr viel Informationen für sie; alles Weitere mussten Gerrit und Alex vor Ort herausfinden.

Wenige Minuten später waren die beiden im Park angekommen. Die Aussage des Joggers wurde schon von ihren Kollegen der Schutzpolizei aufgenommen und sie hörten sich kurz an, was diese schon wussten: “Also, der Hund des Zeugen hat ihn gefunden - das Opfer war bereits tot - und der Zeuge hat uns dann sofort verständigt. Mehr konnte dieser uns auch nicht sagen; nur, dass er mit seinem Hund um diese Zeit immer hier im Park joggt.” Alex und Gerrit nickten und sahen zu dem Jogger und seinem Hund hinüber. Dann nickten sie. Der Zeuge konnte entlassen werden, sobald seine Personalien vollständig aufgenommen worden waren. Eine wirkliche Hilfe war er ja nicht gerade gewesen… Mittlerweile war auch Doc Alsleben eingetroffen. Dieser begab sich direkt zur Leiche und sagte: “Also er ist noch nicht lange tot. Die Wunde ist noch nicht mal geschlossen, das Blut noch nicht versiegt.. Er ist erstochen worden und es sieht so aus, als ob es nicht länger als eine Stunde her ist..” Gerrit blickte zu Alex. Nur eine Stunde? Aber anscheinend lang genug, dass der Täter unbemerkt verschwinden konnte. “Und wir haben nicht mal einen brauchbaren Zeugen!” fluchte Alex. Kaum hatte sie das gesagt, bemerkte sie, dass der Hund des Joggers in ihrer Nähe herumlief und etwas zu suchen schien.. An einem Gebüsch, ganz in ihrer Nähe.. Irgendwie kam ihr das komisch vor. Hatte der Hund etwas gefunden, was ihnen weiter helfen konnte? Vielleicht etwas vom Täter, was dieser verloren hatte?? Sie zog den Hund zurück, und als dieser die Sicht freigab - da ihn jetzt auch der Besitzer zu sich rief - glaubte Alex, ihren Augen nicht zu trauen. In dem Gebüsch saß ein Mädchen, völlig verängstigt! Sie hatte sich in die hinterste Ecke gequetscht und zitterte wie Espenlaub; und sie hatte Blut an den Händen… Langsam zog sich Alex zurück und rief nach Gerrit. “Was ist los? Was gefunden?” fragte dieser. Alex nickte. “Ja, und du wirst nicht glauben, was.. Sieh mal in die Ecke”, sie zeigte auf die Stelle, in der sie das Mädchen entdeckt hatte. “Aber langsam!“ Gerrit kniete sich hin - er war zu groß um im Stehen was erkennen zu können - und schnellte gleich wieder zurück - damit hatte er nicht gerechnet! “Was??” Völlig entgeistert starrte er zu dem Mädchen hin.

Langsam hatte sich auch Alex vom Schrecken erholt und kniete sich ebenfalls hin. Sie hatte ihren Dienstausweis heraus geholt und hielt ihn vor sich. “Hallo - Mein Name ist Alexandra Rietz. Du brauchst keine Angst zu haben… Wie ist dein Name?” Das Mädchen starrte sie nur an - sie trug eine Sonnenbrille, was Alex zwar irritierte, aber dann dachte sie nicht weiter darüber nach. Es war eben ein schöner Sommertag und die Sonne war grell. Sie kroch noch weiter auf das Mädchen zu. “Hallo, kannst du mir deinen Namen sagen?” Als sie beinahe bei ihr war, fing das Mädchen an, vor ihr zurück zu weichen. Sie bekam einen beinahe panischen Gesichtsausdruck. Alex versuchte es erneut. Sie hielt immer noch ihren Ausweis in den Händen. “Hey, Kleine…” wollte sie gerade erneut ansetzen, als Gerrit zu ihr kam und ihr seine Hände auf die Schultern legte. “Warte - ich hab gerade das hier ein paar Meter weiter in der Hecke gefunden” Alex kroch wieder halb aus dem Gebüsch heraus und sah zu ihm. Sie bemerkte, was er in den Händen hielt - einen Blindenstock! Plötzlich begriff sie, was die Sonnenbrille zu bedeuten hatte. Das Mädchen war blind! Leicht geschockt blinzelte sie in ihre Richtung, und steckte ihren Ausweis in die Tasche. Sie kam sich jetzt ein wenig dumm vor, allerdings konnte sie das ja nicht wissen! Sie versuchte es noch einmal. Langsam kniete sie sich wieder hin - dieses Mal in etwas größerem Abstand zu dem Mädchen und sagte erneut mit sanfter Stimme: “Mein Name ist Alexandra Rietz, ich bin Polizistin! Wir, dass heißt mein Kollege Gerrit Grass und ich, sind von der Kripo. Du brauchst keine Angst mehr zu haben! Bitte sag uns deinen Namen.”…


Jenna hatte in den letzten Minuten, Stunden, Tagen - ja, wie lange war es eigentlich her? - kaum etwas mitbekommen. Sie saß einfach nur da, wo sie sich nach den furchtbaren Geschehnissen verkrochen hatte und hatte die Augen geschlossen. Sie wollte nichts mehr von der Welt wissen. Gar nichts! Wenn sie sich einfach nur einredete, dass nichts passiert war, dann war es vielleicht auch gar nicht geschehen? Dann - sie wusste nicht, wie lange sie schon so dagesessen hatte - hörte sie plötzlich die Stimme dieser Frau… Wer war sie? Was wollte diese Frau von ihr - sie sollte weggehen! Jenna wusste zwar, dass der Mörder keine Frau gewesen war, und auch, dass er alleine gewesen war, doch es konnte doch trotzdem sein, dass er Komplizen hatte? Vielleicht hatte er jemanden geschickt, der/die nach Zeugen suchen sollte? Jenna bekam Panik. Warum ging die Frau denn nicht weg? Sie wollte sie bestimmt aus dem Weg räumen - Zeugenbeseitigung! Jenna wich vor der Frau zurück. Dann hörte sie, wie noch jemand dazu kam, ein Mann. Jenna begann zu zittern. Sie bildete sich ein, dass es SEINE Stimme war, doch dann hörte sie, dass es eine andere war. Es war nicht ER! Dann sprach die Frau erneut zu ihr. Jenna hatte bis jetzt gar nicht genau zugehört, was sie gesagt hatte, doch dann drang ein Wort an ihr Ohr: “Polizistin” Und danach die Worte “Kollege” und “Kripo” verbunden mit den Namen: “Gerrit Grass” und “Alexandra Rietz“.. Würde jemand, der vorhatte sie zu töten sich die Mühe machen, sich und den Komplizen vorzustellen? Selbst, wenn es gelogen wäre, dass sie Polizisten waren? Aber auf der anderen Seite, wie konnten sie es beweisen? Plötzlich hörte Jenna noch andere Geräusche; Geräusche, auf die sie vorher nicht geachtet hatte, da sie sich eingeigelt hatte in ihre Schutzwelt. Sie hörte noch andere Stimmen und als sie darauf achtete, was sie sagten, kam sie schließlich zu der Erkenntnis, dass die Leiche wohl gefunden worden war. Also musste wohl wirklich Polizei hier sein.. Langsam sah sie in die Richtung, aus der die Frau mit ihr sprach. Sie spürte, dass der Mann - Gerrit Grass, wie sie sich in Erinnerung rief - direkt neben ihr stehen musste. Er schien groß zu sein, sehr groß sogar… Jenna schluckte. Was sollte es, wenn sie sagte, wer sie war? Wenn die Leute etwas mit dem Mörder zu tun hatten, würde sie jetzt ohnehin nicht mehr lange leben… “Jenna; mein, mein Name ist Jenna Menninger”…

Alex war erleichtert, als sie die Stimme des Mädchens hörte. Auch, wenn diese noch leise und zitternd klang, aber wenigstens hatte sie ihnen geantwortet und schien ihnen zu glauben. “Gut, hallo Jenna. Du brauchst keine Angst mehr zu haben, okay? Niemand wird dir etwas tun! Du bist in Sicherheit. Soll ich dir heraus helfen?” Jenna schüttelte den Kopf. Sie stand langsam auf und wollte nach ihrem Stock greifen - als ihr auffiel, dass sie den Stock nicht finden konnte. Sie suchte die Gegend neben ihr ab, doch da war nichts… Alex sah, dass das Mädchen etwas zu suchen schien; zuerst wusste sie nicht, was; bis ihr der Stock einfiel, den Gerrit noch in den Händen hielt. “Suchst du deinen Blindenstock? Den hat mein Kollege gefunden. Warte, ich helfe dir!” Jenna schüttelte den Kopf. Sie fühlte wieder den alten Groll in sich aufsteigen. Auch so eine von denen, die ihr nichts zuzutrauen schienen… Als sie Alex´ Hand auf ihrer Schulter spürte wehrte sie sie ab. “Nein, ist schon gut - ich schaff das schon!” sagte sie etwas schroffer, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Alex zog die Hand zurück. “Schon gut.. Ich wollte dir nichts Böses…” Sie trat zu Gerrit zurück, der sie ansah und die Augenbrauen hochzog. Sie zuckte die Achseln. Ihr Umgang mit behinderten Menschen war etwas ungeübt… Langsam sahen sie, wie das Mädchen aus dem Gebüsch heraus trat. Sie hatte die Hände vorgestreckt - die immer noch rot vom Blut waren - und kam auf sie zu. Es war erschreckend, wie das Mädchen aussah. Gerrit trat vor und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Als er sah wie sie erschrak, beeilte er sich zu sagen: “Tut mir leid; keine Angst, ich bin Alex´ Kollege. Gerrit Grass. Hier ist dein Stock!” Er legte Jenna den Stock in die Hand.

Jenna erkannte die Stimme des Kommissars, die sie vor einigen Minuten nur ganz leise gehört hatte. Er hatte einen ziemlich starken Akzent. Und er schien noch relativ jung zu sein. Jedenfalls nicht älter als Mitte bis Ende Dreißig. Sie nickte nur und umklammerte den Stock. Normalerweise hasste sie dieses Ding, aber jetzt gab er ihr irgendwie Sicherheit. Sie fühlte plötzlich, wie dreckig ihre Hände waren. Und dann erinnerte sie sich wieder, dass sie sein Blut angefasst hatte. Waren die Hände immer noch blutig? Schnell wischte sie sich diese an ihren Hosenbeinen ab.

Alex und Gerrit bemerkten es und sahen sich an. Dann räusperte sich Alex: “Jenna, also, ich - wir - wollten dich eigentlich befragen, zu dem was du gesehen.. Äh, ich meine, also.. Wie soll ich es sagen…” Alex hätte sich ohrfeigen können. Was faselte sie denn da? Sonst war sie doch nicht so.. Aber diese einfache Frage, die man normalerweise jedem Zeugen stellte, war bei diesem Mädchen wohl Fehl am Platz. Und außerdem, was sollte sie wohl gesehen haben? Konnten sie mit ihrer Aussage überhaupt etwas anfangen? Ausgerechnet die einzige Zeugin die sie hatten, war blind! Jenna blickte in ihre Richtung. “Sie können mir ganz normale Fragen stellen, und ganz normal mit mir reden, wie mit jedem anderen Menschen auch” sagte sie schließlich. Jenna war zu dem Schluss gekommen, dass die beiden tatsächlich von der Polizei waren, aber das änderte nichts daran, dass sich diese Polizistin wie eine Idiotin aufführte - wie so viele andere auch! “Ja, entschuldige bitte, du hast recht. Also, ich würde sagen, wir fahren jetzt erst einmal zur Wache und dort kannst du dir die Hände waschen und dich frisch machen. Und dann kannst du uns alles sagen, was dir aufgefallen ist, okay?” Alex war froh, doch noch einigermaßen die richtigen Worte gefunden zu haben. Das glaubte sie jedenfalls. Jenna nickte. Sie sagte nichts mehr. Auch sie war froh, wenn sie sich endlich sauber machen konnte. Ihre Hände klebten, und dieser Geruch - das war einfach ekelhaft. Sie ließ sich von Gerrit und Alex zu deren Auto führen und stieg ein. Als das Auto losfuhr, hatte Jenna plötzlich wieder Erinnerungen - Flashbacks - sie fröstelte. Hoffentlich konnte ihre Aussage den Polizisten helfen diesen Mörder zu finden…

Dann waren sie im Polizeipräsidium angekommen. Sie stiegen aus und Alex und Gerrit halfen Jenna erneut. Da diese absolut keine Ahnung hatte, wo sie sich befand, blieb ihr leider nichts anderes übrig, als sich führen zu lassen. Obwohl es ihr gar nicht gefiel. Sie mochte es nicht, nicht die Kontrolle über sich zu haben. Aber sie wusste auch, dass sie keine andere Wahl hatte. Dann waren sie innerhalb des Gebäudes. Ihre Schritte halten auf dem Gang. Alex führte Jenna in einen Toilettenraum. “Hier kannst du dir die Hände waschen und dich etwas frisch machen. Ich bin mit meinem Kollegen gleich nebenan und hole dich dann in ein paar Minuten wieder ab - in Ordnung?” Jenna nickte nur. Sie war froh, mal ein paar Minuten alleine zu sein. Dann hörte sie, wie sich die Polizistin - Alexandra Rietz - wieder entfernte, und die Tür hinter sich zu zog…

Alex ging zurück zu ihrem Büro, das direkt neben dem Waschraum war und in dem sich außer Gerrit, der vor ihr herein getreten war, noch Michael, Robert und der Staatsanwalt aufhielten. “Sie haben die Zeugin mitgebracht?” fragte dieser auch gleich sichtlich angespannt. Alex und Gerrit sahen sich an. Anscheinend war bis zu ihnen durchgedrungen, dass sie eine Zeugin gefunden hatten, aber wussten die anderen schon, dass diese ihnen wohl nicht viel bringen würde? Alex nickte langsam: “Ja, wir haben sie hier - sie ist im Waschraum. Allerdings weiß ich nicht, ob sie uns wirklich sehr nützlich ist..” Michael runzelte die Stirn und auch der Staatsanwalt zog die Augenbrauen hoch. “Wieso? Was hat sie denn gesehen?” fragte Kirkitadse. Gerrit antwortete: “Das ist es ja gerade, Herr Staatsanwalt. Sie hat gar nichts gesehen - das ist auch völlig unmöglich. Sie ist blind!” “Blind??” fragten Michael und Robert beinahe gleichzeitig und starrten sie an. Alex nickte. “Ja, blind. Wir haben es auch erst zu spät gemerkt, die Kleine war völlig verängstigt und ich habe es auch erst gemerkt, als Gerrit mir ihren Blindenstock gezeigt hat.” Kirkitadse und Michael zogen beinahe zeitgleich die Luft ein. “Na toll”, konsternierte Michael, “Und was machen wir jetzt? Was sollen wir mit einer Zeugin anfangen, die uns vermutlich nicht viel über den oder die Täter sagen kann?” “Ich weiß es doch auch nicht, Micha.” antwortete Alex. Robert, der bis jetzt nicht viel gesagt hatte, schaltete sich ein: “Nun lasst sie uns doch wenigstens mal anhören. Vielleicht kann sie ja doch ein wenig helfen…” “Und wie?” wiederholte Michael seine Frage, sichtlich genervt..

Jenna hatte, nachdem sie sich das nötigste gewaschen hatte - Hände, Arme und Gesicht - und sich deutlich besser gefühlt hatte, eigentlich nur warten wollen, bis diese Alex sie abholen würde, doch dann hatte sie leise Stimmen vernommen. Sie hatte immer schon einen deutlich besseren Gehörsinn gehabt als andere - sehende - Menschen und auch einen Spürsinn dafür, wie manche Stimmlagen zu deuten waren. Sie tastete sich an der Wand entlang, bis sie an einer Stelle war, an der sie besser hören konnte und presste ihr Ohr dagegen. Was sie hörte, erzürnte sie. So hatte sie sich das vorgestellt. Klar, dass diese Polizisten ihr nichts zutrauten, nur weil sie nichts sehen konnte! Na, denen würde sie es zeigen! Zuerst hörte sie noch genauer hin, um noch mehr zu erfahren: Es waren anscheinend noch mehr Polizisten in dem Raum, nicht nur diese Rietz und dieser Grass.. Einer schien ziemlich alt zu sein und hatte ebenfalls einen Akzent. Da sie nicht alles hören konnte, was gesprochen wurde, wusste sie nicht, dass es sich hierbei um den Staatsanwalt handelte. Dann war da noch ein etwas älterer Polizist mit einer ziemlich dunklen Stimme - hörte sie den Namen Micha? Jenna glaubte schon. Was er sagte, ließ sie total erzürnen. “Ich werde dir zeigen, was du mit mir anfangen kannst” grollte sie. Bevor sie sich weiter an der Wand entlang tasten konnte, hörte sie noch einen anderen Polizisten - er schien relativ jung zu sein, jünger als dieser Gerrit auf jeden Fall. Und er schien sie zu verteidigen. Jenna lächelte. Nun wurde es mal langsam Zeit, dass sie zeigte, was man mit ihr anfangen konnte…

.. Während die Kommissare und der Staatsanwalt noch diskutierten öffnete sich die Tür. Jenna hatte sich bis zur Tür des Waschraumes entlang getastet und als sie diese geöffnet hatte, war sie einfach den Stimmen entgegen gelaufen.
Sie hatte die Tür des Raumes gefunden, in dem sich alle versammelt hatten und nun stand sie vor ihnen. Sie räusperte sich laut. “Sie wollen von mir wissen, was ich bemerkt habe? Fragen Sie mich doch einfach, oder haben Sie Angst vor jemandem, der anders ist als Sie?” Die Kommissare hatten sich geschockt zu ihr umgedreht. Keiner hatte ihr Eintreten bemerkt. “Äh, Jenna, wie, wie bist du denn hier rein gekommen?” fragte Alex und wieder hätte sie sich am liebsten selbst in den Hintern getreten. Wieso stellte sie immer so blöde Fragen? Die Antwort folgte prompt: “Durch die Tür, so wie Sie auch, nehme ich an.. Also, Sie denken nicht, dass ich Ihnen wirklich helfen kann? Wissen Sie”, fuhr sie fort, bevor Alex oder einer der Jungs noch die Chance hatten, etwas zu erwidern. “Es ist richtig, ich kann nicht sehen. Aber wenn Sie meinen, dass das Auge das einzige Sinnesorgan ist, worauf es ankommt, dann irren Sie sich. Ich kann Ihnen viell. nicht beschreiben, wie der Täter aussieht; da ich ihn nicht gesehen habe, aber ich achte auf andere Dinge - z. B. hier bei Ihnen.” Sie hielt kurz inne und kam dann direkt auf Michael zu, der sie anstarrte, außerstande etwas zu sagen. “Sie” - sie zeigte auf Michael - “sind männlich, ziemlich groß, allerdings nicht so groß wie ihr Kollege Grass. Der muss mindestens zwei Meter groß sein - ungefähr; und Sie sind älter als er. Sie haben eine dunkle Stimme, und scheinen recht muskulös zu sein. Kräftig aber nicht dick. - Und ihr Name ist “Micha” - vermutlich von Michael, nehme ich an. Dann er” sie drehte sich in die Richtung, in der Robert stand - “ist jung, evtl. unter dreißig. Genau kann ich es nicht sagen, da ich nur einen kurzen Satz von ihm gehört habe. Auf jeden Fall klingt er sehr sympathisch und ich fand es auch nett, dass Sie mir zumindest eine Chance geben wollten. Dann gab es noch einen Kollegen, dessen Namen ich allerdings nicht verstanden habe und den ich auch nur kurz gehört habe. Er hatte einen ziemlich starken Akzent. So ähnlich wie der von Herrn Grass, und er ist der Älteste hier. - Habe ich etwas oder jemanden vergessen?”

Die Kommissare und auch Kirkitadse starrten sie an - Jenna konnte es spüren - und es herrschte erst einmal Stille in dem Raum. Dann räusperte sich Michael und fragte, mühsam beherrscht: “Hast du uns belauscht?” Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie ihre Unterhaltung sonst gehört haben konnte. Jenna schüttelte den Kopf: “Nicht direkt. Ich sagte ja, meine anderen Sinne sind ziemlich ausgeprägt. Ich hab Ihre Unterhaltung in dem Waschraum gehört. Na ja, und dann muss ich gestehen, dass ich dann schon ein wenig “nachgeholfen” habe und meine Ohren noch ein wenig mehr “angestrengt” habe.. Aber das ist doch egal, oder? Sie wollen Informationen von mir über den Täter? Dann fragen Sie mich, ich bin zwar blind - das lässt sich nicht leugnen - aber ich bin nicht geistesgestört!” Schließlich war es Alex, die das Schweigen brach. “Also gut, ehrlich gesagt, deine Beschreibungen, was meine Kollegen angeht, sind wirklich nicht schlecht… Ach ja, nur eines: Der älteste “Kollege” mit dem starken Akzent ist der Staatsanwalt”. Trotz des kleinen Schocks, den auch sie bekommen hatte, musste sie schmunzeln. Das Mädchen begann, ihr zu gefallen.. “Oh, entschuldigen Sie, das wusste ich nicht” antwortete Jenna. “Wollte niemanden von Ihnen degradieren..” “Das macht ja nichts” antwortete Kirkitadse, der sich als nächstes gefangen hatte. “Also, was kannst du uns über den oder die Täter erzählen?” fragte er schließlich. Jenna schwieg einige Sekunden dann setzte sie zur Antwort an, doch zwischenzeitlich hatte Robert sich einen Stuhl geschnappt und brachte ihn zu Jenna. Auch er musste schmunzeln. Sie gefiel ihm.. Gerrit wusste nicht so ganz, was er sagen sollte. Einige ihrer Ausführungen waren wirklich gut gelungen. Vor allem seine Größe. Woher wusste sie, wie groß er war?? Konnte sie das wirklich an seiner Stimme erkennen? Was Michael dachte, war ihm überhaupt nicht anzusehen. Er sah Jenna ziemlich mürrisch an und wartete, was sie zu sagen hatte. Gerrit überlegte weiter: Ihre Ausführungen zu Michael waren extrem gut gewesen, und dass, obwohl sie ihn nur kurz hatte reden hören. Irgendwie war er langsam doch gespannt, was sie zu sagen hatte.
Als Robert ihr den Stuhl gebracht hatte und sie gebeten hatte, sich zu setzen, begann sie. “Also erst einmal, es war ein! Täter. Ein Mann. Ich habe ihn und den anderen Mann reden hören. Sie haben sich gestritten. Zu Beginn habe ich mir noch nichts dabei gedacht; aber dann wurde der Streit lauter und heftiger und ich habe mitbekommen, dass dieser Mann den anderen bedroht hat. Ich weiß nicht genau worum es ging, aber es hörte sich gefährlich an und ich hab mich lieber im Gebüsch versteckt gehalten. Eigentlich wollte ich nur solange da drin bleiben, bis die beiden wieder gegangen waren..” Sie fröstelte als die Erinnerung sie überkam. Dann fuhr sie fort: “Ja, und dann hab ich den anderen Typen röcheln hören - und wie der Täter gesagt hat: “Das hast du nun davon; niemand betrügt mich ungestraft!” Dann ist er davon gelaufen und ich hab nur noch das Röcheln des Opfers gehört…” Jenna schüttelte sich. Alex kam zu ihr. “Das ist alles? Kannst du dich an irgend etwas anderes erinnern? Was noch passiert ist?” Jenna schüttelte den Kopf. “Nein, nicht, was die Tat an sich angeht. Aber von seiner Stimme her war der Täter ungefähr fünfzig Jahre alt. Ich denke, er ist ca. mittelgroß - vielleicht so ca. 1,70 - und auch ziemlich kräftig gebaut. Er war Deutscher, genauso wie das Opfer. Aber er hatte eine Art zu sprechen.. Ich weiß nicht, aber ich könnte mir vorstellen, dass der aus dem Milieu kommt.. Das Opfer genauso. Der hatte eine zartere Stimme - na ja, ich kann mich da auch irren, da er Angst hatte - aber ich halte ihn für ungefähr auch so ca. Mitte bis Ende 40. Vielleicht noch Anfang 50... Und sehr schmächtig. Er hatte jedenfalls eine sehr hohe Stimme. Also ich denke, er ist/war sehr schlank. Fast schon dürr. Ich glaube, der Täter hat ihm direkt in die Lunge gestochen - so wie der sich angehört hat.” Wieder schauderte sie, als sie an das Röcheln dachte und daran, dass sie ihn berührt hatte. Unwillkürlich hob sie ihre Hände und es sah aus, als würde sie sie anschauen… Dann senkte sie sie wieder. “Tut mir leid, mehr kann ich Ihnen jetzt auch nicht sagen, aber können Sie damit was anfangen?”

Die Kommissare und der Staatsanwalt starrten sie an. Selbst Michael musste zugeben, dass es mehr Informationen waren, als er ihr zugetraut hatte. Sie hatten ungefähres Alter, Stimmlage und Größe bzw. Statur des Täters erhalten - die Angaben über das Opfer stimmten haargenau, mussten sich Gerrit und Alex eingestehen - und sie hatte die Vermutung geäußert, dass beide aus dem Milieu stammen könnten. Was nicht von der Hand zu weisen war.. Es schien sich um einen Racheakt gehandelt zu haben, da der Täter etwas von Betrug erzählt hatte, kurz vor dem Mord.. Das waren mehr Angaben, als sie von einigen “sehenden” Zeugen sagen konnten. Schließlich räusperte sich Michael, der immer noch in Gedanken an seiner Beschreibung durch Jenna zu knabbern hatte. “Ja, das hat uns erstmal geholfen, denke ich. Dank dir. Und entschuldige, dass ich dir vorab so wenig zugetraut habe.. Ich denke, meine Kollegen bringen dich jetzt erstmal nach Hause und wenn dir noch was einfällt, kannst du dich ja noch einmal melden.” Er drückte Jenna seine Karte in die Hand. “Gib das deiner Mutter, die kann dann hier anrufen oder dich hierher fahren. Okay?” Jenna nickte, dann antwortete sie: “Sie können mir aber auch Ihre Nummer sagen, ich bin ziemlich gut im Merken von Telefonnummern.” Sie tippte sich an den Kopf und grinste. Robert grinste ebenfalls - er konnte nicht umhin zu bemerken, dass er sie immer beeindruckender fand - und nannte ihr die Nummer des Kommissariats. Auch Gerrit musste schmunzeln. Ja, das Mädchen hatten sie eindeutig unterschätzt! Dann fuhren er und Alex Jenna nach Hause. Für heute hatte sie genug durchgemacht und sie hatten erste, hoffentlich hilfreiche Informationen erhalten…

Jenna war froh, als sie endlich zu Hause angekommen war. Ihre Mutter war verständlicherweise entsetzt über das, was passiert war. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, da ihre Zeit schon überfällig war. Die Schule war ja schon lange vorbei. Normalerweise las Jenna meistens noch etwas in einem Buch, das in Blindenschrift verfasst war, doch dazu hatte sie jetzt keine Lust und keine Nerven mehr. Sie verabschiedete sich und ging dann in ihr Zimmer um sich aufs Bett zu legen. Sie schloss die Augen und fiel beinahe zeitgleich in einen tiefen Schlaf…

Gerrit und Alex unterhielten sich kurz noch mit der Mutter und gaben ihr dann noch ihre Karte. Frau Menninger versprach, sich zu melden, wenn ihrer Tochter noch etwas neues einfallen sollte oder ihr etwas auffiel. Dann verabschiedeten sich Gerrit und Alex.

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