Zurück zu euch
Und wieder schien das rote Licht der untergehenden Sonne. Und wieder begann er zu träumen. Und wieder musste er sich zusammenreißen, um nicht in eine Art Trance zu fallen. Was fand er an dem Sonnenuntergang denn so toll? Was machte den Sonnenuntergang so besonders? Fakt war, dass er nur Schlechtes mit sich brachte, dass alles Gute, was den Tag regierte, verschluckte. Nein, am Sonnenuntergang war nur Schlechtes dran, der Sonnenuntergang war schlecht. Trotzdem verleitete er zum Träumen, die Welt für einen Moment zu vergessen, sich der Dunkelheit hinzugeben. Er schluckte. „Nein! Ich muss arbeiten!", mit einem Ruck, riss er den Schreibtischstuhl um, wand sich wieder den Akten zu. „Wie soll ich das überleben?", diese Frage hallte durch seinen leeren Kopf. Leer, so unendlich leer, das war das beste Wort, das ihn beschreiben konnte. „Ich fühle mich so leer. So ausgesaugt. Vernichtend.", warum dachte er ständig an diese Worte? Seit Wochen gingen sie ihm einfach nicht mehr aus der Kopf. Seit Wochen versuchte er, sie loszuwerden, seit Wochen hoffte er, wieder der Alte werden zu können. Doch es würden nicht so werden. Niemals würde sich etwas dem alten zuwenden. Selbst der Psychologe, zu dem man ihn geschickt hatte, hatte daran nicht ändern könne. Nein, zugestopft mit Antidepressiva hatte er ihn. Plötzlich stieg eine ungeheure Wut in ihm auf, er hatte das Gefühl, irgendetwas zerschlagen zu müssen. Warum hatten sie ihm das angetan?
Er fand sich über dem Buch wieder. Wann hatte er es herausgeholt? Wann hatte er es aufgeschlagen? Nun blickte er auf die Seite, die er aufgeschlagen hatte. Drei Einträge fanden sich darauf. Von drei verschiedenen Tagen. Und bald würde der vierte hinzugefügt werden. Der Vierte auf diesen zwei Seiten. Der Tausendste in diesem Buch. Der Kommissar nahm sich einen Kugelschreiber und wollte schon anfangen zu schrieben, als ihm doch eine andere Idee kam. So fing er an ein paar Seiten zurück zu blättern, doch blieb er bei einem Eintrag hängen, denn er dann zu lesen begann.
Wieder stiegen tränen in ihm auf, wieder versuchte er sie zu unterdrücken. Für ein paar Minuten saß er einfach nur da, starrte auf das Papier. Doch schließlich ging ein Ruck durch ihn und er blätterte weiter. Bis er schließlich zu einem weiteren Eintrag gelangte. Dieser Eintrag war noch gar nicht so lange her, Gerrit konnte sich noch zu gut an den Tag erinnern. Es war der Tag, an dem Michael erfahren hatte, dass er Vater werden würde, und über Michael auch Gerrit.
Meine Kollegen haben mich schon oft gefragt, warum ich es nicht mehr machen würde, aber könnte ich es ihnen verraten? Vermutlich nicht, ohne dafür ins Gefängnis zu kommen. Na ja. Bis bald
Gerrit
Wieder ging ihm diese Frage durch den Kopf. Konnte er sich seinen Kollegen anvertrauen? Sollte er es machen? Schließlich musste er da einmal tun... Irgendwann. Wieder blätterte er weiter. Der nächste Eintrag, der war erst 5 Tage alt. Gerrit hatte seinen freien Tag gehabt, hatte in seiner Wohnung rumgehockt, hatte Löcher in die Luft gestarrt, hatte sich wieder gefragt, was sie nun tun würden, wenn sie da gewesen wären, hatte versucht zu Weinen, doch keine Träne war mehr gekommen, alle Tränen waren verbraucht bewesen. Wieder musste er schlucken. An diesem Tag hatte er tatsächlich geglaubt, keine Gefühle mehr zu besitzen, alle Gefühle aufgeheult zu haben.
Es war nicht lange her. Damals schon hatte es das Gefühl gehabt, nicht mehr lange Stand halten zu können. Doch er hatte es probiert, hatte probiert, für seine Kollegen da zu sein. Doch wie will man für andere Probleme da sein, wenn einem die eigenen Probleme schon über den Kopf wachsen, wenn man selbst nur noch ein Häufchen Asche ist? Unmerklich schüttelte er den Kopf. Dann drehte er sich noch einmall zum Fenster rum, starrte in die tief dunkle Nacht. Ja, er war sich sicher, das war der einzige Weg. Nach endlosen Minuten widmete es sich wieder seinem Tagebuch und begann zu schreiben. Schreiben, dass letzte Mal.
Es war geschafft, die letzte Zeile war geschrieben. Nur noch Augenblicke, dann wäre er bei ihr. Langsam stand Gerrit auf, lief zu seiner Jacke und kramte einen zerknitterten Brief heraus. Auf dem Umschlag stand: „An Alex und Michael". Diesen Brief nahm er, genauso wie sein Tagebuch, in die linke Hand, dann eine kurze Bewegung, ein Schuss und alles war vorüber.
Alex und Michael standen auf dem Flur, als der Schuss ertönte. Sofort wussten sie woher dieser erklungen war, sofort rannten sie in ihr Büro. Sie rissen die Türe auf, - und erschraken: Vor ihnen lag Gerrit, in der einen Hand ein Buch und einen Brief, in der andern seine Dienstwaffe. Alex fing an zu schluchzen, während Michael auf Gerrit zuging. „Alex", stammelte er. „Der Brief ist... es ist an uns." Im gleichen Moment fiel Alex auf die Knie, sie fing an hemmungslos zu weinen. „Warum? Warum?", flüsterte sie zwischen ihrem Schniefen. Wie sollte man das realisieren, was hier passiert war? Wie sollte man das für wirklich halten, die schlimmste Befürchtung, die es gab, Wirklichkeit. Michael kam zu ihr zurück, auch er weinte. Er hockte sich zu ihr, nahm sie in den Arm, in der einen Hand hielt er den Brief, keiner von ihnen wollte wissen, was da drin stand....
Hey,
Ich habe meinen Entschluss gefasst. Wider meines Versprechens Alex gegenüber, werde ich jetzt zu euch kommen. Ich halte es hier nicht länger aus, ich schaff das nicht. Ich will euch wieder, ich will euch wieder in die Arme schließen können. Ich will meinen Sohn sehen, wie er glücklich im Garten spielt, ich will das nachholen, was eigentlich längst hätte sein müssen. Ich halte es hier auf Erden einfach nicht mehr aus. Klar weiß ich, dass du enttäuscht sein wirst, doch hast du etwas eine bessere Idee? Kannst du mir sagen, was bitte ich machen soll? Machen, ohne dich, ohne euch? Nein, das kannst du nicht. Nicht jetzt, vielleicht bald, dann wirst du mir sagen, dass es eine bessere Lösung gab und ich werde bereuen, was ich jetzt tue. Doch für diesen Moment, bereue ich nichts, nein für diesen Moment bin ich mir meiner Sache so sicher wie noch nie in meinem Leben. Okay, dieser Text ist nicht lang, doch hier ist er fast zu Ende. So soll es also sein. Ich sitze hier, den Kugelschreiber in der Hand, und schreibe meine letzte Zeile. – für immer
Gerrit
Auf das wir für immer zusammen sein mögen.
Hilf mir!
Ich weiß nicht was passiert ist, doch ich fühle nichts mehr, nichts außer riesiger Leere. Ich sitze hier, in meiner Wohnung, in unserer Wohnung, denke nur an dich, an euch, und wünsche, dass ihr bei mir seid. Doch dieses Mal ist es anders! Hätte ich früher sofort angefangen zu weinen, wenn ich an euch dächte, heute kommt nichts! Keine einzige Träne. Dabei bräuchte ich sie. Heute. Tränen können so gut tun. Sie können das Leid heilen, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Doch in diesem Augenblick, fühlt man sich viel besser. Warum kann ich nicht weinen? Wo sind die Tränen hin, die mich die letzten Monate begleitet hatten? Wo? Hab ich meine Gefühle verloren? Haben auch diese mich verlassen, haben auch diese mich im Stich gelassen, so wie ihr damals?...
Nein, ihr habt mich nicht im Stich gelassen, ihr konntet nichts dafür! Aber, mein Leben hat sich in einen Scherbenhaufen verwandelt, ohne euch. Was soll ich ohne auch denn nur machen? Ich will zu euch, egal um welchen Preis! Doch, könnte ich meinen Kollegen das antun? Könnte ich das? Sie einfach im Stich lassen? Vor allem Alex, Alex und ihr Kind! Ich hab ihr damals versprochen, immer für sie da zu sein, egal wann. Wenn sie mich bräuchte, sie müsse mich nur rufen. Breche ich mein Versprechen nicht, wenn ich zu euch komme? Dann bin ich nicht mehr für sie da, hab ich sie dann nicht im Stich gelassen? Ach, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich muss für sie da sein.
In Liebe, Gerrit
Hey,
Grade sind meine Kollegen gemütlich essen. Zumindest zwei. Alex und Michael. Sie sind in dem kleinen Restaurant, in dem wir auch schon einmal waren. Weißt du noch? Damals, als wir, nein eigentlich nur ich, erfahren habe, dass ich Vater werde. Weißt du noch? An dem Abend hast du mich zum glücklichsten Mann auf Erden gemacht. Ja, der Abend, dieser tolle Abend. Heute hat Alex ihren Michael zum glücklichsten Mann auf Erden gemacht. Wirklich, er ist so froh über diese Kunde. Nein nicht nur froh, er ist mehr als froh. Es gibt kein Wort, das es beschreiben könnte. Es ist einfach unglaublich. Selten habe ich einen so glücklichen Mann gesehen, und eine so glückliche Frau. Ach, immer wieder denke ich daran, wie es wohl wäre, wenn ihr jetzt hier beim mir wäret. Was wäre dann? Wären wir eine glückliche Familie? Ich denke schon. Irgendwie habe ich es im Gefühl.
Robert ist auf Außendienst. Er wollte, dass ich mitkomme, aber ich kann nicht. Wie soll ich Außendienst machen, wie soll ich Mörder fangen, wenn ich selbst einer bin? Wie kann ich dann noch Außendienst machen?
Hey,
Und wieder sitze ich hier, hier an Alex Schreibtisch. Wie immer, wie jeden Tag. Keiner ist da, also der perfekte Moment um zu schrieben. Alex und Michael sind bei einem Einsatz und Robert hat heute einen freien Tag. Wahrscheinlich sitzt er grade bei seiner Freundin. Ich weiß, dass er sie sehr liebt und doch fühle ich mich in diesem Moment schlecht. So schlecht, als wäre ich neidisch. Neidisch auf ihn? Ich weiß es nicht. Ach... wenn du nur wüsstest, wie sehr ich mich zu euch wünsche. Wie sehr ich mir wünsche, dich endlich wieder in die Arme schließen zu können. Doch ich kann es nicht. Ihr seid zu weit weg. Ich weiß, dass du mir nicht antworten kannst, aber kannst du mir nicht wenigstens sagen, wie es unserem Sohn geht? Hat es Spaß, da wo ihr jetzt seid? Ist es besser dort? Ach, warum kannst du nicht antworten? Ich sitze hier, eine Träne tropft grade auf dieses Blatt, so sehr vermisse ich euch, so groß ist mein Wunsch, endlich bei euch sein zu können. Doch ich weiß, es wäre falsch. Was soll denn aus den andere werden? Was soll aus ihnen werden, wenn ich sie einfach verlasse? Ich sehe es in Alex Gesicht, sie weiß einfach nicht was zu tun ist. Heute kam sie an und meinte, ich solle zu einem Psychologen gehen. Was soll ich denn da? Ihm erzählen, dass der Typ euch umgebracht hat? Und ich ihn?
Alles Liebe,
dein Gerrit.
„Du musst zu einem Psychologen! Der kann dir helfen, der wird die helfen.", Alex hockte neben ihm, hatte eine Hand auf seinen Oberschenkel gelegt. Flehend sah sie ihn an. Sie hatte wie alle anderen bemerkt, dass es ihm schlecht ging, jeden Tag schlechter. Und sie wollte ihm helfen. Sie wollte ihm doch nur helfen. Doch wie soll man jemandem helfen, der sich nicht helfen lässt? Sie alle hatten es versucht, sie alle hatten mit ihm geredet, keiner war zu ihm durchgedrungen. Keiner wusste, was los war. Niemand. Und so hatten sie nur noch eine Lösung gesehen: Ein Psychologe. Wenn der ihm ins Vertrauen reden konnte, dann könnte er vielleicht herausfinden, was passiert war, was passiert sein musste, um ihn in diese Lage zu bringen. Wider blickte sie ihn an. Er hockte da, auf dem Boden, an die Wand gelehnt und starrte. Starrte einfach ins Leer. Als gäbe es nichts was ihn irgendetwas angehen würde. Alex stiegen die Tränen auf. Sie wollte doch nur helfen.
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